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Dienstag, 14. Mai 2013

"Cleaver" von Tim Parks



Herbst 2004. Der Mittfünfziger Harold nur von seiner Lebenspartnerin und Mutter der vier gemeinsamen Kinder Amanda „Harry“ genannt  Cleaver ist ein berühmter und erfolgreicher Fernsehjournalist in England. Nachdem sein Sohn einen Enthüllungsroman über ihn geschrieben hat und dieser auch noch für den renommierten Booker-Prize nominiert wurde und außerdem Cleavers brisantes Interview mit dem amerikanischen Präsenten für Furore gesorgt hat, steigt der Fernsehmann in einen Flieger nach Mailand, mit dem Ziel die nächsten Jahre abgeschieden von Beruf und Familie in den Südtiroler Bergen zu verbringen.

Die Erinnerung an eine ehemalige Affäre lässt ihn diesen abgelegenen Flecken Erde aufsuchen, wo er sich zunächst auf dem bäuerlichen „Trennerhof“ in Luttach einmietet. Schnell gewöhnt sich Cleaver an das neue Umfeld und die Mitglieder des Familienbetriebs wachsen ihm ans Herz. Frau Schleiermacher bietet ihm an den Winter bei Ihnen zu einem fairen Preis für Kost und Logis auf dem „Trennerhof“ zu verbringen. Doch als ein alter Nazi zur Freude aller Dorfbewohner stirbt und dessen extrem abgeschiedener „Rosenkranzhof“ Cleaver als neue Behausung angeboten wird zögert dieser nicht lange und beginnt dort ein „echtes“ Eremitendasein. Cleaver recherchiert und nach und nach tun sich ihm die Abgründe auf, die sich zwischen den Bewohnern von Luttach abspielen und abgespielt haben.

Die „äußere“ Handlung des Romans ist überschaubar: Cleaver lebt sich ein und begegnet neben den  Verstrickungen der Einheimischen immer wieder Dingen, die ihn über sein eigenes Leben nachdenken lassen. So besteht die eigentliche Handlung vor allem aus den Reflektionen Cleavers, der seine eigene Vergangenheit (den Tod seiner Tochter Angela, die Lebenspartnerschaft mit Amanda und die außerpartnerschaftlichen Affären, das Verhältnis zu seinem Sohn und den anderen Kindern, die Arbeit im und für das Fernsehen) aufarbeitet. Dies ist aber keinesfalls langweilig für den Leser, weil der Autor es schafft die tatsächlichen Ereignisse mit dem inneren Monolog des Protagonisten zu einem dichten Netz zu verweben, in dem sich viele Dinge spiegeln und reflektieren.

Ich habe das Buch im englischen Original gelesen und die deutschen Sätze (gelegentlich auch in Form oberdeutsch-dialektaler Ausdrücke) wie selbstverständlich mitgelesen. Der deutschsprachige Leser muss sich also erst mal bewusstmachen dass dies natürlich „Störfaktoren“ sind, die die Prosa sperriger machen sollen und dem englischsprachigen Leser vermitteln dass sich Cleaver (und bis zu einem gewissen Grad auch er) an einem „exotischen Ort“ befindet, an welchem er die Einheimischen nicht versteht und selbst ein Außenseiter ist.

Der Roman ist von seiner Anlage und Intention her tragikomisch, d.h. er ist trotz einer gewissen Schwere der Thematik mit einer feinen unterschwelligen Ironie konzipiert.

Fazit: Ein großartiger Parforceritt durch die Wahrnehmung eines eingefahrenen Mittfünfzigers, der in den Südtiroler Bergen neu zum Leben erwacht.

Meine Ausgabe:
Verlag: Vintage
Erscheinungsjahr der Ausgabe: 2007
Seiten: 320
ISBN:  978-0099481393 
Deutsche Übersetzung: Stille (2008, Goldmann)

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