Freitag, 31. Mai 2024

"Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne" von Saša Stanišić

Um das, was ist und das, was hätte sein können, darum geht es in den Geschichten von Saša Stanišić in diesem Buch (nachfolgend aus ökonomischen Platzgründen “Witwe” genannt). Der Ausgangspunkt: Die Träumereien von ein paar 16-jährigen Jungen, darunter der Autor selbst, in den Heidelberger Weinbergen des Jahres 1994, werden zu einem philosophischen Parforceritt, bei dem wir viele ganz unterschiedliche Menschen kennenlernen, die sich alle die mehr oder weniger gleichen Fragen stellen: Lebe ich das richtige Leben? Was wäre jetzt, wenn die Vergangenheit anders gelaufen wäre? Und wie würden wir uns entscheiden, wenn wir einen kleinen Sneak-Peak auf unser Leben bekommen würden? Würden wir nach dem Ansehen dieses random Moments aus unserer Zukunft auf Einloggen (= Ja, dieses Leben nehme ich!) drücken?

Wenn ein Piraten-Memory-Spiel - das im Buch übrigens längst nicht mehr so schwer zu bekommen ist wie in der britischen Comedy-Serie “Little Britain” beschrieben (dennoch @ravensburger - wo ist eure Version) - und dessen Entsorgung zur Erz-Nemesis eines ganz normalen Familienvaters (Georg Horvath) wird, dann gehört das exakt zu den Dingen, die ich unter anderem literarisch verarbeitet sehen möchte. Ich frage mich nur, woher Saša Stanišić das wusste.

Die Geschichte mit Helgoland, ja die ist wunderbar meta-, inter- und was sonst noch alles -textuell, dass man als Leser:in gar nicht mehr hinterkommt sich zu fragen was jetzt genau Wahrheit und was Fiktion ist/war/gewesen sein sollte. Ein herrlich witziges Kuddelmuddel. Nicht nur zitiert der Autor hier und dort und da Heine (was für ein cooler Typ Heine doch war, danke fürs wieder-bewusst-machen) und andere, er gibt uns auch selbst wunderbare Einblicke in seine Poetik aka seine Autorenhacks: “Bei ‘mastodon’ hat der Autor mal erzählt, er füge gelegentlich nur deswegen Sätze hinzu, damit der letzte Absatz auf der Seite glatt abschließt, also nicht noch die erste Zeile des nächsten Absatzes dranhängt (S. 116). Erfrischend ehrlich, oder? Und sinngemäß: Googelt doch selbst, was “Lange Anna” ist, ich kann euch nicht alles auf dem Silbertablett meiner Prosa servieren, etc.

Ich müsste jetzt lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte die zwei Geschichten mit den - waren es vier? - Freunden in Winsen an der Luhe verstanden. Also Doppelkopf,Tigermücken, Hitzschlag, Lego-Eisenbahn, Reichsbürger etc. Ne, da war ich mal kurz raus weil ich nicht verstanden habe, was uns der Autor mit dieser Geschichte sagen wollte. Vielleicht ja auch gar nichts, aber das Gedicht in der Hitzschlagszene fand ich schön. Echt.

Und dann ist da natürlich Gisela, die titelgebende Witwe mit der zeichenhaften Gießkanne. Sie, ich kann es nicht anders als pathetisch sagen, gießt sich auf dem nebligen Friedhof buchstäblich in unser aller Herz und lässt es auftauen (wenn es das denn nötig haben sollte) wie die zugefrorenen Blumen auf dem Grab ihres Ehemannes.

Ich habe oft gelacht, als ich dieses Buch gelesen habe. Ich habe mich in Gedankenspielen verloren und sie wieder verworfen. Ich habe mich ertappt gefühlt und mich gefreut. Und ja: gerührt war ich auch und manchmal wurde ich auch geschüttelt - ich wurde sozusagen zum lesenden Martini.

Mehr kann ich euch jetzt gar nicht sagen. Ich habe keine anderen Rezensionen gelesen und auch das Interview von Denis Scheck mit dem Autor bei “Druckfrisch” nicht angeschaut. Unvoreingenommen, aber ich freue mich trotzdem, wenn ihr meine Rezension bis hierhin gelesen und dann vielleicht deswegen zu der “Witwe” greift. Es lohnt sich. Und ich würde sagen: Plastikummantelung gelbe Tonne soweit vorhanden, der Rest: Restmüll.





Dienstag, 28. Mai 2024

"Lichtungen" von Iris Wolff


“Jeder Augenblick, dachte Lev, enthielt alles Gewesene, und war doch immer wieder ein Neubeginn.” (S. 34)

“Lichtungen” ist das erste Buch von Iris Wolff, das ich nun endlich gelesen habe. Warum habe ich so lange gezögert? Nun, das liegt in meiner eigenen Familiengeschichte begründet. Der Roman - und ich glaube andere Werke von Iris Wolff auch - spielt zu einem großen Teil in Iris Wolffs Geburtsheimat Rumänien, vor allem in den ehemals deutschen Teilen Siebenbürgen und dem Banat. Auch meine Familie stammt mütterlicherseits aus Siebenbürgen, nach Deutschland eingewandert in den frühen 1970er Jahren. Bislang habe ich immer gezögert deutsch-rumänische Autorinnen zu lesen - auch die Nobelpreisträgerin Herta Müller habe ich bisher nur “umkreist” - weil ich eben die Befürchtung hatte, mir würde das alles zu nahe kommen, mich emotional zu sehr angreifen.

Und ja, “Lichtungen” hat mich emotional berührt, aber nicht auf eine negative, schwere Art und Weise. Das ist bei diesem Buch, bei dieser ultraleichten, fast transparenten Erzählweise, die die Autorin heraufbeschwört hat, auch kaum vorstellbar. Die Prosa von Iris Wolff fühlt sich an, als wäre sie mit einem verzauberten Schleier überzogen, den die Lesenden nach und nach abziehen müssen, um zum Grund der Dinge zu gelangen. So ist es auch konsequent, dass die Geschichte von Lev, der eigentlich Leonhard heißt, rückwärts erzählt ist. Ein Kunstgriff, der mir noch nicht oft untergekommen ist, der mich hier aber restlos überzeugt hat.

Was Iris Wolff erzählt, ist die Geschichte einer Individuation - Coming of Age rückwärts - eines jungen Mannes im Vielvölkerstaat Rumänien während der Umbruchszeit. Natürlich ist es auch eine Liebesgeschichte zwischen einer, die sich entschieden hat, zu gehen, und zwar in den Westen und einem, der sich entschieden hat, zu bleiben, und zwar im Osten. Erzählt wird aber hauptsächlich die Geschichte von Lev, an deren jeweiligen Enden, von denen das eine ein Anfang ist, Kato steht. Lev aber ist der Protagonist und Fokalisator. Das passt, denn so wie seine Nation steht er zwischen allen Stühlen. Die Mutter siebenbürgisch-sächsisch mit u.a. österreichischen Wurzeln, der Vater rumänisch. Seine Sprache ist aber das Deutsche, der sächsische Dialekt wird im Text ausgespart, wäre er doch in der Schriftsprache für Unkundige kaum verständlich. Rumänisch, die Vatersprache Levs, kommt auch nur hauptsächlich in den Motti vor, die den Kapiteln vorangestellt sind und Im Anhang übersetzt wurden. Die zeitliche Einordnung muss man sich etwas erschließen, aber die Haupthandlung dürfte in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren spielen.

Nochmal zu meiner ganz persönlichen Lektüreerfahrung: Die Feindbilder Ceauşescu, Enteignung, Kommunismus, aber auch Begrifflichkeiten wie Zacusca, Paprikasch, “noppen” (Mittagsschlaf halten), Grießbrei oder Maisbrei bzw. Polenta oder Tätigkeiten wie Ostereier mit Zwiebelschalen färben, Pferdewagen fahren und ausgiebige Totenfeiern mit Leiche abhalten sind Versatzstücke, die ich aus den Erinnerungen und Erzählungen meiner Großmutter sehr gut kenne.

Ein wundervoller Roman, den ich bestimmt in ein paar Jahren nochmal lesen werde. Ich freue mich, dass ich Iris Wolff bald auf einer Lesung erleben werde und hoffentlich noch mehr Eindrücke von ihr und dem Buch bzw. seinen Hintergründen bekomme.



Sonntag, 26. Mai 2024

"Frau Putz" von Julia Hoch

Nicht immer, aber immer öfter haben die Protagonist:innen in den Belletristik-Büchern, die ich so lese, angesehene oder sogar prestigeträchtige bildungsbürgerliche Berufe: Professor:in, Forscher:in, Jurist:in, Künstler:in, Mediziner:in, Beamter/Beamtin, Student:in, etc. pp. Derzeit werden die Natur bzw. das Landleben literarisch wiederentdeckt, also ist auch mal ein/e Landwirt:in dabei, gerne mit akademischem Hintergrund. Eine Reinigungskraft oder “Putzfrau” (wie wir, wenn wir ehrlich sind, insgeheim sagen) als Protagonist:in war bis jetzt, soweit ich mich erinnere, noch nie dabei. Umso neugieriger war ich auf “Frau Putz” von Julia Hoch, das Buch mit der putzigen Taube auf dem Cover. Einem Tier, das so gar nicht mit Reinlichkeit assoziiert wird, werden sie doch auch “die Ratten der Lüfte” genannt. Die Wahl des Covers ist also schon mal ironisch-edgy und das hat mich u.a. überzeugt, das Buch zu lesen. Außerdem: Einfach mal die Perspektive von jemandem einnehmen, der für andere die Drecksarbeit erledigt und dafür - gering - entlohnt wird. Das hat - wie der Putzvorgang selber, etwas Kathartisches: “Dreck war irgendwie auch immer etwas wie Schuld, die belastete, die beschämte, und das Beschäftigen einer Reinigungskraft wirkte wohl befreiend. Man kaufte sich von Sünden frei. Schutz hatte kein Zuhause, für Schmutz gab es keinen Ort.” (S. 200)

Der Roman spielt ganz aktuell im Jahr 2023. Die selbstständige Reinigungsfachkraft Kerstin Wischnewski ist 47 Jahre alt. Außer einer studierenden 23-jährigen Tochter hat sie keine nennenswerten Verwandten, dafür einen ziemlich hohen Dispo-Kredit und eine Zahnlücke, die mit einer teuren Brücke versorgt werden will und dementsprechend Geldsorgen. Da ihr in letzter Zeit einige Aufträge weggefallen sind, ist das Geld noch knapper. Gut dass ihre Kollegin Erika in den Putz-Ruhestand geht und ihr einige hochkarätige Auftrageber:innen verschafft. Allerdings haben diese Putzstellen es mehr als in sich und Kerstin reflektiert immer mehr ihren Beruf - oder ist es doch eine Berufung?

Mir ist bei der Lektüre erst so richtig bewusst geworden, wie unterschiedlich unsere individuellen Vorstellungen von Sauberkeit eigentlich sind. Was für die eine völlig übertrieben ist, ist für den anderen Grundstandard und Mindestmaß an Reinlichkeit. In welchem Chaos oder Nicht-Chaos fühlt sich der einzelne Mensch wohl? Welche Regeln gelten für das “Wohlfühl-Zuhause”? Für Kerstin - wie für mich auch - ist es zum Beispiel völlig unvorstellbar, im eigenen Haus Straßenschuhe (bei mir zusätzlich Kleidung wie Jeans) - zu tragen, denn das Gefühl von Öffentlichkeit und Straßendreck soll draußen bleiben. Zuhause ist man man selbst.

Ein Buch, das ich empfehlen kann, wenn einem der Sinn nach einer Lektüre steht, die voll ist von der Ironie bzw. Absurdität des Alltags sowie allerhand Situationskomik und dennoch in Richtung Gesellschaftskritik geht.

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Donnerstag, 23. Mai 2024

"Mord stand nicht im Drehbuch" von Anthony Horowitz


Intelligent konstruierter Meta-Krimi-Spaß

"Es gibt gute Gründe, warum ich mich von Politik und sozialen Fragen fernhalte. Ich schreibe, um die Leute zu unterhalten.” (S. 192)

Für alle, die die Serie nicht kennen, ein kurzer Überblick: Der in London lebende Schriftsteller Anthony Horowitz (geboren 1956) gehört zu den kommerziell erfolgreichsten und produktivsten Autor:innen Großbritanniens. Er hat zahlreiche Romane, Krimis, Kinder- und Jugendbücher sowie auch Drehbücher für Film- und Fernsehen und Theaterstücke geschrieben. Seine Ehefrau Jill Green besitzt eine Produktionsfirma. Sie haben zwei erwachsene Söhne, von denen der eine als Berater für den britischen Premier Rishi Sunak arbeitet.

Warum erwähne ich die Biographie des Autors so ausführlich? Nun, der Roman “Mord stand nicht im Drehbuch” ist der vierte Band der Hawthorne/Horowitz-Reihe, in die Horowitz sich selbst als Figur hineingeschrieben hat. Zusammen mit dem - natürlich fiktiven - und sehr mysteriösen Privatdetektiv Nathaniel Hawthorne ermittelt er in verschiedenen Mordfällen. Im ersten Band “Ein perfider Plan” bittet Hawthorne den renommierten Schriftsteller Horowitz ein Buch über seine Arbeit mit ihm als Ermittler im Zentrum zu schreiben. Horowitz wird sozusagen zum Watson, denn Hawthorne schleppt ihn zu den Ermittlungen mit, damit dieser wiederum darüber schreiben kann. So geht das nun schon seit drei Bänden und der vierte beginnt damit, dass Horowitz kein weiteres Buch mehr über Hawthorne und sich selbst schreiben möchte: “Tut mir leid, Hawthorne. Die Antwort ist nein. Unsere Vereinbarung ist beendet.” Ein Running-Gang, denn Horowitz möchte nach jedem - für ihn selbst meist sehr riskanten - Fall aufhören. Als kurz nach der London-Premiere von Horowitz’ Krimikomödie “Mindgame” genau die Theaterkritikerin erstochen wird, die die erste schlechte Kritik über das Stück geschrieben hat, wird es aber brenzlig für Horowitz: Er gerät unter Mordverdacht und alle Indizien sprechen gegen ihn. Da kann ihm nur noch der eine helfen, den er kurz zuvor zurückgewiesen hat: Hawthorne.

Bei den Hawthorne/Horowitz-Romanen denke ich mir immer, wie schwierig es doch sein muss - selbst für einen so versierten, erfolgreichen Autor wie Horowitz - sich selbst als literarische Figur darzustellen. Wie viel von meiner Persönlichkeit möchte ich wirklich preisgeben, wie transparent möchte ich für meine Leserschaft werden? Zumal ist Horwitz auch ein sehr erfolgreicher Autor von Jugendbüchern, viele junge Menschen lesen und verehren ihn. Und bei Horowitz ist es ja extrem, denn er spricht neben seiner Familie - seine Frau Jill tritt ja sogar als handelnde Figur auf, die beiden Söhne bleiben nur Statisten - über seine Erfolge und Misserfolge sowie auch nicht so positive Charakterzüge seiner selbst. Ein Schriftsteller zum Anfassen. Ob er wirklich in der real existierenden Cowcross Street im Londoner Stadtteil Farringdon in einer Penthouse Wohnung lebt, wie im Buch behauptet? Kann gut möglich sein. Ich wäre schon verblüfft, wenn die Adresse wirklich stimmt, aber ich traue es ihm zu. Realität und Fiktion vermischen sich hier auf eine ungewöhnliche Art und Weise, die wohl wirklich Erfolg bei seiner Leserschaft zu haben scheint, wie es seine Agentin zum Schluss nochmal betont: “Dass Sie selbst in den Büchern auftauchen, ist wirklich ungewöhnlich. Die Reaktionen auf ‘Ein perfider Plan’ waren sehr positiv. Viereinhalb Sterne bei ‘Goodreads’ und eine tolle Besprechung in der ‘Mail on Sunday’.” (S. 322)

Der Fall hat mir diesmal wieder ausgesprochen gut gefallen. Man kann wunderbar miträtseln wer der/die wahre Täter/in ist, denn Verdächtige gibt es wirklich zu Hauf. Auch dass es diesmal um das Theatermilieu - “the play within the novel” sozusagen - geht, hat mich persönlich sehr angesprochen da ich Romane über Schauspieler:innen, die meist einen extravaganten Charakter haben und dementsprechend literarisch viel zu bieten, sehr mag.

Jetzt kommt aber doch noch ein Kritikpunkt. Und zwar ist mir in diesem Band ein ziemlicher “Ageism” aufgefallen, sprich, wie Horowitz das Alter von manchen Charakteren einstuft bzw. was er damit assoziiert. Und zwar bezeichnet er einmal eine “ungefähr vierzig Jahre” (S. 282) alte Person, die er für einen Immobilienmakler gehalten hat, als “zu alt” um diesen Beruf auszuüben. What? Immobilienmakler:innen sind mit vierzig also zu alt für ihren Beruf - wieder was gelernt! An anderer Stelle heißt es über einen Anfang sechzig Jahre alten Lehrer, er wäre ein “alter Mann”. Und eine ca. siebzigjährige Frau ist eine “sehr alte Frau”. Da frage ich mich doch, ob der auf Fotos agil und fit wirkende Horowitz, der auch bald siebzig wird, sich selbst als “sehr alten Mann” bezeichnen würde. Irgendwie ist dieses Alterskonzept doch strange bzw. wirkt wie aus der Zeit gefallen. “Alt” beginnt für mich bei 80, “sehr alt” bei 90 und Immobilienmakler:innen würde ich durchaus auch mit 40 als fähig halten, ihren Job auszuüben, ohne dass ihnen die Exposés aus der zittrigen Hand fallen.

Ein Wermutstropfen in einem durchaus ansprechenden und erfrischenden Krimi-Cocktail! Übersetzt von Lutz-W. Wolff.

Herzlichen Dank an den Insel Verlag und vorablesen für das Rezensionsexemplar!



Dienstag, 21. Mai 2024

"Die Tage des Wals" von Elizabeth O'Connor

“Die Tage des Wals”, der Debütroman der britischen Autorin Elizabeth O'Connor, für den Blessing-Verlag übersetzt von Astrid Finke, ist etwas ganz Besonderes. Es ist ein historischer Roman, der im Jahr 1938 auf einer fiktiven, acht Kilometer vor der walisischen Küste gelegenen Insel spielt. Er erzählt uns einen Ausschnitt aus dem Leben der 18-jährigen Ich-Erzählerin Manod Llan. Sie lebt mit ihrem Vater (der durchgehend “Tad” genannt wird), einem Küstenfischer und ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester Llinos in einer der wenigen bewohnbaren Steinhütten der Insel, die Mutter ist vor Jahren verstorben. Insgesamt setzt sich die spärliche Insel-Bevölkerung aus 15 Männern, 20 Frauen und 12 Kindern zusammen. Sie leben vor allem von der Fischerei. Das Leben geht seinen gewohnten Gang, bis im Herbst 1938 ein Wal strandet und die abergläubischen Bewohner:innen der Insel in Aufruhr versetzt. Auch für Manod, die von einem Leben auf dem Festland träumt, aber ihrer Schwester zuliebe noch auf der Insel bleibt, verändert sich etwas in dieser Zeit: Die englischen Forschenden Edward und Joan kommen für einige Monate auf die Insel, um für ein Buch ethnologische Studien zu betreiben. Manod soll ihnen als Assistentin und Übersetzerin aus dem Walisischen dienen. Doch die beiden Fremden werden bald mehr als nur Arbeitgebende für Manod. Wird sie mit ihnen zusammen ihre Heimat für immer verlassen?

Dieser Roman ist Eskapismus pur!  Ein anspruchsvoller Urlaub im Kopf, der uns in eine geografische und historische Abgeschiedenheit versetzt, die ihresgleichen sucht. Schon lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, der derart stark Szenerien und das gesamte Setting in meinem Kopf hat lebendig werden lassen, wie dieser hier. Also nicht in dieser Intensität. Nach und nach lernen wir die Topographie der Insel kennen. Ihre Mythen und Geheimnisse, ihre Gerüche und Geschmäcker, die maritime Flora und Fauna. Was auch absolut passend und für mich sehr angenehm war, war der “collageartig-episodenhafte” Erzählstil. Die anekdotenhaft geschilderten Erinnerungen von Manod werden immer wieder von den Aufzeichnungen von Joan und Edward unterbrochen. Außerdem von den Berichten der Insulaner zu verschiedenen Begebenheiten, Erinnerungen, Märchen und Sagen sowie sonstigen die Insel betreffenden Themen. Diese sind im Berichtsstil (mit Datum und erzählender Person) zwischengeschoben und unterfüttern bzw. unterbrechen quasi die von Manod erzählte Handlung.

Wer gerne in literarischer Symbolik schwelgt, ist hier ebenfalls nicht fehl am Platz. Llinos verkörpert die Natur, sie ist eins mit ihr. Sie spricht nur Insel-Walisisch, weigert sich zunächst sogar, Englisch zu lernen. “Llinos liebte die Insel anders als ich.” Während die jüngere Schwester also für die Ursprünglichkeit steht, vertritt Manod die Fortschrittlichkeit und Modernität, also letztlich die Zugewandtheit zur Welt außerhalb der Insel. Sie möchte auch kein traditionelles Dasein als Fischerehefrau führen, weswegen sie die Verkupplungsversuche ihres Vaters mit den wenigen heiratsfähigen Männern der Insel ablehnt. Edward und Joan bringen die Kultiviertheit des Festlandes, aber auch seine Probleme (Faschismus, drohender Krieg) sowie Wissenschaft und Technik mit auf die Insel. Und dann ist da natürlich noch der riesige Wal, der nach der Strandung sehr schnell kein lebendiges Wesen mehr ist. Im Laufe der Handlung wird immer wieder über den Zustand des Walkadavers berichtet, der nach und nach verwest und immer mehr eins mit der ihn umgebenden Natur wird. Sein Verfall zeigt möglicherweise auch, dass das Einssein der Insulaner mit der Natur ihrem Ende entgegen geht und sie bald evakuiert werden müssen.

In diesem Roman geht Nature Writing eine perfekte Symbiose mit einer berührenden Coming-of-Age Geschichte ein, in der es um falsche Erwartungen und schmerzhafte Zurückweisung geht. Und am Ende steht doch die Hoffnung, die uns leben und weitermachen lässt. 

Ich habe schon einige andere Eindrücke gelesen, die mangelnden Tiefgang oder eine unspannende Handlung kritisieren. Beides kann ich persönlich nicht bestätigen, für meinen Geschmack ist dieser Roman einzigartig und perfekt. Ein wunderbares maritimes Buch, das ich euch allen von Herzen empfehlen kann.

Herzlichen Dank an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar!

Mittwoch, 15. Mai 2024

"Das Gegenteil von Erfolg" von Eleanor Elliott Thomas


Es ist nicht alles Gold, was glänzt…

In “Das Gegenteil von Erfolg”, dem Debütroman der australischen Autorin Eleanor Elliott Thomas (übersetzt von Claudia Voit) geht es um eine Frau, 39, namens Lorrie. Sie lebt mit ihrem Mann Paul in einer Vorstadt von Melbourne und arbeitet seit vielen Jahren bei der Stadtverwaltung. Sie hat zwei Mädchen (2 und 6 Jahre) und eigentlich könnte ihr Leben glücklich sein. Aber das ist es nicht, denn sie versucht als Working Mom zwischen Job und Familie hin- und her zu jonglieren, wie so viele Frauen um die vierzig das müssen. Bei der Stadtverwaltung leitet sie ein Projekt namens “Green Cities”, wo es um Stadtbegrünung geht und dabei arbeitet sie mit dem zwielichtigen Geschäftsmann Sebastian Gulp zusammen, der das Projekt finanzieren soll. Das wiederum stößt ihrer besten Freundin, der Dokumentarfilmerin und Künstlerin Alex, sauer auf, die Kontakte zu einer radikalen Umweltgruppe hat, die es genau auf diesen Sebastian Gulp abgesehen hat. Und dann kommt es auch noch zu Liebesverwirrungen rund um Ruben, den Anwalt von Gulp und Lorries Ex-Freund und um dessen Frau Zoe…

Die eigentliche Handlung dieses Romans passiert an nur einem einzigen Tag. Allerdings geschieht das hier nicht auf die experimentell-kunstvolle “Ulysses”-Art und Weise. Die sehr karge und unspektakuläre, nach hinten raus auch sehr an den Haaren herbeigezogene, Handlung wird durch erzählte Erinnerungen der beiden Protagonistinnen Lorrie und Alex unterfüttert. Es wird also viel mehr erzählt als gezeigt, was ja eher ein Indikator für Trivialliteratur ist. Mich persönlich hat auch gestört, dass überhaupt nicht auf die Jahreszeit eingegangen wird, in der sich das Ganze abspielt. Aber das ist nur ein persönlicher Spleen von mir. Ich brauche einfach eine jahreszeitliche Einordnung des Geschehens, für andere mag das irrelevant sein.

Die Protagonistin Lorrie hat mich oft an eine australische “Mama-Version” von Bridget Jones denken lassen: Sie kämpft mit ihrem Gewicht,  den Ungerechtigkeiten der Lohnarbeit, den Meinungen ihrer Mutter und ganz allgemein den gesellschaftlichen Erwartungen, hat aber anders als die “Ursprungs-Bridget” bereits die perfekte Familie, wie sie es nicht müde wird zu betonen. Ihr Erzählstrang ist bemüht witzig, manchmal habe ich zwar leicht geschmunzelt, oft war mir die versuchte Komik aber einfach unangenehm und eher was zum Fremdschämen (und ich mag Humor eigentlich, wenn er gut ist). Denn es geht ins Slapstickhafte, zum Beispiel wenn sie die ganze Zeit ihren “perfekten” Kollegen Harry wegen seiner “Minihände” bodyshamed - und das obwohl sie selbst von ihrer eigenen Mutter gebodyshamed wird und das gar nicht lustig findet. Außerdem hat mich ihre ganze Charakterisierung gestört: Als Kind hochbegabt (come on…), aber betont ständig, dass sie eine Versagerin ist, weil sie u.a. als Teenie nach kurzer Zeit aus ein paar Jobs geflogen ist, weil sie zu gutmütig und naiv war. Und eben (Spoiler) die Stelle als Teamleiterin bei der Stadtverwaltung nicht bekommt. Andererseits genießt sie es, Mutter zu sein und sagt, dass das ihrem Leben einen kompletten Sinn gäbe. Für mich haben sich ihre Positionen oft widersprochen, so als hätte die Autorin nicht aufgepasst was Lorrie in einem früheren Kapitel von sich gegeben hat.

Alex hingegen ist eher die bisexuelle Melbourne-Version von Carrie Bradshaw aus “Sex & the City” - ein künstlerischer Freigeist, der noch nach der richtigen Beziehung, Berufung und eigenen Identität sucht. Ihre Storyline hat mir etwas besser gefallen, weil sie weniger stark überzeichnet war und ihre Persönlichkeit nicht so widersprüchlich rüberkam wie Lorries.

Ich habe das Gefühl, in diesem Roman wurden Themenkomplexe wie Queerness und Klimawandel als Aufhänger benutzt, um im Grunde die Geschichte einer frustrierten “Normalo-Frau” (nichts gegen “Normalo-Frauen”) zu erzählen. Ich möchte jetzt nicht direkt Greenwashing und Queerbaiting unterstellen, aber das Ganze hat so ein “Gschmäckle”, wie man im Schwäbischen sagt. Leider kann ich euch den Roman nicht empfehlen. Selbst als leichte Chicklit, die ich früher durchaus öfter gelesen habe, hat es für mich nicht funktioniert, da im Ganzen zu bemüht und gewollt und literarisch eben einfach nicht gut.

Ein Wort muss ich leider noch über die Goldfolierung des Buchcovers verlieren. Leider hat sich diese bei mir sowohl vorne, als auch hinten, als auch am Buchrücken abgelöst. Deshalb die Warnung, das Lesen dieses Buches kann zu “goldenen Händen” führen, muss aber nicht (ich habe jetzt sowohl von mehreren Leser:innen gehört, bei denen es auch so war, als auch bei solchen, bei denen es nicht so war). Ein sehr freundlicher und positiver Austausch mit dem Dumont-Verlag zu diesem Thema fand ebenfalls statt. Herzlichen Dank dafür.

Herzlichen Dank an Lovelybooks und natürlich Dumont für das Rezensionsexemplar!



Sonntag, 12. Mai 2024

"Convenience Store Woman" von Sayaka Murata

“Convenience Store Woman” - ein hochgelobter Kurzroman der japanischen Bestseller-Autorin und Literaturpreisträgerin Sayaka Murata (*1979). Auf Deutsch als “Die Ladenhüterin” beim Aufbau Verlag erschienen. Ich habe die englische Übersetzung von Ginny Tapley Takemori (Granta Books) gelesen.

Es geht um die Protagonistin und Ich-Erzählerin Keiko Furukura, 36, die seit 18 Jahren in einem Convenience Store, auf Japanisch Konbini, arbeitet, die es in Japan an jeder Ecke gibt. Sie ist dort angestellt, seit es den Store gibt und die einzige Mitarbeiter:in, die seit Anfang an dabei ist. Ihr geplantes Studium hat sie nicht weitergeführt und nie woanders gearbeitet. Ihr Privatleben ist ähnlich unspektakulär: Während ihre jüngere Schwester bereits Mann und Kind hat, hatte Keiko noch nie eine Beziehung oder s*xuelle Erfahrungen. Auch war sie noch nie verliebt und hat nur eine einzige Freundin (Miho). Sie lebt in einem bescheidenen Einzimmerappartement und arbeitet 5 Tage die Woche im Store. Ihr Alltag plätschert so dahin, bis eines Tages eine Aushilfe namens Shiraha ihr bislang unaufgeregtes Leben durcheinander wirbelt.

Keiko ist wenig empathisch bzw. kann sich in andere nur schwer einfühlen. Ihre Emotionslosigkeit ist aber nicht nur auf andere bezogen, auch in ihrem Inneren sind starke Gefühle kaum auszumachen. Zudem kommt, dass sie nicht weiß welche Reaktionen in bestimmten gesellschaftlichen Situationen von ihr erwartet werden. Soziale Konventionen sind ihr nur insoweit nicht fremd, sofern sie sich auf ihre über Jahre perfektionierten Tätigkeiten im Store beziehen. 

Sehr kunstvoll gemacht finde ich die Tatsache, dass Keiko quasi mit ihrem Umfeld “verschmilzt”, also immer mehr ein Teil vom Convenience Store wird - quasi Mimikri. Sie adaptiert nicht nur den Sprachduktus ihrer Kolleg:innen, sie kauft ihre Kleidung auch bei dem Laden ein, bei dem ihre Kollegin Mrs. Izumi einkauft, weil sie denkt, dass Frauen in ihrem Alter sich so kleiden müssen, um sich ihrer gesellschaftlichen Umwelt anzupassen.

Für Keiko bedeutet die Monotonie der immer gleichen Handlungen, die im Store ausgeführt werden, die ultimative Form von Sicherheit. Sie möchte ihr Leben gar nicht wirklich ändern, obwohl fast alle Außenstehenden das von ihr erwarten. Einzig das Altern schreckt sie, denn dadurch ist ihrer sinnvollen Tätigkeit ein absehbares Ende gesetzt.

Dieses Buch ist ein Statement, weil es die Wertigkeit von “prekären” und von der Gesellschaft als niedrig eingestuften Arbeitsverhältnissen betont. Auch Mitarbeiter:innen in Convenience Stores sind ein wichtiges Rad im gesellschaftlichen Gefüge. Der Roman ist zudem autofiktional. Auch Sayaka Murata hat 18 Jahre in einem Konbini gearbeitet, bevor sie sich Vollzeit dem Schreiben widmete. Zudem hat mir gefallen, dass endlich mal das Thema “Erwachsene ohne Beziehungserfahrung” literarisch verarbeitet wurde. Oft fühlen sich diese Menschen als Außenseiter:innen, unansehnlich und nicht liebenswürdig. Es ist gut, dass das Thema mal angesprochen wird, gerade in unserer s*xualisierten Gesellschaft, in der Erwachsene ohne entsprechene Erfahrungen oft stigmatisiert werden und sich nicht trauen sich zu outen. 

Alles in allem ein sehr guter Kurzroman, der zum Nachdenken anregt. Empfehlung!


Freitag, 10. Mai 2024

"Love me Tender" von Constance Debré


“Homosexualität bedeutet für mich einfach Urlaub von allem.” (S. 27)

Die 47-jährige Ich-Erzählerin des Romans “Love me Tender” (Aus dem Französischen von Max Henninger, Matthes & Seitz Berlin) von Constance Debré erfindet sich komplett neu. Wie Phönix aus der Asche taucht sie aus ihrem konventionellen Pariser Leben mit Mann, Sohn und prestigeträchtigem Job als Strafverteidigerin auf: “Von nun an bin ich ein einsamer Cowboy.” (S. 21). Sie häutet sich wie eine Schlange, wird extreme Minimalistin, Großstadtnomadin, steigt sexuell komplett auf Frauen um und schreibt ein Buch - über sich und ihre Sicht der Dinge.

Es handelt sich hierbei um einen autofiktionalen Roman. Nicht nur ist Constance Debré (geboren 1972) auf dem Cover abgebildet, die Biographie der Autorin und der Ich-Erzählerin überschneiden sich komplett: Erfolgreiche Anwältin aus prominenter französischer Familie (Mutter adeliges Model, früh verstorben, Vater Journalist mit Kontakten in höchste Staatskreise), verheiratet, mit Sohn, legt ihr altes Ich ab, wird Schriftstellerin und schläft mit Frauen. Dabei kämpft sie um das Sorgerecht für ihren Sohn, das ihr aufgrund von Anschuldigungen ihres Ex-Mannes ihren Lebenswandel betreffend entzogen wird.

Die Ich-Erzählerin hat eine sehr nüchterne Weltsicht, man könnte schon sagen, desillusioniert. Sie sagt sich von allem los, was nach Angepasstheit aussehen könnte, steigt komplett aus aus dem Hamsterrad des Gewöhnlichen. Das Leben als kurzweiliges Abenteur, das herkömmliche humanistische Ideale wie Liebe, Familie und Sicherheit nicht mehr nötig hat. Die Ich-Erzählerin macht sich viele Gedanken zum Thema Mutterschaft und wie viel Unfreiheit in dieser liegt. Sollte man sich nicht auch von der Familie oder dem eigenen Kind “trennen” dürfen? “Du darfst mich hassen. Das ist sogar ein Erfordernis der Liebe, zu hassen. Es gibt keine Liebe ohne Hass. [...] Ein Kind muss seine Eltern hassen, vor allem ein Sohn seine Mutter.” (S. 67)

Natürlich spielen auch konventionelle Rollenbilder und deren radikale Ablehnung durch die Protagonistin, auch bei ihren gleichgeschlechtlichen Affairen, eine große Rolle. Wir kennen das Narrativ “Frau, gefangen im bürgerlichen Leben, die in ihren mittleren Jahren plötzlich ausbrechen will” von anderen französischen Autorinnen wie Leïla Slimani oder Maria Pourchet. Debré präsentiert sozusagen die queere Variante des Stoffes, allerdings erzählt sie auch ihre eigene Geschichte, was das Ganze sehr besonders macht.

Ich mag die erzählerische Kraft und Intensität, die in diesem schmalen, unaufgeregten Werk steckt, unglaublich gerne. Die Ich-Erzählerin reduziert sich nicht nur auf das unbedingt Notwendige in ihrem Leben, sondern sie wählt auch die Worte, die sie benutzt, um uns von ihrem Schmerz und Triumph zu erzählen, sehr sorgfältig aus: kondensiert, clean, kathartisch. Ein Buch, das mich sehr begeistert und überrascht hat und das man sicher mehr als einmal lesen kann. Ich hoffe sehr, dass auch die anderen Bücher der Autorin bald auf Deutsch erscheinen werden, sonst muss ich mich auf das Abenteuer “lire en Français” einlassen. Unbedingte Empfehlung. 

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Dienstag, 7. Mai 2024

"Trophäe" von Gaea Schoeters

Im Herzen der moralischen Finsternis

"Hoch über ihren Köpfen gleitet geräuschlos eine weiße Eule über den schwarzen Himmel. Ein Schatten. Ein Geist. Ein Vorbote des Todes. Niemand bemerkt sie.” (S. 158) - Gänsehaut!

Es wird schwierig, diesen außergewöhnlichen Roman “Trophäe” von Gaea Schoeters (aus dem Niederländischen von Lisa Mensing) zu besprechen. Nicht nur hat die halbe Buchwelt ihn bereits gelesen und gefeiert, sondern ich war auch bei einer Lesung der Autorin und habe ihre Worte dazu noch sehr genau im Ohr. Sich ganz davon zu lösen scheint mir nahezu unmöglich - und vielleicht auch nicht nötig - aber ich möchte gern hauptsächlich eigene Worte finden, um dieses ganz besondere Buch zu rezensieren.

Hunter White, der Name ist Programm und Parabel zugleich, ist gefährlich. Er ist gefährlich, weil er sich seinen eigenen moralischen Kodex zusammengestellt hat. Eine Sicht der Dinge, die mit einer humanen Ethikvorstellung nicht mehr viel zu tun hat: “ Wenn Ranger Wilderer erschießen, ist das [...] erlaubte Notwehr; wenn Wilderer auf Ranger schießen, ist das Mord.” (S. 57). Er glaubt, nur er habe die Lizenz zum Töten, zumindest zum Töten des von ihm mit einem 6-stelligen Betrag “bezahlten” Nashorns. Der Jäger aus der westlichen Welt, der eigentlich Börsenspekulant und Immobilienmagnat ist, kommt nach Afrika und erkauft sich beim zwielichtigen Ranger Van Heeren schlicht und einfach das Recht, eines der in Afrika heimischen Tiere, ein Spitzmaulnashorn, zu jagen. Er will seine “Big Five” vollmachen. Doch der Schuss geht im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten los. Um seine Frustration zu bekämpfen, sucht er sich ein neues Ziel aus und zwar eines, das noch viel fragwürdiger erscheint: einen indigenen Jäger…

Obwohl ich seit Kindheit Vegetarierin bin und mit Jagd nichts am Hut habe, bin ich schlicht und einfach fasziniert von diesem Buch, in dem es eigentlich nur ums Töten geht. Obwohl ich an manchen Stellen den Würgereiz kaum unterdrücken konnte, konnte ich das Buch dennoch kaum aus der Hand legen. Paradox, aber genau das leistet gute Literatur, nämlich dass man plötzlich eine völlig andere Position einnehmen kann als die eigene. Wie die Autorin es geschafft hat, den afrikanischen Busch und die dortigen Vorgänge von ihrem belgischen Schreibtisch aus zum Leben zu erwecken, ist aller Ehren wert. Sie hat, so sagt sie und so wird es in “Trophäe” mehr als deutlich, sehr viel und gründlich recherchiert: Wann jagen Skorpione (nicht bei Vollmond), können Laufkäfer rückwärts laufen (nein), welche Savannengeräusche sind zu welcher Tages- und Nachzeit hörbar, wie greifen die bestimmten Tierarten an und wie gefährlich sind sie. Die Liste ist beliebig erweiterbar. 

Die Welt der indigenen Jäger zu “erlesen” war eine ganz besondere Erfahrung, die wohl wenig Außenstehende in der Realität wirklich zu sehen bekommen. Sie tanzen im Buch andere Tänze als für die zahlenden weißen Touris. Die metaphysische Komponente des Romans hat mich gleichermaßen irritiert und fasziniert, wenn auch aus einer sehr nüchternen Beobachter-Perspektive heraus. Tanz, Trance und Träume: “Niemand ist noch jemand, niemand ist noch er selbst, jeder ist jeder und alle sind eins.” (S. 158) Auch Hunter wird von Erinnerungen heimgesucht, vor allem an seinen Vater und Großvater, die selbst Jäger waren. Ihre Erfahrungen und Jagd-Geschichten vermischen sich mit der afrikanischen Realität und Umwelt vor seinen Augen: Tagträume, Halluzinationen.

Hunter ist, so sagte die Autorin, eher eine Parabel als ein realitätsnaher Protagonist. Deswegen auch der plakative Name Hunter White. Er steht für etwas, für den “White Gaze”, also die weiße Sicht auf Afrika, natürlich extrem zugespitzt. Auch seine Frau, die als Charakter nur ganz am Ende kurz auftaucht, aber in Hunters Gedankenwelt eine größere Rolle spielt, kommt mir sehr überzeichnet vor. Ihre Schrumpfkopfsammlung und Vorliebe für Mumien ist schon sehr bizarr und ich kann mir keinen weiblichen (vernünftigen)  Menschen vorstellen, der wirklich so einer morbiden Leidenschaft nachgeht. 

Als mir die Autorin nach der Lesung das signierte Buch überreichte, sagte sie mit einem Augenzwinkern: “Ich würde ja sagen ‘viel Spaß’, aber…”. Nein, Spaß im herkömmlichen Sinne hat man beim Lesen dieses Buches sicher nicht. Schoeters spielt mit unseren Moralvorstellungen und bringt uns an die Grenzen des Erträglichen. All das in einer glasklaren Erzählweise, in der kein Wort überflüssig ist. Ein faszinierender Roman, den sicher keiner, der ihn liest, je vergessen wird. 


Samstag, 4. Mai 2024

"Die Brontës gingen zu Woolworths" von Rachel Ferguson


“Vor drei Jahren wurde mir ein Heiratsantrag gemacht. Obgleich ich denjenigen wirklich gernhatte, konnte ich seinen Antrag nicht annehmen, denn ich war gerade in Sherlock Holmes verliebt. Der Meisterdetektiv, seine Persönlichkeit und sein Verstand weckten damals so heftige Gefühle in mir, dass kein lebender Mann damit konkurrieren konnte.” (S. 12)

Ihr werdet jetzt vielleicht sagen: Ja gut, im Zeitalter von “Bookboyfriends” (und “-girlfriends”) nichts Neues, ich war auch schon schwer verliebt in so ein fiktives Exemplar. Aber diese Worte spricht die 20-jährige Ich-Erzählerin Deirdre im Roman “Die Brontës gingen zu Woolworths” von Rachel Ferguson. Er erschien im Jahr 1931, wurde aber erst 2023 von Sabine Reinhardus für den Nagel & Kimche-Verlag ins Deutsche übersetzt. Eine wiederentdeckte Klassikerin sozusagen.

Dieser Roman ist verrückt - anders verrückt. Die Familie Carne besteht seit dem Tod des Vaters aus der Mutter, Mrs. Carne und ihren drei Töchtern Katrine, Schauspielerin, Deirdre, Journalistin und der jungen Sheil, die von einer Hauslehrerin unterrichtet wird. In ihrem Londoner Stadthaus haben sie sich ihre eigene Fantasiewelt erschaffen: Sie spielen Rollenspiele, imitieren (berühmte) Persönlichkeiten und werfen sich gegenseitig Insider-Witze zu. Sie haben sich eine fiktionale Bubble aufgebaut, die für Außenstehende schwer zu durchdringen ist. Eine der “Obsessionen” der Familienmitglieder ist der ältere, kürzlich zum Ritter geschlagene Richter Sir Herbert Toddington, den die Mutter Mrs. Carne bei Gericht kennenlernte, als sie dort als Geschworene tätig war. Die Familienmitglieder nehmen ihn als Figur in ihre fiktive Welt mit auf. Doch als sie ihn und seine Frau Mildred wirklich kennenlernen und Umgang mit ihnen pflegen, steht der von der Familie Carne selbstgesponnene Kokon aus Fiktionalität plötzlich auf dem Kopf. Und als sie bei ihrem Familienurlaub in Yorkshire im Rahmen einer Séance die Brontë-Schwestern “treffen”,
haben die Carnes plötzlich mehr Besucher:innen, als ihnen lieb ist…

Die Außenansicht auf die Familie Carne liefert die nüchterne und pflichtbewusste Hauslehrerin Agatha Martin. Sie kann mit der exzentrischen Art der Familie, für die sie arbeitet, so gar nichts anfangen und lässt sich in Briefen an die eigene Familie über deren Kapriziosität aus. Wir als Lesende sind sicher an vielen Stellen ähnlich verwundert wie die Gouvernante und froh, dass wir nicht wie Ms. Martin mit der Familie Carne zusammenleben müssen.

Das Buch ist dialoglastig, skurril, witzig und - für einen klassischen Roman - total abgedreht. Ein Text, der mich sehr überrascht und stellenweise verwirrt hat. Ein quirliges Kuddelmuddel an intertextuellen und kulturhistorischen Referenzen, das aber sicher seine moderne Leserschaft finden wird. Hat Spaß gemacht!


Donnerstag, 2. Mai 2024

Realtalk: Bloggerboxen und Rezensionsexemplare


Realtalk Bloggerboxen/Rezensionsexemplare: Ich habe nochmal, auch angeregt durch eure wertvollen Kommentare (vielen Dank) zu meinem letzten Realtalk, über das Thema intensiver nachgedacht, also vor allem über die Boxen, die Buch-Blogger:innen mit einer gewissen Followeranzahl (meist ab 1500) bekommen. Meistens machen die Blogger:innen ein Unboxing, in dem sie sich für die Box bedanken und erzählen, wie toll sie ist und wie gespannt sie auf das Buch sind. Einige Zeit später folgt dann meist die Rezension. Das soll Aufmerksamkeit für das Buch schaffen. Soweit, so unangenehm. Denn warum kann Literatur nicht mehr für sich selbst stehen? Braucht es für die Blogger:innen, die diese Boxen bekommen, einen zusätzlichen Anreiz, das Buch zu lesen und vorzustellen? Warum denken die Verlage, dass gerade diese Bücher zusätzliche Promotion brauchen? 

Klar könnte man darüber nachdenken, ob Rezensionsexemplare an sich (ohne Box) auch die Meinung beeinflussen. Würde man das Buch lesen, wenn man es nicht als Rezensionsexemplar erhalten hätte? Ich kann nur für mich sprechen: Ich beziehe die meisten Rezensionsexemplare seit vielen Jahren über vorablesen (herzlichen Dank an dieser Stelle) oder lovelybooks, wo es ohnehin eine Verlosung ist. Das finde ich fair und so können auch Leser:innen, die nicht direkt bloggen, an Rezensionsexemplare kommen. Aber ich bewerbe mich natürlich nur, wenn mich ein Buch aufgrund der Leseprobe wirklich interessiert. Alles andere wäre ja kontraproduktiv, denn ich muss das Buch ja lesen und rezensieren. Das trifft auch auf die wenigen Bücher zu, die ich direkt bei einem Verlag (kommt fast nie vor, weil ich dafür auch für die meisten zu klein bin und diese oft erst ab 1000 IG-Follower:innen mit Blogger:innen zusammenarbeiten), einer Agentur wie Buchcontact bzw. dem Bloggerportal (auch hier herzlichen Dank, denn die meisten Bücher bekomme ich seit Jahren trotz “weniger” Follower:innen) anfrage. Die allermeisten Bücher kaufe ich mir selbst und kleinere Verlage will ich sowieso unterstützen, da würde mir gar nicht einfallen, um ein Rezensionsexemplar zu bitten. (Außer, es wird mir explizit angeboten von den Autor:innen oder Verlagen). Diese Info nur, um es für euch transparenter zu machen, wie ich bezüglich meiner Rezensionen von außen unterstützt werde. Ich bin sehr dankbar dafür.

Aber zurück zu den Bloggerboxen. Was löst das in uns “Nicht-Begünstigten” aus, wenn andere ihre Bloggerboxen in die Kamera halten? Wollen wir unbedingt zum Buchladen rennen und uns das Buch besorgen? Auch wenn wir es nicht umsonst mit Postkarten, Tote-Bag und Tasse mit Covermotiv bekommen? Denn diese Goodies sind natürlich exklusiv, nur die Auserwählten bekommen sie. Nachkaufen bei Gefallen: Meist nicht möglich, denn sie wurden im Regelfall exklusiv für die Boxen produziert. Ein Produkt nur für Auserwählte. Und auserwählt wird man nur, wenn man eine gewisse Reichweite hat - that's the game.

Dass das alles bei vielen eher doch ein wenig Neid und Ablehnung auslöst, dürfte auf der Hand liegen. Manche mag es auch völlig kalt lassen. Bei mir ist dieses neidvolle Unbehagen allerdings meistens nicht auf die Box selbst gerichtet, weil ich die meisten Bloggerbox-Bücher nicht gerne lesen würde (ich sehe den Zusammenhang zwischen in Wahrheit eher mittelmäßiger Literatur und Bloggerbox immer stärker), sondern tatsächlich auf die Likes und Kommentare der (größeren) Verlage, die es natürlich toll finden, wenn man das Unboxing und die Rezension, die sich aus der “liebevoll gepackten” Box ergeben, auch posted. Ich habe es schon an der ein oder anderen Stelle und auch im letzten Realtalk erwähnt, will es aber noch ein letztes Mal wiederholen: Kleinere Blogger:innen wie ich können von Likes und Kommentaren der großen Verlage (kleinere Verlage sind da oft ganz anders und bei diesen bedanke ich mich an dieser Stelle dafür, dass sie sich auch für die kostenlose Werbung für ihre Bücher mit Likes, Comments und Shares bedanken ❤) oft nur träumen. Und dabei sind es genau diese Verlage, die oft mehrere Angestellte haben, die sich nur mit Social Media befassen und man könnte eigentlich meinen, dass die auch mal die Posts durchschauen, in denen sie getagged werden. So viele werden das pro Tag (zumindest bei deutschen Verlagen) auch nicht sein. Aber nein, hat man die erforderliche Reichweite nicht, kann man noch so gute Rezensionen schreiben, man wird meist ignoriert. (Positive Ausnahmen gibt es aber natürlich wie den Suhrkamp und den Hanser Verlag).

Und da kommt doch eine gewisse Frustration auf, denn auch wenn das Buchbloggen ein freiwilliges Hobby ist, man investiert doch seine Zeit und einiges an Herzblut. Und ich muss nicht mit Geschenken überschüttet werden, damit ich ein Buch lese. Aber ein freundliches Wort, das motiviert - zumindest mich - ungemein. Hierbei auch vielen Dank für all eure Kommentare. Jedes positive Wort wird von mir geschätzt und ich bedanke mich ganz herzlich für all euren Support, in welcher Form auch immer! ❤️

Zusammengefasst: Ich finde, die Verlage tun sich mit dem doch recht “aggressiven" Marketinginstrument Bloggerbox keinen wirklichen Gefallen und fördern damit den Konkurrenzkampf und die Ungleichbehandlung unter Bloggenden. Letztlich sind die großen Verlage in der Buchbubble wie die antiken Götter, die ihre Gunst durch die Bloggerboxen zeigen. Und die Gunst fällt nur auf die, die genug Follower:innen haben, alle anderen werden weitgehend ignoriert, egal ob sie Werbung in Form von Rezensionen und Buchtipps machen oder nicht. Für mich ist das Kapitalismus und eine Form von (mir fällt kein besseres Wort ein) “Vetternwirtschaft”. Wir müssen zurückkommen zu einer weniger kapitalistisch ausgerichteten Form von Literaturbewertung. Denn: Es zählt doch eigentlich nur das, was zwischen zwei Buchdeckeln steht und genau das sollten wir letztendlich bewerten.