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Freitag, 19. April 2024

"Der Hirtenstern" von Alan Hollinghurst


Der Begriff “L'art pour l'art” bezeichnet ja eine Kunst, die nur um ihrer selbst willen existiert. Sie hat keinerlei “Sinn und Zweck”, keine politische Botschaft oder sonst ein Anliegen - sie “ist” einfach. Oft musste ich an diese Kunstströmung denken, als ich “Der Hirtenstern” von Alan Hollinghurst gelesen habe. Denn der Protagonist Edward Manners zelebriert die Kunst der Begierde um ihrer selbst willen. Die Verliebtheit in seinen Schüler Luc ist nichts anderes als praktizierter Hedonismus.

“Der Hirtenstern” ist bereits 30 Jahre alt. 1994 wurde er auf die Shortlist des Booker Prize gesetzt. Erst im Jahr 2022 wurde “The Folding Star” für den Albino Verlag von Joachim Bartholomae ins Deutsche übersetzt. 

Die Handlung des Romans spielt sich im Herbst 1991 ab. Der 33-jährige Engländer Edward Manners kommt als Privatlehrer in eine nicht genannte mittelgroße alte belgische Stadt in Flandern - man vermutet es ist Brügge. Der homosexuelle Manners erkundet abends die örtliche Schwulenszene und unterrichtet tagsüber zwei männliche Teenager in Englisch, Marcel und Luc. Marcel ist der Sohn des Direktors eines Kunstmuseums, das den Werken des verstorbenen (fiktiven) Malers Edgard Orst (er spielt eine wichtige Rolle im Roman) gewidmet ist, Edward wird sein Assistent. Edward verliebt sich aber in den siebzehnjähren Luc, der davon erstmal lange nichts mitbekommt. Die Verliebtheit ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans sowie das Empfinden des Ich-Erzählers Edward.

Hollinghursts Prosa ist allererste Sahne. Der Mann kann absolut mit Worten umgehen und aus ihnen Kunst schaffen. Nicht umsonst wurde der Roman 1994 auf die Shortlist des Booker Prize gesetzt, als queere Thematiken in der Literatur noch lange nicht selbstverständlich waren.

Es gibt so Sätze in diesem Buch, die sind so blumig und gespickt mit Metaphern, dass ich einfach pure Begeisterung dafür empfinde. Z.B.: “Sie benutzte immer dasselbe Parfüm, einen wundervollen Duft, der alte Klöster, Tanten, Landhäuser voller Gobelins und vertrocknete Blüten in einer Porzellanvase gewesen war, bevor er zu dem wurde, was immer er jetzt war, eingefangen in stilvolle Phiolen, die ein Herbalist aus Mayfair an gepuderte Witwen in schwarzen Pumps verkaufte.” (S. 221f.) Oder: “Ich spürte, wie der Geist der Zeit, den ich heraufbeschworen hatte, an mir vorbeizog wie ein nächtlicher Wind in den Wäldern, der um einen einsamen Schuppen oder eine lang verlassene Nissenhütte weht, wo zwei Jungen bei einem dürftigen Feuer aus Zweigen und Abfall hocken und plaudern.” (S. 347). Sorry, aber in solche Sätze kann ich mich einfach reinsetzen. Wenn sie ein Getränk wären, würde ich sie ausschlürfen und mich daran berauschen. Das ist für mich Literatur! Hier muss natürlich auch dem Übersetzer Joachim Bartholomae Beifall gezollt werden.

Es geht in diesem Roman - für ein literarisches Buch - sehr viel und explizit um S*x (ich verfremde das Wort, um Bots abzuhalten). Zum einen wird der S*x zwischen dem Protagonisten und seinen Fast-Lebensgefährten Cherif und Matt ausführlich beschrieben. Durch das “Fetischbusiness” des extrovertierten Matt wird das Thema zusätzlich in den Fokus gerückt. Er klaut u.a. getragene Unterwäsche aus Schwimmbädern und verkauft sie zu horrenden Preisen weiter. Außerdem kopiert und verkauft er Schwulenpornos, damals noch als VHS-Kassetten, die er mit der Post unter die Leute bringt.

Was Hollinghurst meisterhaft einander gegenüberzustellen vermag, ist die Banalität von S*x im Gegensatz zur Erhabenheit des Begehrens. Während S*x wie alle körperlichen Bedürfnisse eigentlich ein ziemlich simpler Vorgang und vom Prinzip Essen bzw. dem Gegenteil davon furchtbar ähnlich ist, spielt sich die eigentliche Erotik immer im Kopf ab. Nicht umsonst ist das Gehirn das größte S*xualorgan des Menschen. Und was ist schon ein erfülltes Bedürfnis im Gegensatz zum Begehren, zur Erotik des “Vielleicht”. Sind es nicht die unerwiderten, einseitigen Liebesgeschichten, die uns ein Leben lang verfolgen? Das Motiv, Kunst zu schaffen, entsteht oft durch einen Mangel heraus. Der Mangel ist der Zustand, der uns hoffen und wünschen lässt. Und diesen Zustand hat mir Hollinghurst meisterhaft erzählt.

Dennoch muss ich leider sagen, dass ich dann doch froh war, als ich diesen 620-Seiten langen Roman beendet hatte. Für mein Empfinden ist das Buch wirklich gute 200 Seiten zu lang. Hollinghurst verliert sich oft so in Details, Kleinigkeiten und Verkünstelungen, die ich als redundant empfand. Auch die ganze Background-Story um Edgard Orst war mir viel zu ausufernd. Im Mittelteil, als Edward zur Beerdigung seines Ex-Freundes nach England reist, kommen so viele Szenen mit random eingeführten Personen vor, die ich einfach nur überflüssig fand. Also ein bisschen muss ich leider sagen, dass dieser Roman “zurecht” etwas übergangen wird im Gegensatz zu anderen Werken des Autors. Nichtsdestotrotz finde ich die Übersetzung hervorragend, die Covergestaltung ist auch sehr stimmig und jede/r soll sich natürlich selbst ein Bild machen, ob es ihm/ihr genauso geht. Im Albino-Verlag ist auch die “Schwimmbadbibliothek” erhältlich, das nächste Buch von Hollinghurst, das ich lesen werde.

Fazit: Sprachlich erste Klasse, aber vom Unterhaltungsaspekt (also wie angenehm das Buch im Ganzen zu lesen ist) eher schwierig und leider viel zu lang.

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