Um das, was ist und das, was hätte sein können, darum geht es in den Geschichten von Saša Stanišić in diesem Buch (nachfolgend aus ökonomischen Platzgründen “Witwe” genannt). Der Ausgangspunkt: Die Träumereien von ein paar 16-jährigen Jungen, darunter der Autor selbst, in den Heidelberger Weinbergen des Jahres 1994, werden zu einem philosophischen Parforceritt, bei dem wir viele ganz unterschiedliche Menschen kennenlernen, die sich alle die mehr oder weniger gleichen Fragen stellen: Lebe ich das richtige Leben? Was wäre jetzt, wenn die Vergangenheit anders gelaufen wäre? Und wie würden wir uns entscheiden, wenn wir einen kleinen Sneak-Peak auf unser Leben bekommen würden? Würden wir nach dem Ansehen dieses random Moments aus unserer Zukunft auf Einloggen (= Ja, dieses Leben nehme ich!) drücken?
Wenn ein Piraten-Memory-Spiel - das im Buch übrigens längst nicht mehr so schwer zu bekommen ist wie in der britischen Comedy-Serie “Little Britain” beschrieben (dennoch @ravensburger - wo ist eure Version) - und dessen Entsorgung zur Erz-Nemesis eines ganz normalen Familienvaters (Georg Horvath) wird, dann gehört das exakt zu den Dingen, die ich unter anderem literarisch verarbeitet sehen möchte. Ich frage mich nur, woher Saša Stanišić das wusste.
Die Geschichte mit Helgoland, ja die ist wunderbar meta-, inter- und was sonst noch alles -textuell, dass man als Leser:in gar nicht mehr hinterkommt sich zu fragen was jetzt genau Wahrheit und was Fiktion ist/war/gewesen sein sollte. Ein herrlich witziges Kuddelmuddel. Nicht nur zitiert der Autor hier und dort und da Heine (was für ein cooler Typ Heine doch war, danke fürs wieder-bewusst-machen) und andere, er gibt uns auch selbst wunderbare Einblicke in seine Poetik aka seine Autorenhacks: “Bei ‘mastodon’ hat der Autor mal erzählt, er füge gelegentlich nur deswegen Sätze hinzu, damit der letzte Absatz auf der Seite glatt abschließt, also nicht noch die erste Zeile des nächsten Absatzes dranhängt (S. 116). Erfrischend ehrlich, oder? Und sinngemäß: Googelt doch selbst, was “Lange Anna” ist, ich kann euch nicht alles auf dem Silbertablett meiner Prosa servieren, etc.
Ich müsste jetzt lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte die zwei Geschichten mit den - waren es vier? - Freunden in Winsen an der Luhe verstanden. Also Doppelkopf,Tigermücken, Hitzschlag, Lego-Eisenbahn, Reichsbürger etc. Ne, da war ich mal kurz raus weil ich nicht verstanden habe, was uns der Autor mit dieser Geschichte sagen wollte. Vielleicht ja auch gar nichts, aber das Gedicht in der Hitzschlagszene fand ich schön. Echt.
Und dann ist da natürlich Gisela, die titelgebende Witwe mit der zeichenhaften Gießkanne. Sie, ich kann es nicht anders als pathetisch sagen, gießt sich auf dem nebligen Friedhof buchstäblich in unser aller Herz und lässt es auftauen (wenn es das denn nötig haben sollte) wie die zugefrorenen Blumen auf dem Grab ihres Ehemannes.
Ich habe oft gelacht, als ich dieses Buch gelesen habe. Ich habe mich in Gedankenspielen verloren und sie wieder verworfen. Ich habe mich ertappt gefühlt und mich gefreut. Und ja: gerührt war ich auch und manchmal wurde ich auch geschüttelt - ich wurde sozusagen zum lesenden Martini.
Mehr kann ich euch jetzt gar nicht sagen. Ich habe keine anderen Rezensionen gelesen und auch das Interview von Denis Scheck mit dem Autor bei “Druckfrisch” nicht angeschaut. Unvoreingenommen, aber ich freue mich trotzdem, wenn ihr meine Rezension bis hierhin gelesen und dann vielleicht deswegen zu der “Witwe” greift. Es lohnt sich. Und ich würde sagen: Plastikummantelung gelbe Tonne soweit vorhanden, der Rest: Restmüll.