Mittwoch, 31. Januar 2024

"Shmutz" von Felicia Berliner

Wenn Literatur originell ist, hat sie bei mir schon mal einen Stein im Brett. Ich mag Romane, die Themen behandeln, über die ich so noch nie zuvor etwas in fiktionaler Form gelesen habe. Über das Thema Pornosucht habe ich definitiv noch nichts gelesen - auch nicht aus der naheliegenderen männlichen Perspektive - und auch bisher kein Buch, welches das chassidische Judentum so in den Fokus rückt wie “Shmutz” von Felicia Berliner, übersetzt von Hanna Hesse, erschienen im Atlantik Verlag.

Der Roman spielt im New York der frühen 2010er Jahre. Die Protagonistin Raizl ist 18 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern, ihrem Großvater und drei ihrer vier Geschwister in einer Wohnung in Brooklyn. Sie entstammt einer Familie chassidischer Juden, die eine ganz eigene mystifizierte und strenge Religiosität leben. Es ist schwierig hier durchzusteigen und ich war dankbar für das Glossar im Anhang, das die meisten jiddischen bzw. chassidischen Begriffe erklärt hat. Jedenfalls ist dieser Zweig des Judentums ultra konservativ, d.h. v.a. Frauen sind dem Mann untergeordnet, es wird nicht gern gesehen, wenn sie gebildet sind oder arbeiten gehen. Auch suchen die Eltern - oft mithilfe von Heiratsvermittler*innen - die geeigneten “matches” für ihre Kinder aus. Für uns in der heutigen Zeit eigentlich unvorstellbar. Der noch unverheirateten Raizl sind allerdings Geld verdienen und Bildung bis zu ihrer Hochzeit erlaubt. Das Geld, das sie als Buchhalterin im Unternehmen einer Rebbes(Rabbiner)-Witwe verdient, muss sie an die Familie abgeben, um die religiöse Ausbildung ihrer beiden älteren Brüder zu finanzieren. Die Eltern erlauben ihr widerwillig, für einige Semester das College zu besuchen, um ihre Kenntnisse in Buchhaltung zu vertiefen. Dafür benötigt sie einen Computer, der ihr nicht nur die Welt des unbegrenzt verfügbaren Wissens eröffnet, sondern auch die der Pornografie…

“Schmutz” ist durch die junge Protagonistin ein klassischer Coming-of-Age Roman mit einem ungewöhnlichen Thema. Das Thema Pornosucht wird hier enttabuisiert und bis ins kleinste Detail dargestellt, sowohl was die körperlichen Vorgänge in den Videos als auch die Masturbation der Protagonistin betrifft. Das weibliche Begehren wird in den Fokus gerückt.  Wenn man bedenkt, in welch konservativem Umfeld Raizl aufwächst, könnte der Kontrast größer nicht sein. Dieser Kontrast ist es, der den Roman so spannend und lesenswert macht. Auf die Schattenseiten der Internet-Pornographie wird im Buch ebenfalls eingegangen (Folter-SM-Pornos, Videos mit Minderjährigen). Die Botschaft: Das Internet kann traumatisieren, Pornos können eine falsche Vorstellung von Sexualität und Körperlichkeit vermitteln und sogar Gesetze, auch die der Moral, brechen.

Riazl ist hin- und hergerissen zwischen der schönen neuen Welt der Freiheit, die ihr sowohl das College als auch der PC ermöglichen und den strengen Regeln ihrer Religion. Obwohl Raizl sich z.B. während des Shabbes (Shabbats) nicht traut, ihren geliebten Computer hochzufahren, ist sie bei anderen heimlichen Akten der Rebellion gegen ihre chassidische Herkuft nicht so zimperlich. Als sich Raizl bei einem Foodtruck ganz selbstbewusst ein Schinkensandwich (oder war es ein Burger mit Speck?) kauft und dieses genüsslich verspeist, obwohl sie weiß dass es nicht koscher ist und als große Sünde gegen G'tt angesehen wird, habe ich stärker den Atem angehalten als bei der Beschreibung so manches Pornos im Roman. Auch der Kontakt mit nicht-chassidischen Mitstudent*innen wie der bisexuellen “Goth” Sam bleibt ihr Geheimnis. Raizl schält sich immer mehr aus ihrem Kokon, aber ihre Eltern, die von alldem nichts wissen dürfen, suchen nach wie vor nach einem geeigneten choßn (Bräutigam) für Ihre älteste Tochter. Raizl will aber keinen der Männer, weswegen ihre Eltern sie zu einer (nicht gläubigen jüdischen) Therapeutin schicken, der sie sich offenbaren kann. Auch was ihre Pornosucht angeht…

[Spoiler]

Was die Handlung angeht, so muss ich gestehen, hätte ich mir für Raizl eine andere Entwicklung der Dinge gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass sie aus dem strikten Korsett ihrer Religion gänzlich ausbricht und tatsächlich auf lange Sicht glücklich und frei leben kann. Stattdessen steht am Ende die unvermeidliche Hochzeit und mit ihr die Aufgabe des Computers, der für sie neben den Pornos auch ein Symbol der Freiheit war. Und wenn die Handlung schon so verlaufen musste, dann kommt das Ende des Romans für die Lesenden dem Ansehen eines Pornos gleich, bei dem keine Befriedigung erlangt werden konnte. Wir werden nämlich nicht erfahren, wie Raizl mit echtem Geschlechtsverkehr umgeht, also ob dieser der Realisierung ihrer Porno-Fantasien gleichkommt oder ob sie zu einem unglücklichen Sexleben in einer vermutlich lebenslangen Ehe verdammt ist. Wie Raizls Englisch-Profossor sagte: Endet das Stück mit einer Hochzeit, ist es eine Komödie und keine Tragödie. In welche Richtung sich Raizls Leben weiterentwickelt, erfahren wir leider nicht. Schade, ich werde sie vermissen. Viel Masl, das würde ich ihr wünschen, wenn sie nicht fiktional wäre.

Samstag, 27. Januar 2024

"One Night in Hartswood" von Emma Denny


Im Winter - vor allem in dem scheinbar endlosen grauen Teil nach Weihnachten - brauchen wir manchmal Bücher, die das Herz erwärmen und bei deren Lektüre sich der Intellekt und das Realitätsbewusstsein auch gerne mal ein wenig auf der Couch zusammen einmümmeln und abschalten dürfen. Ein solches Buch möchte ich euch heute empfehlen. Passenderweise findet die Handlung hauptsächlich Winter statt.

“One Night in Hartswood” von Emma Denny habe ich vor fast einem Jahr angefangen, aber mittendrin habe ich aufgehört, es zu lesen. Weil es mir nicht gefallen hat? Ganz im Gegenteil - ich wollte nicht, dass die Geschichte von Raff und Penn endete (und außerdem wollte ich ein Buchfoto mit verschneiten Bäumen machen und es war bereits fast Frühling). Ich wusste aber, dass ich spätestens im nächsten Winter zu dieser Geschichte zurückkehren würde, denn ich wollte natürlich dann doch wissen, wie sie endet. Et volià.

Die Handlung führt uns ins England des Jahres 1360, genauer gesagt nach Oxfordshire. Die Tochter von Lord Griffin Barden, Lady Cecily, soll in einer arrangierten Ehe William de Foucart, den nunmehr einzigen Sohn und Erben von Earl Marcus de Foucart heiraten. Zur Hochzeit mit dem ihr unbekannten Bräutigam wird sie von ihren Brüdern Ash, Titelerbe der Familie Barden, und Raff begleitet. Eine Nacht vor der Hochzeit verschwindet William de Fourcaut plötzlich. Raff wird u.a. dazu auserkoren, den entflohenen Bräutigam zu suchen und zurück in die Burg der de Fourcauts zu bringen. Im nahen Hartswood Forest (Wortspiel mit “Heart” ist hier sicherlich beabsichtigt) begegnet er einem Mann, der sich Penn nennt. In Wirklichkeit ist Penn William de Foucart, was er aber geheim hält. Mit einer erfundenen Geschichte überzeugt er Raff mit ihm zusammen die Gegend um die Burg und somit auch Hartswood Forest zu verlassen. Raff sucht weiter offiziell nach William. Auf der Flucht kommen sich die beiden Männer näher und schließlich entspinnt sich eine bittersüße Liebesgeschichte, über deren weiteren Verlauf ich nicht zu viel verraten möchte.

Dieser queere historische Liebesroman überzeugt mit seinen Charakteren. Raff und Penn sind einfach sympathisch, ihre Dynamik untereinander ist glaubwürdig, ihre Liebe fragil, bis sie immer stärker wird, ihre Psychen - vor allem die von Penn - sensibel und verletzlich. Ein bisschen "Spice" und Action (nicht nur die im Bett) gibt es auch (für alle, die das mögen 😉). Der schlagfertige Ash und die verständnisvolle Lily (Cecily) sowie Penns Schwester Jo sind klassische “Ally-Figuren”, die die Liebe von Raff und Penn supporten, als würde das alles nicht im Spätmittelalter spielen. Aber hier muss man wirklich ein Auge zudrücken, was die historische Glaubwürdigkeit betrifft, wenn man das Buch genießen will. “Mittelalterlich” hingehen verhält sich Penns Vater, Marcus de Foucart, der als ausgewachsener Sadist seine Machtposition, auch und vor allem seinem Sohn gegenüber, wo es geht, ausspielt. Selten so einen üblen Charakter gesehen (gelesen), nicht mal bei James Bond, wo die Schurken wenigstens Charisma haben. Ob er wohl ungeschoren davonkommt? 

Der Handlungsaufbau ist klassisch für einen Liebesroman: Schwierige Ausgangssituation, Kennenlernen im romantischen Umfeld, gegenseitiges Misstrauen und gleichzeitige Anziehung, gemeinsamer Weg (Reise) mit Annäherung, intimer Höhepunkt, Genießen der gemeinsamen Zeit, Probleme treten wieder in den Vordergrund, Auseinanderreißen der Liebenden, Happy End.
Es finden sich die altbekannten Tropes “Enemies to Lovers” in diesem Roman als auch das große Thema Wald als Safe Space und der Ort, wo man unterdrückte Sehnsüchte und Gefühle ausleben darf. Spätestens seit Shakespeares “Sommernachtstraum” gibt es in der Literatur dieses Motiv des Waldes als Zufluchtsort von unverstanden Seelen, wo das unterdrückte Unterbewusste endlich glänzen darf.

Für alle, die sich gerne mal auf Romantik einlassen wollen, Wald- und mittelalterliche Settings lieben und überhaupt gerne queere (Liebes-) Geschichten lesen, für die ist “One Night in Hartswood” die absolut richtige Winterlektüre. Für mich war sie das auf jeden Fall, obwohl ich um klassische Liebesgeschichten eher einen Bogen mache. Empfehlung!

Dienstag, 23. Januar 2024

"Denn dort oben ist der Ausblick doch viel schöner". Gedichte von Anja Ernsberger AE'89 mit Fotografien von Alex Lienerth


Wir Büchermenschen lieben Romane, Geschichten, die uns versprechen, uns für viele Stunden auf eine literarische Reise mitzunehmen, die nicht unsere ist, aber der wir vom Seitenrand aus staunend zusehen dürfen. Allzu oft übersehen wir dabei Gedichte. Dabei sind sie wie kaum eine andere literarische Ausdrucksform dazu in der Lage, unsere eigenen in den Tiefen unseres Selbst versteckten Gefühle ans Licht zu holen, sie für einen Moment zu kondensieren, um uns dann von diesem Gefühl befreit wieder in unsere jeweilige Realität zu entlassen. Lyrik ist in unserer schnelllebigen Zeit kein Massenphänomen, Gedichte zu lesen ist ein Einlassen auf die Langsamkeit der Wörter und ein Eintauchen in die Tiefe ihrer Bedeutung. 

Die Gefühle, Emotionen und Zustände, die Anja Ernsberger in ihrem Gedichtband “Denn dort oben ist der Ausblick doch viel schöner” (mit Fotografien von Alex Lienerth) in wunderschöne, bildreiche Worte und Satzgebilde einschließt, sind solche, die das Menschsein ausmachen. Die Kapitel sind überschrieben mit: Verlangen, Erfüllung, Sehnsucht, Suche, Fernweh, Stille, Neuanfang. Innerhalb dieser Kapitel sind ihre lyrischen Texte von großer Intensität, Intimität, Offenheit (auch was die Form betrifft) und Verspieltheit geprägt. Jede neue Seite ist überraschend anders als die vorherige - für die Lesenden eine lyrische Entdeckungsreise, bei der die vielzitierte Achterbahn der Gefühle scheinbar in deinem Innersten rotiert und ihr Dasein als abgenutzte Metapher ad acta legt. Wer diese Gedichte liest, der empfindet am eigenen Leib das Verlangen und die Sehnsucht der Verliebten (ob es queeres Verlangen ist oder nicht bleibt mysteriös und ist auch ganz egal, denn Liebe ist immer Liebe), der sieht mit Melancholie das fehlende Teil im Zahn des Vaters, der nicht mehr ist und spürt den eigenen Verlusten nach. Und so viel mehr. Es gibt in diesem Band nicht nur Gedichte und Fotos, sondern auch Prosa-Miniaturen, also kleine Erzählstücke, die ein Feeling wie z.B. das Verliebtsein in fluffig-leichten erzählenden Sätzen mit Tiefgang festhalten.

Gedichte sind in der Lage, Gefühle - auch unter Umständen nur sehr flüchtige - in Sprache zu bannen. Sie sind poetische Partys, die einen Augenblick feiern, der so nie wiederkehren wird. Auch Fotos, so sagt man, seien Momentaufnahmen. Die berührenden Texte von Anja Ensberger und die ausdrucksstarken Fotos von Alex Lienerth in diesem Buch gehen eine Symbiose ein, die darauf bedacht ist, das Flüchtige, das Momentane festzuhalten. Ein Fest für die Sinne, das ist dieser Band wirklich.

Die Lektüre dieser Gedichte fühlt sich an wie ein traurig-schöner, aufregender, diffuser poetischer Traum, nach dessen wohlig-warmer Umarmung man noch nicht in die reale Welt zurückkehren möchte. Danke liebe Anja, dass ich diesen deinen Traum ein wenig mitträumen durfte. Ein Traumrest bleibt bei mir zurück, vielleicht für immer.

Biografische Notiz: Anja Ernsberger ist ehemalige Leistungssportlerin (Handball) und lebt heute als (bildende) Künstlerin im Schwarzwald. Auf ihrem Künstlerinnen-Kanal @paintingae89 könnt ihr ihre bildende und poetische Kunst erkunden.

[Unbeauftragte Werbung, herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar]

Sonntag, 21. Januar 2024

"Midnight in Everwood" von M.A. Kuzniar

Eskapismus, Fantasy (in diesem Fall historische), Märchenwelt: Ich habe es mal wieder richtig nötig gehabt, in magische Welten abzutauchen. “Midnight in Everwood” ist ein Buch voller weihnachtlicher und winterlicher Motive und obwohl Weihnachten schon wieder einige Wochen her ist, ist es momentan eiskalt und verschneit - also genau das richtige Feeling für dieses Wintermärchen.

“Midnight in Everwood” ist angelehnt an das Ballett “Der Nussknacker” von Tschaikowsky, das wiederum auf Alexandre Dumas’ französischer Adaption des Märchens “Nussknacker und Mausekönig” vom deutschen Romantiker E.T.A. Hoffmann basiert. Die Autorin M.A. Kuzniar hat diesem Stoff nun eine weitere Adaption hinzugefügt, die mir wirklich sehr gefallen hat. Aus dem Kind Marie hat sie die 20-jährige Marietta gemacht, die im Jahr 1906 in Nottingham lebt. Sie kommt aus einer wohlhabenden geadelten Familie, ihr Vater Theodore Stelle ist ein hohes Tier in der Jurisprudenz. Obwohl es Marietta und ihrem Bruder Frederick (im Original von Hoffmann Fritz) an nichts Materiellem fehlt (sie leben in einem luxuriösen Stadthaus in Nottingham, haben noch einen Landsitz und zahlreiche Bedienstete, sowie ein Automobil), sind die beiden erwachsenen Kinder der Familie Stelle unglücklich. Beide möchten nicht in die gesellschaftlichen Korsetts gezwungen werden, in die ihre Eltern sie zwingen möchten. Frederick studiert Jura und soll beruflich in die Fußstapfen seines Vaters treten und außerdem eine standesgemäße Ehe eingehen. Er aber möchte Maler nach Art der Impressionisten sein und mit seinem Lebenspartner Geoffrey zusammenleben. Marietta hingegen ist Ballerina und ihr Lebenstraum ist es, das Tanzen zu ihrem Beruf zu machen. Doch ihre Familie möchte, dass sie eine Ehe eingeht und stellt ihr ein Ultimatum: Am diesjährigen Weihnachtsball der Familie darf sie mit ihrem Ballettkurs zum letzten Mal tanzen, danach muss sie im neuen Jahr, an dessen Schwelle sie 21 wird, dem Ballett für immer abschwören. Als potenziellen Heiratskandidaten hat sich die Familie den mysteriösen Dr. Drosselmeier, Arzt und Spielzeugmacher, der vor Kurzem ins Nachbarhaus gezogen ist, ausgesucht. Auch Drosselmeier ist von Marietta fasziniert, doch weil sie sich gegen eine Verlobung widersetzt, befördert er die Ballerina in eine verzauberte Winterwelt, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt…

Bei Fantasy muss das “Worldbuilding” stimmen und das hat hier gepasst, schon allein weil sich der Zuckerpalast, wo Marietta gefangen gehalten wird, sehr an die “Konfitürenburg” von Tschaikowsky anlehnt und der Wald von Everwood an den verschneiten Tannenwald, in den Klara und der Nussknacker-Prinz gelangen. Die von der Autorin neu geschaffenen Figuren und Handlungselemente fügen sich harmonisch in die übernommenen Motive der Vorlagen ein. Zusammen entsteht eine ganz neue Geschichte, die über ihren eigenen Charme und eine bezaubernde Märchenhaftigkeit verfügt. Besonders die Beschreibung der Bälle und des verschneiten Waldes haben es mir angetan. Man stolpert als Leser*in mit Marietta in diese Traumwelt und gerät so wie sie in ihren Bann, obwohl sie eine grausame Kehrseite hat. Dennoch erlebt sie Freundschaft und die große Liebe, die natürlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Mir gefällt auch, dass der Roman im historischen Teil eine queere Beziehung - Frederick und Geoffrey - behandelt, im  Fantasy-Teil gibt es eine positiv besetzte queere Nebenfigur. Feminismus wird als Topic ebenfalls groß geschrieben, mit Dellara und Pirlipata gibt es zwei starke Frauenfiguren, die für ihre Unabhängigkeit kämpfen (gespiegelt von Victoria und Harriet im historischen Teil). Ob Marietta am Ende ihren eigenen "Independence Day” feiern darf und in welcher Form, wird natürlich nicht verraten. Für alle, die gerne (historische) Fantasy und Märchen lesen, kann ich das Buch sehr empfehlen.

Donnerstag, 18. Januar 2024

"Männer töten" von Eva Reisinger

Der Roman “Männer töten” behandelt ein eklatant wichtiges Thema: Gewalt durch Männer an Frauen. Sprich: körperliche und sexuelle Gewalt bis hin zum Femizid. Aber es geht auch um psychische und mentale Gewalt, männlichen Narzissmus, Chauvinismus, Mansplainining, Antifeminismus und Homophobie. Ich habe keine Statistiken im Kopf, aber enorm viele Frauen werden im Laufe ihres Lebens Opfer einer der genannten Formen von Anfeindungen bzw. von psychischer und/oder physischer Gewaltanwendung. [Ich brauche hoffentlich nicht erwähnen, dass es auch im realen Leben Frauen gibt, die Männern Gewalt in oben genannter oder anderer Form antun. Nur ist dieser umgekehrte Fall wesentlich seltener.] Österreich gilt als trauriger Vorreiter, was die Gewalt von Männern gegenüber Frauen angeht. Ergo ist es sehr passend, dass dieses Thema von einer österreichischen Autorin aufgegriffen und von einem österreichischen Traditionsverlag verlegt wurde. 

In “Männer töten” rächen sich Frauen an den Herren der Schöpfung für die ihnen zugefügte Gewalt. In Engelhartskirchen, einem fiktiven oberösterreichischen Dorf, ticken die Uhren etwas anders: Hier gibt es eine Mädchenfußballmannschaft, die von “Fußballerinnenmüttern” angefeuert wird. Hier trägt eine Frau die Soutane des katholischen Pfarrers und führt sein Amt aus, als wäre es normal, dass eine Frau dies tut. Hier sind überdurchschnittlich viele Frauen, die an der  Hochzeit von Sabine und Josepha teilnehmen, verwitwet und noch mehr Männer abwesend oder sogar spurlos verschwunden…

Doch von alledem weiß die eigentlich in Berlin lebende Wienerin Anna-Maria, die 30-jährige Protagonistin des Romans, noch nichts, als sie zum ersten Mal ihren neuen Partner Hannes auf seinem Bauernhof in Engelhartskirchen besucht. Nach und nach beginnt die Fassade vom harmonischen Feministinnendorf zu bröckeln und auch Anna-Maria muss sich den männlichen Geistern ihrer Vergangenheit stellen.

Den weiteren Plot werde ich jetzt nicht groß spoilern, nur so viel: Es wird blutig und es sterben Männer. Letzteres erwähnt auch eine Triggerwarnung zu Anfang des Buches. Dies möchte ich besonders positiv hervorheben, denn leider sind diese Content Notes oder Triggerwarnungen noch längst nicht selbstverständlich. Auch Notfallkontakt-Nummern für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, finden sich hinten im Buch. 

Während ich finde, dass das Buch allein aufgrund seiner gesellschaftspolitischen Brisanz eine absolute Daseinsberechtigung hat, konnte es mich als Roman, als in sich geschlossener literarischer Text, leider nicht so richtig überzeugen. Die Figuren bleiben blass, selbst die Protagonistin hat wenig Tiefe. Die Handlung ist durch die häufigen Flashbacks oft verwirrend zu lesen, die Zeit in Engelhartskirchen, in der sich die Gegenwartshandlung abspielt, wird meiner Ansicht nach nur oberflächlich beleuchtet. Mit der Zeit driftet die Handlung ins Groteske ab. Die Morde sind extrem brutal und speziell in einem Fall ist das Motiv nicht richtig nachvollziehbar. Sprachlich ist das Ganze sehr einfach und parataktisch gehalten. 

“Männer töten” lässt sich vom Setting her sehr gut mit “Nincshof” von Johanna Sebauer vergleichen. Beides mal ein eigenartiges österreichisches Dorf mit Matriarchat, das ein Geheimnis hat. Nur hat mich “Nincshof” was Figurenzeichnung, Handlungsaufbau und Spannungsbogen sowie Ironie und subtilen Humor betrifft so viel mehr überzeugt. “Männer töten” bleibt nur Skelett während bei “Nincshof” ein richtiger Körper mit all seinen Funktionen entstanden ist, um mal so einen gewagten Vergleich zu machen. 

Das Buch zu lesen war aber kein Fehler, denn jede*r sollte sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Der Kauf des Buches hat mir außerdem viel Spaß bereitet, alleine schon weil ich “meinen” Buchhändler mit Bestellung und Kauf ein wenig in Verlegenheit bringen konnte (hihi). Aufgrund des provokanten zweideutigen Titels sollte es jede Literaturliebhaberin im Bücherregal haben. Man weiß ja nie, ob man mal eine Waffe braucht und die einzige, die ich befürworten kann, ist Sprache.

Sonntag, 14. Januar 2024

"Nadia" von Can Mayaoglu

Und wieder habe ich ein Buch gelesen, von dem ich mir wünschen würde, ich könnte es noch einmal zum ersten Mal lesen. Nochmal jede berührende Aussage und jeden klugen Satz ganz neu aufsaugen und bei jedem Verweis, den ich erkenne und großartig finde, das Gefühl haben, eine gute Freundin hätte das Buch nur für mich geschrieben. “Nadia” von Can Mayaoglu ist so ein Buch.

"Am meisten Zukunft haben Menschen ohne Vergangenheit". Das hat der einzigartige Roger Willemsen einmal gesagt. (Dieses Zitat kam mir übrigens in den Sinn, bevor ich wusste, dass eines seiner Bücher - “Der Knacks” - im Text erwähnt wird. Creepy, oder?). Nadia, die Protagonistin des gleichnamigen Romans, hat vor allem eins: Vergangenheit, das Gestern, unwiederbringlich verlorene Momente, Erinnerungen und ihre Kunst, die sich aus dem Vergangenen speist. “Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, nichts ist ohne das andere möglich.” (S. 170). Dieser Satz ist eines der Gedankenkonstrukte von Nadia, die sie sich für ihre Kunst notiert hat.

Nadia Kartal ist Hamburgerin, Mitte dreißig und Künstlerin. Sie ist das mittlere Kind ihrer Familie und hat zwei Schwestern (Dilhan und Minoo), von denen die Jüngste, Dilhan, seit acht Jahren spurlos verschwunden ist. In den Jahren danach ging die Beziehung zu Nadias großer Liebe Rahel in die Brüche. Vor fünf Jahren hat Nadia Hamburg verlassen, um die ihrer Schwester Dilhan gewidmete Ausstellung STIP (“So this is Permanence”) in der ganzen Welt zu zeigen. Nun - im Februar 2019 (oder 2018, ich bin unsicher denn sie hat in Spanien die Auszeichnung “Konzeptkünstlerin des Jahres 2018” erhalten) - ist Nadia zurück in ihrer Heimatstadt, um die Ausstellung zu einem Ende zu bringen und damit beginnt die Handlung.

Für mich ist “Nadia” ein moderner Miniatur-”Ulysses” mit weiblicher Protagonistin. Ihre Rückkehr in die Heimatstadt wird zu einer Hamburg-Odyssee, die auf mich eine hypnotische und manchmal auch kathartische Wirkung hatte. Ihr Schiff und gleichzeitig sicherer Hafen ist das Taxi der sympathischen Kodderschnauze Cagney, die Nadia durch das Labyrinth ihrer eigenen Vergangenheit lotst. Cagney fungiert als Realitätsabgleich und zieht Nadia aus ihren Gedankensphären immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein genialer und origineller erzählerischer Schachzug. Hamburg wird gleichsam zur Topografie der Gefühlswelt der Protagonistin. Nadia dreht sich im Kreis und ist doch auf der Zielgeraden, wobei das Ziel darin liegt, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen und ihr gegenwärtiges Dasein in seiner veränderten Jetztheit zu akzeptieren. Mir fällt hier ein berühmtes Zitat von Novalis ein: “Wohin gehen wir? Immer nach Hause.” In diesem Sinne ist “Nadia” auch ein romantisches Buch.

Wer Intertextualität und literaturwissenschaftliche Bezüge liebt, wird auch “Nadia” lieben. Der Roman stellt seinen Figuren wie auch den Lesenden indirekt Fragen wie: Was ist dein Madeleine-Moment? (Proust, immer wieder der wunderbare Proust.) Welches Buch würdest du auf die hypothetische einsame Insel mitnehmen? (Ich würde das gleiche wie Nadia mitnehmen, denn auch ich habe einen Hamlet-Komplex, aber ich teile auch Dilhans Liebe für “the play that must not be named” und dessen Monologe; außerdem kann ich auch Rahels Wahl gut verstehen.) Bist du ein Bartleby? (Hier teile ich die Belesenheit der Autorin leider nicht und musste recherchieren, aber auch dies ist ein sehr interessanter literarischer Vergleich.) Das Buch ist also voller literarischer “Easter Eggs” (Der Journalist, der Nadia an eine Kafka-Figur erinnert z.B.), aber auch Musikliebhaber:innen kommen voll auf ihre Kosten. Der Roman gleicht einer musikalischen Schnitzeljagd. Im Text kommen immer wieder Ausschnitte aus Songs vor, es gibt für die Installation eine STIP-Playlist, die Nadia oft hört und jedem Kapitel ist eine Zeile aus einem Song vorangestellt worden.

Aber auch Filme und Serien werden von den Figuren konsumiert und im Text erwähnt. Und irgendwie bekomme ich manchmal auch so “Sex and the City”-Vibes, nur etwas queerer als es in der ursprünglichen Sendung der Fall war. Überhaupt muss noch erwähnt werden, dass auch die Figuren um Nadia herum eine eigene spannende Geschichte zu erzählen haben, jede davon könnte ausgearbeitet werden und einen eigenen Roman füllen. Aber zurück zu den Verweisen. Es werden im Buch sogar deutsche Humoristen zitiert, was ich toll finde (“Witzischkeit kennt keine Grenzen”, S. 228). Alles in allem ist “Nadia” also ein vielschichtiges kulturelles Palimpsest, ein Wimmelbuch für Intellektuelle, in das man sich fallen lassen kann wie ein Kind in ein richtiges Wimmelbuch von Ali Mitgutsch und staunen, immer wieder staunen ob der Klugheit seiner Autorin.

Zu Seite 168: Ich liebe solche Gedankenspiele, bei denen man darüber nachdenkt, wie Kleinigkeiten oder Zufälle das ganze Leben verändern können. Danke dafür.

“Nadia” ist so viel, aber vor allem auch eine Erzählung über Geschwisterbeziehungen, ein “Drei Schwestern” als Roman, ein Buch über Schwesternschaft. Der Zusammenhalt der jungen Kindheits-Schwestern, ihre Verschworenheit und auch die sich immer wieder klärenden Streit-Situationen, waren für mich als “Scheidungs-Einzelkind”, das weder geschwisterliche Innigkeit noch Zwistigkeit erleben durfte, bittersüß zu lesen. Das Ende des unzertrennlichen Trios ist Dilhans mysteriöses Verschwinden - und doch: “Tis better to have loved and lost than never to have loved at all.” Aber ich habe, wie Rahel, auch zwei Töchter und hoffe, sie werden später einmal so zusammenhalten wie Nadia und Minou. Ein wundervolles Ende und ihr seht schon, der Roman hat mich persönlich unheimlich angesprochen. Ich denke aber, dass in diesem Buch jede:r einen Mehrwert finden wird, der über das schöne Leseerlebnis hinausgeht und es vielleicht mit einem warmen Gefühl des geglückten Abschieds und mit einem hoffnungsvollen Seufzer zuschlägt, so wie ich es getan habe.

Danke für dieses Buch, auch an den Albino-Verlag. Nach “Adam im Paradies” von Rakel Haslund-Gjerrild ist dies schon das zweite grandiose Buch, das ich innerhalb kurzer Zeit aus diesem Verlag gelesen habe. Hier weiß ein Verlag wirklich, was hervorragende Literatur ist und beweist das immer wieder. Ich habe auch schon das nächste Buch im Auge. Danke auch für euren Mut zur Farbe, was das Pink des Hardcover-Einbands betrifft. Es kontrastiert wunderbar mit dem grauen Hamburger “Schietwetter”, das im Roman beschrieben wird und lässt uns Lesende mit dem wohligen Gefühl zurück, dass wir das Leben vielleicht wieder öfter durch die rosarote Brille betrachten dürfen, wenn wir den Mut dazu aufbringen.


Montag, 8. Januar 2024

"Rauch und Schall" von Charles Lewinsky

Das erste Buch, das ich im neuen Jahr 2024 gelesen habe, war schon mal ein absoluter Volltreffer und zwar an Intellekt, Unterhaltung und Witz: “Rauch und Schall” - eine Anlehnung an einen Vers aus Goethes “Faust” (“Name ist Schall und Rauch”) - von Charles Lewinsky aus dem Diogenes Verlag.

Ein Mann in der Mitte des Lebens, der aufgrund seiner dichterischen Tätigkeit hohes Ansehen genießt und den die kulturbeflissene Öffentlichkeit gar ein Genie heißt. Was macht nun dieser Mann, wir nennen ihn Goethe, wenn ihn sowohl der geheimrätliche After (in Form von Hämorrhoiden) schmerzt, als auch eine Schreibblockade plagt? Leiden, aber still, denn beide Probleme sind nur allzu tabuisiert…

Wir schreiben das Jahr 1796 (erschlossen anhand der erwähnten, aus Goethes Leben bekannten Fakten, denn im Roman gibt es keine konkreten Zeitangaben). Goethe ist auf der Rückkehr nach Weimar. Er war mal wieder auf einer seiner Schweizer Reisen, auf denen er seltene Quarzite und Inspiration für neue dichterische Werke sammeln wollte. Zumindest ersteres ist ihm gelungen. Zuhause erwarten ihn also nun seine Lebensgefährtin Christiane Vulpius und das einzige überlebende Kind der beiden, der siebenjährige Sohn August sowie viele leere Blätter, die von ihm oder dem Secretarius Geist qua Diktat beschrieben werden wollen. Was Goethe in dieser Situation gar nicht gebrauchen kann: Zum einen, einen Auftrag des Weimarer Herzogs Carl August (mein bescheidener Vorschlag: Ein Trinkspiel jedes Mal wenn das lustige Wort “Serenissimus” im Text vorkommt) für ein Festgedicht anlässlich des baldigen Geburtstags seiner Gemahlin. Zum anderen, einen sehr selbstbewussten und redegewandten Schwager namens Christian August Vulpius, seines Zeichens schlecht bezahlter Bibliotheksregistrator und Schriftsteller von Trivialliteratur, aus dem die Einfälle und Ideen für seine in Goethes Augen minderwertigen Bücher nur so fließen.

Als eine Person, die Neuere deutsche Literatur im Hauptfach studiert, sich viel mit der Weimarer Klassik auseinandergesetzt hat und schon öfters im wunderschönen Weimar war, habe ich schon einen gewissen Wissensvorsprung gehabt, vor allem was Goethes Lebenssituation angeht. Mir war z.B. bewusst, dass Goethe einen Schwager hatte, der Trivialliteratur verfasste und dass er nur einen überlebenden Sohn hatte. Auch der “Rinaldini” verstaubt in der zweiten Reihe in einem meiner Klassiker-Regale. Aber auch wenn man all diese Vorabinformationen nicht hat, kann man wunderbar eintauchen in dieses Buch, denn alles, was man zum Verständnis wissen muss, wird einem erklärt - ob man “weimaraffin” ist oder auch nicht.

Die Figurenzeichnung in diesem Buch ist einfach hilarious - mir fällt kein passendes deutsches Wort ein, vielleicht ist Goethes Wortschöpfungskrise auf mich übergesprungen - und könnte nicht mehr auf den Punkt sein in einer Fiktion, die sich in die Realhistorie eingenistet hat. Nach der Lektüre will man einfach, dass es genau so gewesen ist und dass Goethe, Christiane und Christian August Vulpius sowie der “Serenissimus” Carl August genau so gesprochen und agiert haben wie in diesem Roman. Der Humor des Autors ist genau meiner, subtil und britisch und immer auf den Punkt. Ich habe die Lektüre einfach genossen, anders kann ich es nicht sagen. Schwere Themen werden gekonnt umschifft oder so verpackt, dass sie ihre Schwere verlieren. Ein wunderbar unterhaltsames Buch, nicht nur aber natürlich auch besonders für “Goethezeitliebhaber:innen”.

Die einzige Sache, die man an diesem Romam kritisieren darf und muss ist die Tatsache, dass er viel zu schnell vorbei ist. Nein, das darf nicht sein. Ich wünsche mir bitte eine oder mehrere Fortsetzungen mit anderen Situationen in Goethes Leben aus Ihrer Feder, Herr Lewsinky. Oder vielleicht mit Schiller als Hauptfigur, ich kann den Odeur der verfaulten Äpfel förmlich riechen. Wenn Sie das lesen, setzen Sie sich also bitte ins Gartenhaus und schreiben drauflos bzw. einfach weiter, in bester Vulpius’scher Manier: Nicht dichten, sondern schreiben - hoc est motto.

Herzlichen Dank an den Diogenes-Verlag für das Rezensionsexemplar!

Donnerstag, 4. Januar 2024

"Die Sterne der Kaiserin" von Mara Andeck


Obwohl ich kein großer Fan der “Sissi”-Filme mit Romy Schneider bin, ziehen mich fiktionale Bearbeitungen des Lebens der Kaiserin Elisabeth Amalie Eugenie von Österreich an wie die Motten das Licht. Muss ich mir von einem Psychiater schon einen morbiden Crush auf die Kaiserin attestieren lassen und kann man das alles noch unter simplem Interesse verbuchen? Dass es für mich kein Problem war, sowohl lange kastanienbraune Haare als auch sieben “Sisi-Sterne” für das Buchfoto parat zu haben, fließt hoffentlich nicht in mein psychisches Profiling mit ein. Aber weg von mir hin zu dem Roman “Sisi - Die Sterne der Kaiserin" von Mara Andeck aus dem Goldmann - Verlag.

Dieser Roman versucht einer historischen Person aus dem Umfeld der Kaiserin eine Stimme zu geben: Franziska “Fanny” Angerer, ihrer privaten Friseurin, die 32 Jahre lang in Diensten Elisabeths stand. Man sagt, ihrem Friseur/ihrer Friseurin würde eine Frau “alles” erzählen. Was soll man sonst auch machen, wenn man wie Kaiserin Sisi, deren Haare fast bis zum Boden gingen, oft stundenlang frisiert werden musste? Wenn man allerlei Kuren und Prozeduren über sich ergehen lassen musste, damit die Haare dem eigenen kaiserlichen Anspruch genüge leisteten? Haarausfall war Sisi ein Graus und sie betrauerte jedes einzelne Haar, das der Kämmprozedur zum Opfer fiel, indem sie es in einer Silberschale auffangen ließ. Fakt ist, Friseurin bei der Kaiserin zu sein, war ein physischer und mentaler Knochenjob, denn auch über politische und gesellschaftliche Themen, Kultur und die neueste Mode sollte eine Friseurin mit der Kaiserin parlieren können ohne ihr mit der eigenen Meinung zu missfallen, während sie zeitgleich eine in kaiserlichen Augen perfekte Frisur abliefern musste.

Die Beziehung der beiden ungleichen Frauen im Roman beginnt, als Sisi bei einem ihrer Theaterbesuche im Burgtheater die Künste der dort angestellten Friseurin anhand der Frisur einer Schauspielerin bewundern konnte. Vom Fleck weg wird sie vom Hof einberufen, denn zunächst müssen ihre Eignung und ihr Leumund gründlich überprüft werden, letztlich wird sie eingestellt. Von nun an widmet sich die Stieftochter eines Friseurs ausschließlich den kaiserlichen Haaren und bekommt im Roman am eigenen Leib zu spüren, was es bedeutet, Teil des kaiserlichen Hofstaates zu sein. Glanz und Glamour, moderate Berühmtheit und ein finanziell sorgenfreies Leben geben sich mit Verschwiegenheitsgelübden, Hofintrigen und allerlei Personen, die einem nicht wohlgesonnen sind, die Klinke in die Hand. Hinzu kommt, dass die Kaiserin es nicht goutierte, dass ihre persönlichen Angestellten - also die weiblichen - Kontakte zum anderen Geschlecht unterhielten, die über das Professionelle hinausgingen. Sprich: Wollten die Hofdamen eine Ehe eingehen, wurden sie in der Regel aus dem Dienst bei der Kaiserin entlassen. Auch Fanny muss sich im Roman schließlich zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen der Liebesbeziehung zu einem Mann und ihrer Loyalität gegenüber der Kaiserin entscheiden. Oder kommt doch alles ganz anders?

Nach dem wirklich gelungenen “Wohlfühl-Opener”, bei dem wir gleich die Kaiserin kennenlernen und viel von der Ich-Erzählerin Fanny erfahren, hätte ich mir gewünscht, dass es in ähnlichem Modus weitergeht. Stattdessen bekommen wir sofort ein absolutes Trigger-Thema (Spoiler: Totgeburt) um die Ohren gehauen. Bei einem historischen Wohlfühlroman - so suggeriert es zumindest das Marketing - muss ich doch nicht gleich am Anfang “Das Leben ist ein schreckliches Jammertal” von den Dächern rufen. Ich war nach dem schönen Anfang, der mich emotional echt gefangen genommen hat, total schockiert und hätte das Buch am liebsten wieder weggelegt. Zumal die Kindheitsgeschichte Fannys und ihrer Schwester auch schon sehr traurig und deprimierend ist, für mich hätte das als Aufhänger für den “from rags to riches”-Trope völlig ausgereicht. Außerdem wissen wir, so schreibt es die Autorin im Nachwort, sehr wenig von der historischen Fanny Angerer und die Geschichte ihrer Herkunftsfamilie ist ebenso erfunden wie die traurige Geschichte, mit der die Existenz der “Sisi-Sterne” später im Buch erklärt wird (correct me if I'm wrong). Wäre der Anfang nicht gewesen, hätte ich volle Punktzahl für dieses Buch gegeben. Mir gefällt die Ich-Erzählerin, die Zeichnung des Charakters der Kaiserin und ihrers Umfelds (von denen mir einige Figuren noch aus dem “Sisi”-Roman von Karen Duve frisch in Erinnerung waren) und auch die (historische) Figur des Hugo Feifalik, der einen sehr witzigen und sympathischen “Love Interest” für Fanny abgegeben hat.

Bis auf den Anfang, der für mich das restliche Buch leider negativ überschattet hat, ein wirklich sehr guter historischer Roman für alle, die so wie ich nicht genug bekommen können von “Sisi”.

Herzlichen Dank an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar!


Montag, 1. Januar 2024

"Die Kunst des Verschwindens" von Melanie Raabe

Sind die Begegnungen mit Menschen, die wir im Laufe unseres Lebens machen, wirklich reiner Zufall oder steckt so etwas wie Schicksal dahinter? Ist die Zeit “zwischen den Jahren”, sind Silvester und Neujahr wirklich “magisch”, wie es eine der Protagonistinnen in Melanie Raabes Roman sagt oder laden wir diese seltsame Zeit nur mit dieser Bedeutung auf, weil wir uns während dieser Tage wie “aus der Zeit gefallen” fühlen? Ist Identität fluide? Und: Können Menschen wirklich verschwinden bzw. abtauchen? All diese Fragen stellt Melanie Raabe direkt oder indirekt in ihrem Roman “Die Kunst des Verschwindens”.

Es macht meiner Meinung nach wenig Sinn die Handlung dieses Romans in irgendeiner Weise zusammenfassen zu wollen, nur so viel: Es geht um zwei Frauen, beide auf den Tag genau gleich alt (32), Nico und Ellen. Ihre scheinbar magische Begegnung in der Silvesternacht verändert das Leben der beiden für immer. Ich möchte nicht spoilern, habe mir aber vorgenommen in meinen Rezensionen ab jetzt immer zu erwähnen, wenn es eventuelle Trigger-Themen in Romanen gibt. Wer diese nicht lesen/wissen möchte, liest jetzt bitte nicht weiter. Also, im Roman geht es um viele traumatisierende und traurige Dinge, von denen ich euch hier nur Schlagworte mitteile: Tod durch Ertrinken, plötzlicher Tod, Ghosting/Gaslighting, Suizid, Krebs, Totgeburt, Drogensucht, Stalking, Gewalt, tote Tiere. Ihr seht schon, dies ist kein Wohlfühlroman und er hat mich an vielen Stellen auch ziemlich runtergezogen.

Dennoch ist der Roman stellenweise sprachlich sehr schön. Die beiden Theaterszenen mochte ich wirklich gerne. Also gleich den Anfang, als sich Ellen alias Titania im “Sommernachtstraum” langsam aus ihrer Rolle “schält”. Zunächst scheint sie ganz eins zu sein mit ihrem Bühnen-Ich, gleichsam verwachsen mit der Kulisse. Die Szene wird gespiegelt, als Nico zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ins Theater geht und nach und nach eins wird mit der Produktion, bis sie selbst ein Teil davon ist und von einem Begeisterungssturm mitgerissen wird. In diesen Szenen konnte Melanie Raabe ihr schriftstellerisches Talent voll zur Geltung bringen. Überhaupt sind ihre Stärken meiner Meinung nach die surrealen Szenen. Stellenweise war ich sehr bewegt, bei der Szene an der französischen Küste habe ich sogar geweint.

Eine Fehlannahme von mir war, dass der Roman hauptsächlich “zwischen den Jahren” spielt, aber tatsächlich ist das gar nicht der Fall. Meiner Meinung nach hätte es sehr gut gepasst, die Handlung auf diese Zeit zu kondensieren. Nur der Beginn des Romans spielt aber in den letzten Dezembertagen, der Höhepunkt ist die Silvesternacht. Magisch”, sagte sie, “Silvester und Neujahr sind magisch.” In diesem Sinne kann man den Roman wunderbar in der Zeit des bevorstehenden oder des tatsächlichen Jahreswechsels lesen, in der Schein und Sein so wenig klar abgegrenzt scheinen, wie es sonst der Fall ist. Allen, denen die oben erwähnten Trigger-Themen nichts ausmachen, kann ich den Roman empfehlen. Ich denke jede/r kann etwas anderes aus diesem Buch mitnehmen, das etwas in die Richtung “Magischer Realismus” geht. Außerdem ist er so geschrieben, dass man wunderbar ein Drehbuch daraus machen könnte. Intelligent gemacht, stellenweise etwas artifiziell.