Mittwoch, 30. Juli 2025
Schreiben ist mühelos. Ein paar Gedanken zum Schreibprozess
Donnerstag, 24. Juli 2025
"Onigiri" von Yuko Kuhn
Dienstag, 22. Juli 2025
"Die Geschichte des Klangs" von Ben Shattuck
Freitag, 18. Juli 2025
Ein Gedicht an mein Buch, 18.7.2025
Mittwoch, 16. Juli 2025
"Die schlechte Gewohnheit" von Alana S. Portero
Stell dir vor, die erste Wesenheit, der du romantische Gefühle entgegenbringst, die du küssen und berühren möchtest, ist ein wunderschöner, frisch gestorbener junger Drogentoter, der vor deiner Haustür liegt. Du bist fünf Jahre alt, ein dicklicher träger Junge, in dem die Seele eines zarten Mädchens steckt. Du wächst bei einer fast armen, aber ansonsten sehr liebevollen Familie (der ältere Bruder ist dein Held und Halt) in einem Arbeiter(= Problem)viertel von Madrid auf, in dem Glanz und Gloria, die du heimlich vor dem Spiegel übst, so weit entfernt scheinen wie der Horizont. Du fühlst dich in der Gesellschaft von Frauen am wohlsten und stellst gleichzeitig fest, dass du auf Männer stehst. Du machst als Teenager erste sexuelle Erfahrungen mit einem ziemlich süßen Jungen, lernst die queere Welt ein bisschen besser kennen und eigentlich ist alles ganz nice, doch da ist etwas: Du bist kein Junge, kein Mann. Du bist eine Frau. Und außerdem ist da die Gesellschaft und die “reale” Welt um dich herum: mit ihren binären Vorstellungen, ihren limitierenden Glaubenssätzen, ihrer Engstirnigkeit und ihrer Gewaltbereitschaft. Wie kann man unter diesen Voraussetzungen zum Mensch werden, der man ist, wie kann man aus dem Käfig ausbrechen, der um einen herum gezimmert wurde?
Alana S. Portero hat einen autofiktionalen Roman über ihre eigene Herkunft und das finden ihrer Identität geschrieben. Wie viel davon “wahr” ist weiß wohl nur sie selbst. Wir Lesende wissen nach der Lektüre jedenfalls ein kleines bisschen besser, wie schwierig es ist für eine Seele, die sich mit dem Gefängnis aus Fleisch, in das sie bei der Geburt hineingezwängt wurde, nicht identifizieren kann, in einer binären Welt zurechtzukommen. Der Text geht sowohl ans Herz (und das extrem) als auch an die Nieren (Triggerwarnung: Gewalt gegen Transmenschen und Homophobie). Ich habe selten einen so authentischen, einfühlsamen Roman gelesen wie diesen hier.
Auch bezüglich seiner poetischen Sprache ist dieser Roman einer, der in Erinnerung bleibt im Einheitsbrei. Die Ich-Erzählerin baut sich einen mythologisch-märchenhaften Überbau, den sie ihrer Umwelt, ihrem Viertel und den Menschen, die es bewohnen, überstülpt. Es gibt Aphroditen, Circen, Nymphen und vieles mehr. Sie alle helfen ihr, die Welt um sie herum erträglicher zu machen. Die Ich-Erzählerin nennt queere Menschen “Bewohner unseres Waldes” und ich musste fast weinen, als ich das gelesen habe, denn es hat mich mitten ins Herz getroffen.
Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit dafür, dieses Buch gelesen zu haben. Es hat mich einfach erfüllt und während der Lektüre war ich komplett bei der Ich-Erzählerin. Ich habe endlich mal in Ansätzen das empfunden, was Transpersonen empfinden müssen. Diese Zerrissenheit, dieses Zwischen-den-Stühlen-sein-und-nie-ganz-den-richtigen-Platz-finden. Eine Lektüre, mir der ihr eure Zeit zu 100% nicht verschwendet - Ehrenwort. Ganz, ganz toll! Aus dem Spanischen übersetzt von Christiane Quandt.
Montag, 7. Juli 2025
"Content" von Elias Hirschl
Dieser Roman ist total gestört - im besten und positivsten Sinne. Er ist gaga, delulu, irre - was ihr wollt! Sowas muss einfach einem genialen Gehirn entsprungen sein, das kannst du dir nicht ausdenken. Ich habe auch manchmal gar nicht gecheckt, was hier eigentlich abgeht, vor allem als es um die Doppelgängerin ging, bin ich doch ziemlich im Dunkeln getappt - man muss quasi doppelt aufmerksam “hinschauen”. Und weil ich außerdem absolut keine Ahnung habe, wie ich hierzu eine “normale” Rezi schreiben soll, gibt es jetzt - Trommelwirbel / Premiere / Neu, neu, neu und wahrscheinlich einmalig - ein Rezi-Listicle. Denn in diesem Roman “Content” geht es vor allem um Listicles, also solche Online-Artikel, in denen Infos anhand von Listen übermittelt werden. Und um ihre Schreibenden auf einer von den Russen gesteuerten “Content-Farm” in einem gruseligen ehemaligen Industrieort mit dem Nickname “Staublunge”, die dort vor sich hin vegetieren und dabei langsam aber sicher in den Wahnsinn abdriften. Klingt mega, oder?
Also: 10 Gründe, warum du “Content” von Elias Hirschl aus dem Zsolnay-Verlag besser gestern als morgen gelesen haben solltest
weil es einfach anders krass reinhaut und wir alle hier und da einen frischen literarischen Wind im Einheitsbrei brauchen
weil Karin einfach Badass ist, recht hat und es keine “letztgültige Wahrheit” gibt
wegen der Perfidität von Plastikkateen, die dir vorgaukeln unsterblich und immer an deiner Seite zu sein
weil jeder, der mit Rote-Bete-Produkten Geld verdienen möchte, einen an der Waffel hat
weil es die Meinung enthält, dass Musils “Mann ohne Eigenschaften” ein “beschissenes, anstrengenes Buch” ist. Ihr könnt mich ja vom Gegenteil überzeugen. Sorry RM, aber wer hat schon geschafft, es wirklich zu lesen und zu verstehen. Selbst “Ulysses” war um Weiten zugänglicher.
weil “Content” den Finger auf die Wunde und damit auf das Dilemma unserer überdifferenzierten, überinformativen Welt der unendlichen Optionen legt. Wir wissen einfach zu viel und doch wieder fast nichts wirklich. Wer bin ich und wenn ja bin ich ein Bot?
weil Elias Hirschl allein für die mit Semikolon aneinandergereihten Listicle-Ideen auf den Seiten 162-169 den Literatur-Nobelpreis hinterhergeschmissen bekommen müsste. Ich habe selten so gelacht und kann euch nur einen meiner vielen Favoriten zitieren: “die 14 dümmsten Wege, die Druckkosten eines Romans zu erhöhen;” (S. 164)
weil ich Seite 162-169 immer wieder und wieder lesen werde, bis ich es auswendig mitzitieren kann
weil queere Charaktere vorkommen, obwohl man es nicht erwartet
(Spoiler) weil das Ende so schön traurig ist bzw. die Liste, in der man lernt, wie man ein glücklicheres Leben führt - wer würde das nicht wollen?
Donnerstag, 3. Juli 2025
"Schwindel" von Hengameh Yaghoobifarah
In dem Roman “Schwindel” von Hengameh Yaghoobifarah geht es um eine Situation, die für alle Beteiligten unangenehmer nicht sein könnte: Vier Liebhaber_innen aus einem Vierecksverhältnis, die gemeinsam auf einem Hochhausdach “ausgesperrt” sind. Aua. Vor allem doof ist es für die, die mit allen drei anderen was am Laufen hat: Ava. Sie hatte was mit Delia (dey/demm), gehostet ihre Affäre Silvia (die sehr viel älter als alle anderen ist, die Anfang 30 sind) und ist verknallt in Robin, die eigentlich in einer heteronormativen Langzeitbeziehung mit ihrem Partner Ivo ist. Und nun erweist sich die Hölle mal wieder als “die anderen”, wie es bei Sartre so schön heißt. Mensch muss sich mit den Entitäten außerhalb des eigenen Selbst auseinandersetzen, egal wie schmerzhaft, schön und schrecklich es auch sein möge.
Nicht nur vom Thema her, sondern auch erzählerisch ist das sehr clever gemacht: Die Teilnehmenden der temoporären Zwangsgemeinschaft lernen wir nach und nach als Individuen kennen - ihre Träume, ihre Traumata, ihr Begehren und ihre Wünsche für die Zukunft. Ein bunter Fächer an queeren Lebensentwürfen, die eines eint: sie sind Menschen und sie wollen glücklich sein.
Ich musste an vielen Stellen richtig schmunzeln, weil in diesem Roman so herrlich unverkrampft mit Klischees gespielt wird, ohne dass es jemals böse gemeint ist. Da sinniert eine Figur zum Beispiel über “Wanderlesben”, mit denen sie eben nicht in einer Beziehung sein möchte. Oder an anderer Stelle wirft eine Person der anderen an den Kopf: “Was bist du für eine Lesbe, wenn du keinen Karabinerhaken mit deinen Schlüsseln an deiner Jeans trägst?” (S. 49) Lol. Yaghoobifarah holt den Humor in die queere Schreibe zurück und ist gleichzeitig an vielen Stellen hoch literarisch, spielt mit Sprache und weiß einfach damit umzugehen. Auch wenn der Roman in der dritten Person erzählt wird, wird für jede Figur ein anderer “Sprech” verwendet. Um Delias Perspektive zu vermitteln, wurde beispielsweise Kleinschreibung benutzt, was ich sehr spannend finde. Wie anders kommt Sprache an, wenn sie gleich gemacht wird, wenn sie ohne Höhen und Tiefen fließt. Und bei Silvia kommt einem die Erzählweise fast konservativ, “bürgerlich” vor, obwohl sie alles andere ist als das, aber sie ist halt “die Alte”. Ava weißt nicht recht, was sie will, wer sie ist und auch das spiegelt sich in ihren sprunghaften Passagen wider.
Neben dem humorvollen Touch, dem ganz eigenen Slang und dem Spiel mit Wörtern und Sprache ist dem ganzen Roman noch ein philosophischer Überbau beigefügt, der das Ganze zu einem perfekten Kunstwerk macht. Auch die esoterischen Einsprengsel hier und da fand ich spannend. Yaghoobifarah versteht einfach von allem was.
Das Buch wurde mir übrigens von einer Buchhändlerin empfohlen, als ich “Auf allen Vieren” von Miranda July gekauft habe. Also ihr wisst schon: Kund_innen, die kauften, kauften auch… Kann ich so unterschreiben. Nur dass “Schwindel” meiner Meinung nach besser ist als der Roman von July. Aber maybe that’s just me, auf jeden Fall: lesen, wenn ihr mögt!