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Mittwoch, 25. September 2019

Hakan Nesser: "Der Verein der Linkshänder"



Philosophischer Krimi mit Überlänge

          Dies ist tatsächlich der allererste Krimi von Hakan Nesser, den ich gelesen habe. Mir sagten also weder Van Veeteren noch Inspektor Barbarotti etwas. Auch dass die Krimis um Van Veeteren wohl in einem fiktiven europäischen Land spielen war mir neu und hat mich etwas überrascht. Ich musste es im Internet nachlesen, weil ich doch etwas verwirrt war und noch nie von einer Stadt namens Maardam gehört hatte. Alle anderen Ortsnamen sind wie es aussieht ebenfalls ein Produkt von Nessers Phantasie. Gunnar Barbarotti, der Kommissar aus Nessers anderer erfolgreicher Krimireihe, ist zusammen mit Kollegin und "Love Interest" Eva Backman ebenfalls in den Fall als Ermittler involviert. Nesser verbindet hier also die zwei Welten seiner beiden Krimireihen. Barbarotti wohnt und wirkt in Schweden, einem echten Land, wenn auch in einem ebenfalls fiktiven Ort namens Kymlinge.
Ob man die Vorkenntnisse der beiden Reihen benötigt, um das Buch zu lesen? Mir jedenfalls hat die Recherche und die Tatsache, dass die Vorgeschichte der Ermittler immer wieder eingestreut wird (z.B. wenn Van Veeteren auf seine Polizeikarriere zurückblickt), sehr geholfen.

Was ich allerdings auf den ersten ca. 100 Seiten durchaus benötigt hätte, wäre ein Personenverzeichnis am Anfang gewesen, das alle Figuren auf Ermittlungsebene und die auf der "Verbrechensebene" (z.B. wer in der Vergangenheit in Oosterby gelebt hat) namentlich genannt und kurz aufgeschlüsselt hätte. Der Krimi ist nämlich sehr umfangreich (600 Seiten) und spielt auf drei (bzw. mehreren) Zeitebenen. Zum einen in der Vergangenheit ab 1958 (-1969), wo der "Club der Linkshänder" im kleinen Künstenörtchen Oosterby gegründet wurde. Dann im Herbst 1991, in dem Jahr wo das Verbrechen geschah, bei dem 5 Menschen ihr Leben lassen mussten - wieder in Oosterby bzw. der Umgebung. Und dann kommt die Gegenwartshandlung - Herbst 2012 - in der die Ermittler das Verbrechen von Oosterby aufgrund neuer Erkenntnisse bzw. eines Leichenfunds aufzuklären versuchen.
Später gibt es noch kurze erzählerische Ausflüge in andere Jahre und an andere Orte. Schließlich kommt auch noch ein aktueller Fall aus Schweden (Ermittler: Barbarotti) hinzu, der etwas mit dem Oosterby Fall zu tun haben könnte.

Ich würde das Buch als "philosophischen" Krimi bezeichnen, da es viel um das Innenleben der beteiligten Personen geht und ihre Ansichten zum Leben ("Das wirklich Schwierige war jedenfalls zu leben, am Leben zu bleiben, Tag für Tag, Jahr für Jahr.", S. 356). Die Stimme des Autors findet sich vor allem in Van Veeteren wieder, der in der Gegenwartshandlung bereits seit 15 Jahren offiziell in Rente ist und auf seinen 75. Geburtstag zusteuert. Dennoch wird er, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ulrike Fremdli, noch einmal zum Ermittler in diesem "Cold Case", bei dem er bereits vor 21 Jahren als ermittelnder Kommissar beteiligt gewesen war. Auch er philosophiert über das Leben und Sterben, über das Menschsein an sich. Tiefgründige Betrachtungen durchdringen an fast allen Stellen die Krimihandlung. "Der Verein der Linkshänder" ist trotz der aktuellen Leichenfunde größtenteils ein retrospektiver Krimi, in dem viele Geheimnisse der Vergangenheit ans Licht kommen. Dabei sind es vor allem die Beweggründe der Personen, ihr Handeln und ihre früheren Entscheidungen, die dieses Buch interessant machen.

Mir gefällt die etwas ausschweifende und gelegentlich detailverliebte Erzählweise Nessers sehr gut. Das Buch ist kein klassischer Pageturner, aber dennoch auf eine dreidimensionale Art und Weise spannend und lesenswert. Ein typischer "Herbstschmöker" für lange Leseabende, spielt das Buch doch auch größtenteils in dieser Jahreszeit.

Eine Anmerkung habe ich noch zum Lektorat. Mir ist eine Diskrepanz aufgefallen und zwar geht es um das Geburtsdatum von Qvintus Maasenegger. Auf Seite 29 heißt es dass er sich "am Morgen seines Geburtstags am zehnten September" im Spiegel betrachtet und in seinem Ausweis auf S. 104 steht dann "Geboren am fünfzehnten September". Solche Fehler sollten dem Lektorat eigentlich auffallen.

Vielen Dank an vorablesen und den btb Verlag für das Rezensionsexemplar!

Nähere Infos zum Buch gibt es hier.
       

Dienstag, 17. September 2019

"Tagebuch eines Buchhändlers" von Shaun Bythell


Shaun Bythell betreibt seit 2001 eine der größten antiquarischen Buchhandlungen auf dem britischen Festland. Zu dieser kam er wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: der alte Antiquar stand kurz vor der Rente und Bythell, auf Sinn- und Berufssuche in seinem Heimatstädtchen Wigtown im schottischen Landstrich Galloway, wollte bei ihm ein Buch kaufen. Er kaufte allerdings gleich den ganzen "Bookshop". Der Rest gehört zur Legendenbildung, denn mittlerweile ist die Buchhandlung und auch Inhaber Shaun Bythell sowie seine amerikanische Freundin Anna, die etwas exzentrische Angestellte Nancy und der immer dicker werdende Kater Captain überregional bekannt. Buchliebhaber aus aller Welt besuchen Wigtown, das immer mehr Büchermenschen und Kunstschaffende anzog und mittlerweile zur "Book Town" avanciert ist, in der mehrere - vor allem antiquarische Buchhandlungen - ansässig sind.

In "Tagebuch eines Buchhändlers" beschreibt Bythell nun seinen Alltag im Jahr 2014, wobei er am Anfang und Ende jedes Eintrags nicht wie die fiktive Bridget Jones gerauchte Zigaretten und gegessene Süßigkeiten aufzählt, sondern die übers Internet bestellten und im Laden gefundenen Bücher (die Zahl ist nicht immer deckungsgleich) sowie die Anzahl der Kunden (die meisten Kunden kaufen nichts) und die Tageseinnahmen.
Dann gibt er Anekdoten aus seinem Leben zum Besten, nicht immer aber meistens haben sie mit seinem Leben als Buchhändler zu tun.
Ob es die skurrilen, unverschämten oder einfach nur nervigen Kunden sind (ein paar wenige sind auch nett) oder die Dinge, die seinen Job eigentlich ausmachen, wie das Ankaufen von Büchern, u.a. aus Nachlässen (die er meist erst sichten, dann abholen und lagern muss) sowie der täglichen Auseinandersetzung mit dem Internet und seiner Preispolitik, etc.: das alles trägt zur Entzauberung seines Berufsstands bei. Welcher bibliophile Leser hat nicht schon einmal davon geträumt, eine Buchhandlung zu besitzen oder zumindest in einer zu arbeiten? Bythell zumindest empfiehlt allen, die das vorhaben, erst einmal gründlich darüber nachzudenken, bevor sie diesen Schritt gehen und die Memoiren von (ehemaligen) Buchhändlern zu lesen.

Mir hat das sehr gut gefallen und ich habe mich durchaus - bis auf eine Längen - unterhalten gefühlt. Man darf nicht vergessen, es ist ein Tagebuch und vieles wiederholt sich auf die ein oder andere Weise. Schön ist, dass man viel über Schottland lernt, das Land und seine Leute sowie seine Kultur.
Man weiß natürlich als Leser nicht, wie viel Fiktion in diesem Tagebuch steckt und ob es wirklich 1:1 die Lebensrealität Bythells dokumentiert.
Ob Shaun Bythell wirklich zum Typus des griesgrämigen Buchhändlers wie Dylan Moran in der satirischen Serie "Black Books", die er zu Anfangs erwähnt, gehört? Zumindest vermag er es uns dies erfolgreich vorzugaukeln - und das ist recht amüsant!

Nähere Infos zum Buch gibt es hier.

Donnerstag, 12. September 2019

Veronika Peters: "Die Dame hinter dem Vorhang"


Gelungenes Portrait einer hochadelig-exzentrischen Lady 

           Kein Wunder dass sich die Dichterin und Exzentrikerin Dame Edith Louisa Sitwell DBE (1887-1964) mit Königin Elizabeth I. identifizierte und zwei sehr erfolgreiche Bücher über sie schrieb. Beide Frauen waren an einem 7. September geboren, blieben Zeit ihres Lebens kinderlos und unverheiratet, waren groß, schlank und hoch gebildet, sahen eigenwillig aus und förderten die Künste. Außerdem floss durch Edith Sitwell wahrscheinlich mehr blaues Blut als durch die Adern der meisten Mitglieder der britischen Königsfamilie. Durch ihre Mutter Lady Ida Emily Augusta Denison entstammte sie der Linie der Beaufort und war damit eine Nachfahrin von John of Gaunt (1. Duke of Lancaster), einem der Söhne von König Edward III. Diese hochgradig aristokratische Abstammung von den Plantagenets machte Lady Ida für Ediths Vater George Sitwell, selbst “nur” ein Baronet of Renishaw Hall, interessant. Die Ehe war also rein vernunftorientiert und dementsprechend unglücklich. Beide Eltern waren charakterlich sehr speziell und eher gefühlskalt. Für Edith war es ein Glück, dass sie zwei jüngere Brüder hatte, Osbert und Sacheverell, auf die sie Zeit ihres Lebens zählen konnte und die auch ihre Leidenschaft für das Schreiben und exzentrische Auftritte in literarischen Salons teilten.

In “Die Dame hinter dem Vorhang” lernen wir Dame Edith durch die erzählende "Brille" ihrer langjährigen Vertrauen Jane Banister kennen. Zunächst als alte Frau im Jahr 1964, kurz vor ihrem Tod. Dann wird ihr Leben in Rückblenden erzählt - immer aus der Perspektive von Jane. Janes Mutter Emma, die ihr Leben auf dem Landsitz der Sitwells, Renishaw Hall, als Tochter des Gärtners verbrachte, freundet sich in diesem Buch mit der 5 Jahre jüngeren Edith an - eine Freundschaft über Standesgrenzen hinweg. Ob das in der Realität so möglich gewesen wäre sei mal dahingestellt, hier bildet es den Aufhänger für die Handlung. Emma bekommt Ediths schwierige Kindheit hautnah mit: die Ablehnung durch die Mutter, das Einzwängen in eine körperformende Apparatur, die Liebe zur Literatur und die Entwicklung zum extrovertierten Freigeist. Später wird dann Emmas Tochter Jane das Hausmädchen der nunmehr mit ihrer Vertrauten Hanna Rootham in einer Mietwohnung in London lebenden 40-jährigen Edith. Hier lernt Jane die schillernden Figuren der Londoner Bohème kennen - Künstler, Schriftsteller, Intellektuelle. Dann zieht es Edith in die Stadt der Kunst und der Liebe, Paris. Jane kommt natürlich mit, denn die beiden haben mittlerweile eine symbiotische Beziehung, bei der die Rollen aber klar verteilt sind: Edith die exzentrische "Lebefrau" und Künstlerin, Jane die Angestellte und das bodenständige englische Mädchen vom Land.
Schließlich führt sie der Krieg zurück nach Renishaw Hall. Das Grauen dieser Zeit verarbeitet Edith wieder in ihrer Dichtung, sublimiert Schrecken in Schönheit. Sie will Renishaw schließlich zum "Zufluchtsort für Künstler" (S. 227) machen - Evelyn Waugh, T. S. Eliot und andere gehen ein und aus. Die letzten Lebensjahre verbringt sie wieder in London, mit einigen Abstechern nach Amerika, wo sie mit dem Hollywood Marylin Monroes, Billy Wilders und anderer Größen in Berührung kommt.

Dadurch dass wir Edith nur durch den "Filter" Jane Banister kennenlernen, kommt keine Unmittelbarkeit auf. Eine Innensicht Ediths, ihre Gedanken, wären interessant gewesen. Dennoch wird der Charakter Edith Sitwells gut beleuchtet, auch wenn wir nur durch Jane auf sie blicken. Es wird deutlich, dass sie eine Person war, die durch Poesie und Kunst - durch das Erschaffen von Dichtung und die Rezeption von Literatur - der Enge ihres Daseins, der restriktiven Gesellschaft, dem britischen Erbrecht, den Existenzsorgen, den Schrecken des Krieges und ihrem nicht der Norm und vor allem dem damaligen Schönheitsideal entsprechenden, oft schmerzenden Körper entkommen konnte. Das ist denke ich die Hauptbotschaft dieses Buches und des Lebens der Edith Sitwell: in der Phantasie, in unseren Gedanken, können wir alles sein und der Realität - zumindest zeitweise - entfliehen.

Ein sehr lesenswertes Buch über eine hoch spannende Frau und ihre Zeit!

Lobend hervorheben möchte ich noch die sehr schöne Gestaltung dieses Romans von Veronika Peters als Hardcover durch den Wunderraum-Verlag. Das schöne Vorsatzpapier, das Lesebändchen und vor allem der auf den Umschlag geklebte Titel, wodurch der Leinenrücken sichtbar wird, geben dem Buch das gewisse Etwas!

Nähere Infos zum Buch gibt es hier.

Vielen Dank an vorablesen.de und den Wunderraum Verlag für das Rezensionsexemplar!