Luca Mael Milsch erzählt in “Sieben Sekunden Luft” die aufwühlende Geschichte einer toxischen Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich einander nicht ausgesucht haben und doch für immer verbunden sind: Mutter und Tochter: “…egal, wie weit du weglaufen willst und wirst. Sie bleibt.” (S. 150) Gemeint ist die Mutter. Von Ex-Partner:innen kann man sich trennen, so etwas wie eine Ex-Mutter gibt es nicht. Die Tochter ist Selah, die Mutter wird nur “Mama” genannt, den Schritt zur Individuation der Mutter-Figur durch die Gabe eines Namens geht die Erzählinstanz nicht. Das passt ins Gefüge des Textes, denn die Mutter ist übermächtig-gottgleich in dieser Beziehung und das Göttliche hat - ich spreche hier nur für den westlichen Kulturkreis - ja auch keinen Namen außer der Bezeichnung selbst.
Wir bekommen Selahs Leben in vier Zeitebenen erzählt. 1995: Die Stimme des 11-jährigen Kindes Selah, die bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufwächst. Die Mutter hat einen Bürojob und wechselnde Männerbekanntschaften. Sie lässt ihre Tochter spüren, dass es nicht einfach ist, ein Kind ohne Unterstützung durch den Selah unbekannten Vater, der keine Alimente zahlt, durchzubringen. Ohne Zweifel hat sie narzisstische Züge, sie verlangt von ihrer Tochter Gehorsam und vor allem, dass Selah keine Probleme macht, als Persönlichkeit quasi unsichtbar ist und in der Schule sowie im Klavierunterricht brilliert. Selah macht sich klein, bekommt eine Essstörung, wird gemobbt, sexuell angegriffen und homophob beleidigt, denn sie kleidet sich nicht typisch mädchenhaft. Von all dem bekommt die Mutter nichts mit. 2006: Selah als junge Frau im Studium, das sie nicht ernst nehmen kann, orientierungslos. Sie lebt in einem WG-Zimmer und immer noch mit den Geistern der Vergangenheit zusammen. Die Beziehung zur Mutter: Schwierig und distanziert. 2017: Selah auf einer dreimonatigen Auszeit an der Ostsee mit Hund, ihr Job in der Pflege hat sie aufgerieben, die Vergangenheit reflektierend. 2023: Selah ist in einer festen Beziehung mit Ava, sie haben ein Pflegekind. Selah ist Musikerin und glücklich in einem familiären Umfeld. Allerdings steht die durch den Tod einzig mögliche Trennung von der Mutter bevor, die unheilbar an COPD erkrankt ist. Ein langsamer und nochmal alles aufwühlender Abschied.
Was mir sofort aufgefallen ist, ist die unglaublich authentische Erzählstimme. So würde ein echter Mensch tatsächlich denken, habe ich mir sehr oft gedacht, als ich Selahs innerem Monolog lauschen durfte. In diesen Worten steckt keinerlei Künstlichkeit, obwohl sie überaus kunstvoll gewählt sind. Hier ist kein Satz, keine Aussage überflüssig. In Selahs Worten manifestiert sich all das Ungesagte, all das, was gegenüber ihrer Mutter nicht artikuliert werden durfte. Selahs Mutter hat gegenüber ihrer Tochter nur eine Meinung gelten lassen - und das ist ihre eigene. Die Tochter musste sich unterordnen, Dinge machen, die ihrem Wesen zutiefst gegen den Strich gingen. Ich spreche hier nicht davon, die Spülmaschine auszuräumen, wenn man keinen Bock darauf hat. Selah wurde als Individuum nicht gesehen. Und das schlägt sich auf die Psyche eines Kindes nieder und gipfelt in mangelndem Selbstbewusstsein und Schlimmerem.
Vieles, was hier geschrieben wurde, hat Allgemeingültigkeit. Selahs Reflektionen sind starke Aussagen und ich habe mir viele Sätze rausgeschrieben, weil sie so unglaublich wahr und gut sind. Zum Beispiel diesen Abschnitt: “das gegenseitige Verletzen, versehrte Körper unter einem Dach, sich gegenseitig versehrende Menschen, eine Familie.” (S. 202) Oder:
"Du hast nie verstanden, warum Menschen nicht ihre Ruhe haben wollen, und bist erschrocken, wie sehr du es an manchen Tagen schaffst, so zu tun, als seist du einer von ihnen." (S. 134)
Ich habe oft mit Selah mitgeführt, weil ich viele ihrer Gedanken sehr gut nachvollziehen kann.
Das Motiv des Luftholens zieht sich leitmotivisch durch den Roman und ist auch in die formale Gestaltung des Textes eingeflossen (S. 175-182). Nach einem Leben voller äußerer Zwänge und teilweisen Fremdbestimmung, ist da der Wunsch bzw. vielmehr der Drang, einmal ganz bei sich zu sein und einfach mal tief durchatmen, “aufatmen”, wie sie es nennt, zu können - und wenn es nur für sieben Sekunden ist.
Das versöhnliche Ende dieses Romans macht Hoffnung und auch wenn Selah nur eine Romanfigur ist, so freue ich mir diesen Menschen, der sich am Ende des Textes endlich selbst gefunden hat und nun freier atmen kann.
Dieses Buch ist ein Debütroman und als solcher von höchster literarischer Qualität. Ich würde mich schwer über die Jury wundern, wenn er nicht zumindest auf die Longlist des Deutschen Buchpreises kommen würde. Ein absolut perfekter Roman, an dem es nichts, aber auch gar nichts auszusetzen gibt. Dennoch möchte ich auf die zahlreichen sensiblen Inhalte in diesem Roman hinweisen. Triggerwarnungen: Homophobie/Queerfeindlichkeit, toxische Eltern-Kind-Beziehung, psychische Erkrankungen, Vergewaltigung, Mobbing, Essstörung, Krankheit/Sterben
Herzlichen Dank an Lovelybooks für die Leserunde mit Autor:in, dem Haymon-Verlag für das Rezensionsexemplar und Luca Mael Milsch für diesen wunderbaren Text.