Mittwoch, 15. Mai 2024

"Das Gegenteil von Erfolg" von Eleanor Elliott Thomas


Es ist nicht alles Gold, was glänzt…

In “Das Gegenteil von Erfolg”, dem Debütroman der australischen Autorin Eleanor Elliott Thomas (übersetzt von Claudia Voit) geht es um eine Frau, 39, namens Lorrie. Sie lebt mit ihrem Mann Paul in einer Vorstadt von Melbourne und arbeitet seit vielen Jahren bei der Stadtverwaltung. Sie hat zwei Mädchen (2 und 6 Jahre) und eigentlich könnte ihr Leben glücklich sein. Aber das ist es nicht, denn sie versucht als Working Mom zwischen Job und Familie hin- und her zu jonglieren, wie so viele Frauen um die vierzig das müssen. Bei der Stadtverwaltung leitet sie ein Projekt namens “Green Cities”, wo es um Stadtbegrünung geht und dabei arbeitet sie mit dem zwielichtigen Geschäftsmann Sebastian Gulp zusammen, der das Projekt finanzieren soll. Das wiederum stößt ihrer besten Freundin, der Dokumentarfilmerin und Künstlerin Alex, sauer auf, die Kontakte zu einer radikalen Umweltgruppe hat, die es genau auf diesen Sebastian Gulp abgesehen hat. Und dann kommt es auch noch zu Liebesverwirrungen rund um Ruben, den Anwalt von Gulp und Lorries Ex-Freund und um dessen Frau Zoe…

Die eigentliche Handlung dieses Romans passiert an nur einem einzigen Tag. Allerdings geschieht das hier nicht auf die experimentell-kunstvolle “Ulysses”-Art und Weise. Die sehr karge und unspektakuläre, nach hinten raus auch sehr an den Haaren herbeigezogene, Handlung wird durch erzählte Erinnerungen der beiden Protagonistinnen Lorrie und Alex unterfüttert. Es wird also viel mehr erzählt als gezeigt, was ja eher ein Indikator für Trivialliteratur ist. Mich persönlich hat auch gestört, dass überhaupt nicht auf die Jahreszeit eingegangen wird, in der sich das Ganze abspielt. Aber das ist nur ein persönlicher Spleen von mir. Ich brauche einfach eine jahreszeitliche Einordnung des Geschehens, für andere mag das irrelevant sein.

Die Protagonistin Lorrie hat mich oft an eine australische “Mama-Version” von Bridget Jones denken lassen: Sie kämpft mit ihrem Gewicht,  den Ungerechtigkeiten der Lohnarbeit, den Meinungen ihrer Mutter und ganz allgemein den gesellschaftlichen Erwartungen, hat aber anders als die “Ursprungs-Bridget” bereits die perfekte Familie, wie sie es nicht müde wird zu betonen. Ihr Erzählstrang ist bemüht witzig, manchmal habe ich zwar leicht geschmunzelt, oft war mir die versuchte Komik aber einfach unangenehm und eher was zum Fremdschämen (und ich mag Humor eigentlich, wenn er gut ist). Denn es geht ins Slapstickhafte, zum Beispiel wenn sie die ganze Zeit ihren “perfekten” Kollegen Harry wegen seiner “Minihände” bodyshamed - und das obwohl sie selbst von ihrer eigenen Mutter gebodyshamed wird und das gar nicht lustig findet. Außerdem hat mich ihre ganze Charakterisierung gestört: Als Kind hochbegabt (come on…), aber betont ständig, dass sie eine Versagerin ist, weil sie u.a. als Teenie nach kurzer Zeit aus ein paar Jobs geflogen ist, weil sie zu gutmütig und naiv war. Und eben (Spoiler) die Stelle als Teamleiterin bei der Stadtverwaltung nicht bekommt. Andererseits genießt sie es, Mutter zu sein und sagt, dass das ihrem Leben einen kompletten Sinn gäbe. Für mich haben sich ihre Positionen oft widersprochen, so als hätte die Autorin nicht aufgepasst was Lorrie in einem früheren Kapitel von sich gegeben hat.

Alex hingegen ist eher die bisexuelle Melbourne-Version von Carrie Bradshaw aus “Sex & the City” - ein künstlerischer Freigeist, der noch nach der richtigen Beziehung, Berufung und eigenen Identität sucht. Ihre Storyline hat mir etwas besser gefallen, weil sie weniger stark überzeichnet war und ihre Persönlichkeit nicht so widersprüchlich rüberkam wie Lorries.

Ich habe das Gefühl, in diesem Roman wurden Themenkomplexe wie Queerness und Klimawandel als Aufhänger benutzt, um im Grunde die Geschichte einer frustrierten “Normalo-Frau” (nichts gegen “Normalo-Frauen”) zu erzählen. Ich möchte jetzt nicht direkt Greenwashing und Queerbaiting unterstellen, aber das Ganze hat so ein “Gschmäckle”, wie man im Schwäbischen sagt. Leider kann ich euch den Roman nicht empfehlen. Selbst als leichte Chicklit, die ich früher durchaus öfter gelesen habe, hat es für mich nicht funktioniert, da im Ganzen zu bemüht und gewollt und literarisch eben einfach nicht gut.

Ein Wort muss ich leider noch über die Goldfolierung des Buchcovers verlieren. Leider hat sich diese bei mir sowohl vorne, als auch hinten, als auch am Buchrücken abgelöst. Deshalb die Warnung, das Lesen dieses Buches kann zu “goldenen Händen” führen, muss aber nicht (ich habe jetzt sowohl von mehreren Leser:innen gehört, bei denen es auch so war, als auch bei solchen, bei denen es nicht so war). Ein sehr freundlicher und positiver Austausch mit dem Dumont-Verlag zu diesem Thema fand ebenfalls statt. Herzlichen Dank dafür.

Herzlichen Dank an Lovelybooks und natürlich Dumont für das Rezensionsexemplar!



Sonntag, 12. Mai 2024

"Convenience Store Woman" von Sayaka Murata

“Convenience Store Woman” - ein hochgelobter Kurzroman der japanischen Bestseller-Autorin und Literaturpreisträgerin Sayaka Murata (*1979). Auf Deutsch als “Die Ladenhüterin” beim Aufbau Verlag erschienen. Ich habe die englische Übersetzung von Ginny Tapley Takemori (Granta Books) gelesen.

Es geht um die Protagonistin und Ich-Erzählerin Keiko Furukura, 36, die seit 18 Jahren in einem Convenience Store, auf Japanisch Konbini, arbeitet, die es in Japan an jeder Ecke gibt. Sie ist dort angestellt, seit es den Store gibt und die einzige Mitarbeiter:in, die seit Anfang an dabei ist. Ihr geplantes Studium hat sie nicht weitergeführt und nie woanders gearbeitet. Ihr Privatleben ist ähnlich unspektakulär: Während ihre jüngere Schwester bereits Mann und Kind hat, hatte Keiko noch nie eine Beziehung oder s*xuelle Erfahrungen. Auch war sie noch nie verliebt und hat nur eine einzige Freundin (Miho). Sie lebt in einem bescheidenen Einzimmerappartement und arbeitet 5 Tage die Woche im Store. Ihr Alltag plätschert so dahin, bis eines Tages eine Aushilfe namens Shiraha ihr bislang unaufgeregtes Leben durcheinander wirbelt.

Keiko ist wenig empathisch bzw. kann sich in andere nur schwer einfühlen. Ihre Emotionslosigkeit ist aber nicht nur auf andere bezogen, auch in ihrem Inneren sind starke Gefühle kaum auszumachen. Zudem kommt, dass sie nicht weiß welche Reaktionen in bestimmten gesellschaftlichen Situationen von ihr erwartet werden. Soziale Konventionen sind ihr nur insoweit nicht fremd, sofern sie sich auf ihre über Jahre perfektionierten Tätigkeiten im Store beziehen. 

Sehr kunstvoll gemacht finde ich die Tatsache, dass Keiko quasi mit ihrem Umfeld “verschmilzt”, also immer mehr ein Teil vom Convenience Store wird - quasi Mimikri. Sie adaptiert nicht nur den Sprachduktus ihrer Kolleg:innen, sie kauft ihre Kleidung auch bei dem Laden ein, bei dem ihre Kollegin Mrs. Izumi einkauft, weil sie denkt, dass Frauen in ihrem Alter sich so kleiden müssen, um sich ihrer gesellschaftlichen Umwelt anzupassen.

Für Keiko bedeutet die Monotonie der immer gleichen Handlungen, die im Store ausgeführt werden, die ultimative Form von Sicherheit. Sie möchte ihr Leben gar nicht wirklich ändern, obwohl fast alle Außenstehenden das von ihr erwarten. Einzig das Altern schreckt sie, denn dadurch ist ihrer sinnvollen Tätigkeit ein absehbares Ende gesetzt.

Dieses Buch ist ein Statement, weil es die Wertigkeit von “prekären” und von der Gesellschaft als niedrig eingestuften Arbeitsverhältnissen betont. Auch Mitarbeiter:innen in Convenience Stores sind ein wichtiges Rad im gesellschaftlichen Gefüge. Der Roman ist zudem autofiktional. Auch Sayaka Murata hat 18 Jahre in einem Konbini gearbeitet, bevor sie sich Vollzeit dem Schreiben widmete. Zudem hat mir gefallen, dass endlich mal das Thema “Erwachsene ohne Beziehungserfahrung” literarisch verarbeitet wurde. Oft fühlen sich diese Menschen als Außenseiter:innen, unansehnlich und nicht liebenswürdig. Es ist gut, dass das Thema mal angesprochen wird, gerade in unserer s*xualisierten Gesellschaft, in der Erwachsene ohne entsprechene Erfahrungen oft stigmatisiert werden und sich nicht trauen sich zu outen. 

Alles in allem ein sehr guter Kurzroman, der zum Nachdenken anregt. Empfehlung!


Freitag, 10. Mai 2024

"Love me Tender" von Constance Debré


“Homosexualität bedeutet für mich einfach Urlaub von allem.” (S. 27)

Die 47-jährige Ich-Erzählerin des Romans “Love me Tender” (Aus dem Französischen von Max Henninger, Matthes & Seitz Berlin) von Constance Debré erfindet sich komplett neu. Wie Phönix aus der Asche taucht sie aus ihrem konventionellen Pariser Leben mit Mann, Sohn und prestigeträchtigem Job als Strafverteidigerin auf: “Von nun an bin ich ein einsamer Cowboy.” (S. 21). Sie häutet sich wie eine Schlange, wird extreme Minimalistin, Großstadtnomadin, steigt sexuell komplett auf Frauen um und schreibt ein Buch - über sich und ihre Sicht der Dinge.

Es handelt sich hierbei um einen autofiktionalen Roman. Nicht nur ist Constance Debré (geboren 1972) auf dem Cover abgebildet, die Biographie der Autorin und der Ich-Erzählerin überschneiden sich komplett: Erfolgreiche Anwältin aus prominenter französischer Familie (Mutter adeliges Model, früh verstorben, Vater Journalist mit Kontakten in höchste Staatskreise), verheiratet, mit Sohn, legt ihr altes Ich ab, wird Schriftstellerin und schläft mit Frauen. Dabei kämpft sie um das Sorgerecht für ihren Sohn, das ihr aufgrund von Anschuldigungen ihres Ex-Mannes ihren Lebenswandel betreffend entzogen wird.

Die Ich-Erzählerin hat eine sehr nüchterne Weltsicht, man könnte schon sagen, desillusioniert. Sie sagt sich von allem los, was nach Angepasstheit aussehen könnte, steigt komplett aus aus dem Hamsterrad des Gewöhnlichen. Das Leben als kurzweiliges Abenteur, das herkömmliche humanistische Ideale wie Liebe, Familie und Sicherheit nicht mehr nötig hat. Die Ich-Erzählerin macht sich viele Gedanken zum Thema Mutterschaft und wie viel Unfreiheit in dieser liegt. Sollte man sich nicht auch von der Familie oder dem eigenen Kind “trennen” dürfen? “Du darfst mich hassen. Das ist sogar ein Erfordernis der Liebe, zu hassen. Es gibt keine Liebe ohne Hass. [...] Ein Kind muss seine Eltern hassen, vor allem ein Sohn seine Mutter.” (S. 67)

Natürlich spielen auch konventionelle Rollenbilder und deren radikale Ablehnung durch die Protagonistin, auch bei ihren gleichgeschlechtlichen Affairen, eine große Rolle. Wir kennen das Narrativ “Frau, gefangen im bürgerlichen Leben, die in ihren mittleren Jahren plötzlich ausbrechen will” von anderen französischen Autorinnen wie Leïla Slimani oder Maria Pourchet. Debré präsentiert sozusagen die queere Variante des Stoffes, allerdings erzählt sie auch ihre eigene Geschichte, was das Ganze sehr besonders macht.

Ich mag die erzählerische Kraft und Intensität, die in diesem schmalen, unaufgeregten Werk steckt, unglaublich gerne. Die Ich-Erzählerin reduziert sich nicht nur auf das unbedingt Notwendige in ihrem Leben, sondern sie wählt auch die Worte, die sie benutzt, um uns von ihrem Schmerz und Triumph zu erzählen, sehr sorgfältig aus: kondensiert, clean, kathartisch. Ein Buch, das mich sehr begeistert und überrascht hat und das man sicher mehr als einmal lesen kann. Ich hoffe sehr, dass auch die anderen Bücher der Autorin bald auf Deutsch erscheinen werden, sonst muss ich mich auf das Abenteuer “lire en Français” einlassen. Unbedingte Empfehlung. 

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Dienstag, 7. Mai 2024

"Trophäe" von Gaea Schoeters

Im Herzen der moralischen Finsternis

"Hoch über ihren Köpfen gleitet geräuschlos eine weiße Eule über den schwarzen Himmel. Ein Schatten. Ein Geist. Ein Vorbote des Todes. Niemand bemerkt sie.” (S. 158) - Gänsehaut!

Es wird schwierig, diesen außergewöhnlichen Roman “Trophäe” von Gaea Schoeters (aus dem Niederländischen von Lisa Mensing) zu besprechen. Nicht nur hat die halbe Buchwelt ihn bereits gelesen und gefeiert, sondern ich war auch bei einer Lesung der Autorin und habe ihre Worte dazu noch sehr genau im Ohr. Sich ganz davon zu lösen scheint mir nahezu unmöglich - und vielleicht auch nicht nötig - aber ich möchte gern hauptsächlich eigene Worte finden, um dieses ganz besondere Buch zu rezensieren.

Hunter White, der Name ist Programm und Parabel zugleich, ist gefährlich. Er ist gefährlich, weil er sich seinen eigenen moralischen Kodex zusammengestellt hat. Eine Sicht der Dinge, die mit einer humanen Ethikvorstellung nicht mehr viel zu tun hat: “ Wenn Ranger Wilderer erschießen, ist das [...] erlaubte Notwehr; wenn Wilderer auf Ranger schießen, ist das Mord.” (S. 57). Er glaubt, nur er habe die Lizenz zum Töten, zumindest zum Töten des von ihm mit einem 6-stelligen Betrag “bezahlten” Nashorns. Der Jäger aus der westlichen Welt, der eigentlich Börsenspekulant und Immobilienmagnat ist, kommt nach Afrika und erkauft sich beim zwielichtigen Ranger Van Heeren schlicht und einfach das Recht, eines der in Afrika heimischen Tiere, ein Spitzmaulnashorn, zu jagen. Er will seine “Big Five” vollmachen. Doch der Schuss geht im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten los. Um seine Frustration zu bekämpfen, sucht er sich ein neues Ziel aus und zwar eines, das noch viel fragwürdiger erscheint: einen indigenen Jäger…

Obwohl ich seit Kindheit Vegetarierin bin und mit Jagd nichts am Hut habe, bin ich schlicht und einfach fasziniert von diesem Buch, in dem es eigentlich nur ums Töten geht. Obwohl ich an manchen Stellen den Würgereiz kaum unterdrücken konnte, konnte ich das Buch dennoch kaum aus der Hand legen. Paradox, aber genau das leistet gute Literatur, nämlich dass man plötzlich eine völlig andere Position einnehmen kann als die eigene. Wie die Autorin es geschafft hat, den afrikanischen Busch und die dortigen Vorgänge von ihrem belgischen Schreibtisch aus zum Leben zu erwecken, ist aller Ehren wert. Sie hat, so sagt sie und so wird es in “Trophäe” mehr als deutlich, sehr viel und gründlich recherchiert: Wann jagen Skorpione (nicht bei Vollmond), können Laufkäfer rückwärts laufen (nein), welche Savannengeräusche sind zu welcher Tages- und Nachzeit hörbar, wie greifen die bestimmten Tierarten an und wie gefährlich sind sie. Die Liste ist beliebig erweiterbar. 

Die Welt der indigenen Jäger zu “erlesen” war eine ganz besondere Erfahrung, die wohl wenig Außenstehende in der Realität wirklich zu sehen bekommen. Sie tanzen im Buch andere Tänze als für die zahlenden weißen Touris. Die metaphysische Komponente des Romans hat mich gleichermaßen irritiert und fasziniert, wenn auch aus einer sehr nüchternen Beobachter-Perspektive heraus. Tanz, Trance und Träume: “Niemand ist noch jemand, niemand ist noch er selbst, jeder ist jeder und alle sind eins.” (S. 158) Auch Hunter wird von Erinnerungen heimgesucht, vor allem an seinen Vater und Großvater, die selbst Jäger waren. Ihre Erfahrungen und Jagd-Geschichten vermischen sich mit der afrikanischen Realität und Umwelt vor seinen Augen: Tagträume, Halluzinationen.

Hunter ist, so sagte die Autorin, eher eine Parabel als ein realitätsnaher Protagonist. Deswegen auch der plakative Name Hunter White. Er steht für etwas, für den “White Gaze”, also die weiße Sicht auf Afrika, natürlich extrem zugespitzt. Auch seine Frau, die als Charakter nur ganz am Ende kurz auftaucht, aber in Hunters Gedankenwelt eine größere Rolle spielt, kommt mir sehr überzeichnet vor. Ihre Schrumpfkopfsammlung und Vorliebe für Mumien ist schon sehr bizarr und ich kann mir keinen weiblichen (vernünftigen)  Menschen vorstellen, der wirklich so einer morbiden Leidenschaft nachgeht. 

Als mir die Autorin nach der Lesung das signierte Buch überreichte, sagte sie mit einem Augenzwinkern: “Ich würde ja sagen ‘viel Spaß’, aber…”. Nein, Spaß im herkömmlichen Sinne hat man beim Lesen dieses Buches sicher nicht. Schoeters spielt mit unseren Moralvorstellungen und bringt uns an die Grenzen des Erträglichen. All das in einer glasklaren Erzählweise, in der kein Wort überflüssig ist. Ein faszinierender Roman, den sicher keiner, der ihn liest, je vergessen wird. 


Samstag, 4. Mai 2024

"Die Brontës gingen zu Woolworths" von Rachel Ferguson


“Vor drei Jahren wurde mir ein Heiratsantrag gemacht. Obgleich ich denjenigen wirklich gernhatte, konnte ich seinen Antrag nicht annehmen, denn ich war gerade in Sherlock Holmes verliebt. Der Meisterdetektiv, seine Persönlichkeit und sein Verstand weckten damals so heftige Gefühle in mir, dass kein lebender Mann damit konkurrieren konnte.” (S. 12)

Ihr werdet jetzt vielleicht sagen: Ja gut, im Zeitalter von “Bookboyfriends” (und “-girlfriends”) nichts Neues, ich war auch schon schwer verliebt in so ein fiktives Exemplar. Aber diese Worte spricht die 20-jährige Ich-Erzählerin Deirdre im Roman “Die Brontës gingen zu Woolworths” von Rachel Ferguson. Er erschien im Jahr 1931, wurde aber erst 2023 von Sabine Reinhardus für den Nagel & Kimche-Verlag ins Deutsche übersetzt. Eine wiederentdeckte Klassikerin sozusagen.

Dieser Roman ist verrückt - anders verrückt. Die Familie Carne besteht seit dem Tod des Vaters aus der Mutter, Mrs. Carne und ihren drei Töchtern Katrine, Schauspielerin, Deirdre, Journalistin und der jungen Sheil, die von einer Hauslehrerin unterrichtet wird. In ihrem Londoner Stadthaus haben sie sich ihre eigene Fantasiewelt erschaffen: Sie spielen Rollenspiele, imitieren (berühmte) Persönlichkeiten und werfen sich gegenseitig Insider-Witze zu. Sie haben sich eine fiktionale Bubble aufgebaut, die für Außenstehende schwer zu durchdringen ist. Eine der “Obsessionen” der Familienmitglieder ist der ältere, kürzlich zum Ritter geschlagene Richter Sir Herbert Toddington, den die Mutter Mrs. Carne bei Gericht kennenlernte, als sie dort als Geschworene tätig war. Die Familienmitglieder nehmen ihn als Figur in ihre fiktive Welt mit auf. Doch als sie ihn und seine Frau Mildred wirklich kennenlernen und Umgang mit ihnen pflegen, steht der von der Familie Carne selbstgesponnene Kokon aus Fiktionalität plötzlich auf dem Kopf. Und als sie bei ihrem Familienurlaub in Yorkshire im Rahmen einer Séance die Brontë-Schwestern “treffen”,
haben die Carnes plötzlich mehr Besucher:innen, als ihnen lieb ist…

Die Außenansicht auf die Familie Carne liefert die nüchterne und pflichtbewusste Hauslehrerin Agatha Martin. Sie kann mit der exzentrischen Art der Familie, für die sie arbeitet, so gar nichts anfangen und lässt sich in Briefen an die eigene Familie über deren Kapriziosität aus. Wir als Lesende sind sicher an vielen Stellen ähnlich verwundert wie die Gouvernante und froh, dass wir nicht wie Ms. Martin mit der Familie Carne zusammenleben müssen.

Das Buch ist dialoglastig, skurril, witzig und - für einen klassischen Roman - total abgedreht. Ein Text, der mich sehr überrascht und stellenweise verwirrt hat. Ein quirliges Kuddelmuddel an intertextuellen und kulturhistorischen Referenzen, das aber sicher seine moderne Leserschaft finden wird. Hat Spaß gemacht!


Donnerstag, 2. Mai 2024

Realtalk: Bloggerboxen und Rezensionsexemplare


Realtalk Bloggerboxen/Rezensionsexemplare: Ich habe nochmal, auch angeregt durch eure wertvollen Kommentare (vielen Dank) zu meinem letzten Realtalk, über das Thema intensiver nachgedacht, also vor allem über die Boxen, die Buch-Blogger:innen mit einer gewissen Followeranzahl (meist ab 1500) bekommen. Meistens machen die Blogger:innen ein Unboxing, in dem sie sich für die Box bedanken und erzählen, wie toll sie ist und wie gespannt sie auf das Buch sind. Einige Zeit später folgt dann meist die Rezension. Das soll Aufmerksamkeit für das Buch schaffen. Soweit, so unangenehm. Denn warum kann Literatur nicht mehr für sich selbst stehen? Braucht es für die Blogger:innen, die diese Boxen bekommen, einen zusätzlichen Anreiz, das Buch zu lesen und vorzustellen? Warum denken die Verlage, dass gerade diese Bücher zusätzliche Promotion brauchen? 

Klar könnte man darüber nachdenken, ob Rezensionsexemplare an sich (ohne Box) auch die Meinung beeinflussen. Würde man das Buch lesen, wenn man es nicht als Rezensionsexemplar erhalten hätte? Ich kann nur für mich sprechen: Ich beziehe die meisten Rezensionsexemplare seit vielen Jahren über vorablesen (herzlichen Dank an dieser Stelle) oder lovelybooks, wo es ohnehin eine Verlosung ist. Das finde ich fair und so können auch Leser:innen, die nicht direkt bloggen, an Rezensionsexemplare kommen. Aber ich bewerbe mich natürlich nur, wenn mich ein Buch aufgrund der Leseprobe wirklich interessiert. Alles andere wäre ja kontraproduktiv, denn ich muss das Buch ja lesen und rezensieren. Das trifft auch auf die wenigen Bücher zu, die ich direkt bei einem Verlag (kommt fast nie vor, weil ich dafür auch für die meisten zu klein bin und diese oft erst ab 1000 IG-Follower:innen mit Blogger:innen zusammenarbeiten), einer Agentur wie Buchcontact bzw. dem Bloggerportal (auch hier herzlichen Dank, denn die meisten Bücher bekomme ich seit Jahren trotz “weniger” Follower:innen) anfrage. Die allermeisten Bücher kaufe ich mir selbst und kleinere Verlage will ich sowieso unterstützen, da würde mir gar nicht einfallen, um ein Rezensionsexemplar zu bitten. (Außer, es wird mir explizit angeboten von den Autor:innen oder Verlagen). Diese Info nur, um es für euch transparenter zu machen, wie ich bezüglich meiner Rezensionen von außen unterstützt werde. Ich bin sehr dankbar dafür.

Aber zurück zu den Bloggerboxen. Was löst das in uns “Nicht-Begünstigten” aus, wenn andere ihre Bloggerboxen in die Kamera halten? Wollen wir unbedingt zum Buchladen rennen und uns das Buch besorgen? Auch wenn wir es nicht umsonst mit Postkarten, Tote-Bag und Tasse mit Covermotiv bekommen? Denn diese Goodies sind natürlich exklusiv, nur die Auserwählten bekommen sie. Nachkaufen bei Gefallen: Meist nicht möglich, denn sie wurden im Regelfall exklusiv für die Boxen produziert. Ein Produkt nur für Auserwählte. Und auserwählt wird man nur, wenn man eine gewisse Reichweite hat - that's the game.

Dass das alles bei vielen eher doch ein wenig Neid und Ablehnung auslöst, dürfte auf der Hand liegen. Manche mag es auch völlig kalt lassen. Bei mir ist dieses neidvolle Unbehagen allerdings meistens nicht auf die Box selbst gerichtet, weil ich die meisten Bloggerbox-Bücher nicht gerne lesen würde (ich sehe den Zusammenhang zwischen in Wahrheit eher mittelmäßiger Literatur und Bloggerbox immer stärker), sondern tatsächlich auf die Likes und Kommentare der (größeren) Verlage, die es natürlich toll finden, wenn man das Unboxing und die Rezension, die sich aus der “liebevoll gepackten” Box ergeben, auch posted. Ich habe es schon an der ein oder anderen Stelle und auch im letzten Realtalk erwähnt, will es aber noch ein letztes Mal wiederholen: Kleinere Blogger:innen wie ich können von Likes und Kommentaren der großen Verlage (kleinere Verlage sind da oft ganz anders und bei diesen bedanke ich mich an dieser Stelle dafür, dass sie sich auch für die kostenlose Werbung für ihre Bücher mit Likes, Comments und Shares bedanken ❤) oft nur träumen. Und dabei sind es genau diese Verlage, die oft mehrere Angestellte haben, die sich nur mit Social Media befassen und man könnte eigentlich meinen, dass die auch mal die Posts durchschauen, in denen sie getagged werden. So viele werden das pro Tag (zumindest bei deutschen Verlagen) auch nicht sein. Aber nein, hat man die erforderliche Reichweite nicht, kann man noch so gute Rezensionen schreiben, man wird meist ignoriert. (Positive Ausnahmen gibt es aber natürlich wie den Suhrkamp und den Hanser Verlag).

Und da kommt doch eine gewisse Frustration auf, denn auch wenn das Buchbloggen ein freiwilliges Hobby ist, man investiert doch seine Zeit und einiges an Herzblut. Und ich muss nicht mit Geschenken überschüttet werden, damit ich ein Buch lese. Aber ein freundliches Wort, das motiviert - zumindest mich - ungemein. Hierbei auch vielen Dank für all eure Kommentare. Jedes positive Wort wird von mir geschätzt und ich bedanke mich ganz herzlich für all euren Support, in welcher Form auch immer! ❤️

Zusammengefasst: Ich finde, die Verlage tun sich mit dem doch recht “aggressiven" Marketinginstrument Bloggerbox keinen wirklichen Gefallen und fördern damit den Konkurrenzkampf und die Ungleichbehandlung unter Bloggenden. Letztlich sind die großen Verlage in der Buchbubble wie die antiken Götter, die ihre Gunst durch die Bloggerboxen zeigen. Und die Gunst fällt nur auf die, die genug Follower:innen haben, alle anderen werden weitgehend ignoriert, egal ob sie Werbung in Form von Rezensionen und Buchtipps machen oder nicht. Für mich ist das Kapitalismus und eine Form von (mir fällt kein besseres Wort ein) “Vetternwirtschaft”. Wir müssen zurückkommen zu einer weniger kapitalistisch ausgerichteten Form von Literaturbewertung. Denn: Es zählt doch eigentlich nur das, was zwischen zwei Buchdeckeln steht und genau das sollten wir letztendlich bewerten. 


Montag, 29. April 2024

"Treibgut" von Adrienne Brodeur


Es gibt zwei Gründe warum ich “Treibgut” von Adrienne Brodeur (aus dem Englischen von Karen Witthuhn, erschienen bei Kindler) gelesen habe: Zum einen wurde in der Leseprobe einer der Protagonisten des Romans vorgestellt und zwar am genauen Geburtstag meiner 8-jährigen Tochter (Tag/Monat/Jahr). Zum anderen spielt der Roman in Cape Cod und an diesem einzigartigen Fleckchen Erde durfte ich vor ca. 10 Jahren einen wundervollen Urlaub verbringen. 

Was Adrienne Brodeur wirklich meisterhaft macht in diesem Roman, ist, die Stimmung eines Jahres, das Lebensgefühl der USA und teilweise der ganzen Welt im Jahr 2016 festzuhalten. Ein Jahr, in dem die Menschheit zwischen Aufbruchsstimmung und Zukunftsangst hin- und her changierte. Ein Jahr, in dem viele die Hoffnung hatten, dass eine Frau zum ersten Mal an der Spitze der freien Welt stehen und viele männlich gemachte Konflikte auslöschen würde. Vielleicht auch der Glaube, dass der Klimawandel noch zu stoppen sei. Heute, aus der Perspektive des Jahres 2024 wissen wir: Es ist leider nicht dazu gekommen. Und heuer im November wird wieder ein (sehr) alter weißer Mann (ein schlimmer und ein weniger schlimmer) US-Präsident. Damit sind alle Hoffnungen auf Progressivität, auf Fortschritt in der amerikanischen Gesellschaft, bereits 2016 im Keim erstickt worden. Mit diesem Wissen hat Brodeur ihren Roman konzipiert.

Der Makrokosmos wird im Mikrokosmos widergespiegelt: Die unruhige Situation in der Familie Gardner ist ein Sinnbild für die Lage der Nation und der Welt. Der Patriarch und Meeresbiologe mit Spezialgebiet Wale, Adam Gardner, Ph.D. aus Cape Cod, steht kurz vor der Verrentung und seinem 70. Geburtstag am 18. August - die Feier ist das Ereignis, auf das die ganze Handlung zusteuert. Adam kämpft mit Depressionen und lässt sein ganzes Leben Revue passieren. Ein Leben, in dem er bahnbrechende Erfolge auf dem Gebiet der Meeresbiologie einstreichen konnte, aber privat auch mehrere Rückschläge. Der schlimmste Schicksalsschlag war der Verlust seiner Frau mit 30 Jahren, nur wenige Stunden nach der Geburt seiner Tochter Abby. Er musste sie und deren dreieinhalb Jahre älteren Bruder Ken allein großziehen, zwei weitere Ehen sind gescheitert. Adam hadert mit seiner eigenen Vergänglichkeit: “Das war das ultimative Paradox des Menschseins: die Sehnsucht nach Vitalität in einer Welt, die der Verwesung unterlag.” (S. 395)

Die nächste Generation der Familie hingegen befindet sich in einer Art angespannten Aufbruchsstimmung: Die erfolgreiche Künstlerin Abby Gardner ist mit 38 Jahren zum ersten Mal schwanger - von ihrem verheirateten Jugendfreund David, einem Wahlkampfhelfer von Hillary Clinton. Ken wiederum befindet sich in einer Ehekrise mit Jenny, der besten Freundin von Abby, mit der er zwei zwölfjährige Zwillingstöchter hat. Der finanziell erfolgreiche Immobilienunternehmer, der für die Republikaner in den Kongress einziehen möchte, kämpft vor allem gegen seine eigene Psyche und die Traumata der Vergangenheit…Und dann wäre da noch Steph, ebenfalls 38 und gerade von ihrem Sohn Jonah entbunden. Die in einer glücklichen Beziehung mit ihrer Partnerin Toni lebende Polizistin erfährt, dass sie Adam Gardners uneheliche Tochter ist und möchte jetzt ihre eigenen Wurzeln kennenlernen. Doch wie viel Aufregung verträgt das fragile familiäre Konstrukt der Gardners? Kommt es zur Jubiläums-Eskalation?

Da es sich bei “Treibgut” um einen klassischen Familienroman handelt, in dem die Innensicht der verschiedenen Familienmitglieder erzählt wird, hat sich Brodeur für die multiperspektivische Erzählweise entschieden. Die Kapitel sind jeweils abwechselnd aus der Sicht von Adam, Abby, Ken, Jenny und Steph erzählt. Die Handlung beginnt im April 2016 und endet im Oktober. 

Natürlich könnte man bei diesem Roman kritisch einwenden, dass die Figurenzeichnung leicht ins Klischeehafte abdriftet: Der Patriarch ist der “verträumte” Wissenschaftler bzw. Meeresbiologe. Meeresbiologe ist für mich so ein klassischer “Roman-Beruf”, ich glaube wenn es in Wirklichkeit viele Meeresbiologen gäbe wie in der Literatur, dann wäre dieser Berufszweig ziemlich “überschwemmt”, oder? Und dann die jüngere Generation: Die lesbische Polizistin aus der irisch-katholischen Arbeiterfamilie, die feministische Künstler-Tochter vs. der republikanische Immobilienmogul-Bruder, der mit der anderen (ehemaligen) Künstlerin/Feministin verheiratet ist, die jetzt im goldenen Käfig als Hausfrau und Politikergattin lebt. Schon leicht schematisch für meine Begriffe, aber gut, vielleicht wurde hier bereits an eine Verfilmung gedacht und dafür passen all diese Charaktere perfekt.

Da die Garners in Cape Cod direkt an der Küste leben, Abby für ihre Kunst Treibgut sammelt und Adam eben Meeresbiologe ist, ist die ganze Stimmung dieses Romans sehr maritim. Biodiversität, Nachhaltigkeit, Umwelt-, Tier- und Klimaschutz sind Themen, die immer wieder zwischen den auf die familiäre Situation bezogenen Plot-Elementen hervorleuchten, ohne dass es aufdringlich erscheint. Wer also Romane mit ökologischem Bewusstsein mag, die am Meer spielen und in denen es allerlei maritime Metaphorik gibt, ist hier genau richtig.

Dieser Familienroman ist mit Sicherheit kein literarisches ”must read”-Meisterwerk, aber er ist auch keinesfalls seicht oder gar schlecht. Sicher versetzt er einen total zurück ins Jahr 2016 und das ist für meine Begriffe schon mal eine sehr lobenswerte Leistung.

Herzlichen Dank an den Kindler (Rowohlt) Verlag und Vorablesen für das Rezensionsexemplar!

Mittwoch, 24. April 2024

"The Dangerous Kingdom of Love" von Neil Blackmore


Seid ihr interessiert am Genre “Queer Historical Novel”, in dem queere Charaktere und ihre Lebenswelten im historischen Kontext erzählerisch ausgearbeitet werden? Liebt ihr es, die Intrigenspiele an Königshäusern aus fernen Jahrhunderten so hautnah mitzubekommen, als wärt ihr eine Maus unter einem brokatbesetzten Mantel eines verschlagenen Höflings? Mögt ihr vielschichtige Ich-Erzähler:innen und Protagonist:innen, die die Leser:innen ansprechen und sie zu Kompliz:innen machen? Mögt ihr augenzwinkerndes, humorvolles Erzählen, was aber dennoch nachdenklich macht? Ihr lest gerne auf Englisch bzw. euch macht es nichts aus, wenn ein englischsprachiges Buch noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde?

Wenn ihr nun all diese Fragen mit “ja” beantwortet habt, dann schnappt euch “The Dangerous Kingdom of Love” von Neil Blackmore und fangt an zu lesen.

Der Roman beruht - zumindest was den Großteil seines historischen Personals betrifft - auf wahren Tatsachen. Wir schreiben zunächst das Jahr 1613. Der Ich-Erzähler dieses Romans ist niemand geringeres als Francis Bacon (1561-1626), englischer Philosoph, Staatsmann und Schriftsteller. Bereits in der “Author's Note” schwärmt selbiger in höchsten Tönen von seinem schlagfertigen Protagonisten und Ich-Erzähler: “Oh, and Francis Bacon changed the world." And he changed your life.” Welche modernen Errungenschaften auf Bacon zurückgehen, kann man im Internet nachlesen. Aber zurück zum eigentlichen Plot: Bacon ist am Hof von König James (Jacob) I. als Staatsbeamter und königlicher Berater hoch angesehen. Doch mehr Einfluss auf den homosexuellen König als Bacon hat dessen Günstling und Liebhaber, der Höfling Robert Parr. Was ein offenes Geheimnis ist: Der unverheiratete Bacon ist selbst dem eigenen Geschlecht zugeneigt. Als Parr vom König mit der adeligen Frances Howard verheiratet wird, verlässt er auch James’ Bett, nimmt aber weiterhin Einfluss am höfischen Geschehen. Die verschmähte Königin Anne und ihr Vertrauter Bacon schmieden ein Komplott: Sie wollen einen neuen - jungen und wunderschönen - Günstling für das Schlafgemach des Königs. Dieser wird nicht schnell aber schließlich doch gefunden: George Villiers, der Sohn eines Landadeligen, soll den Platz von Robert Carr einnehmen. Doch als Bacon den jungen Mann kennenlernt, befördert er George nicht nur an die Seite des Königs, sondern auch noch direkt in sein eigenes Herz…

Im Roman geht es vor allem darum, am Beispiel von Bacon aufzuzeigen, wie schwierig das Leben für queere Menschen in früheren Jahrhunderten war. S*x war zwar zu bekommen, aber jedes Mal mit vielen Gefahren verbunden. Auch Bacon riskiert im Roman fast sein Leben, als er die schnelle Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses sucht. An Liebe oder eine Beziehung zwischen Menschen des gleichen Geschlechts war nicht mal zu denken. Schließlich riskierte man, wenn man als “Sodomite” angeklagt wurde, die Verurteilung und sichere Hinrichtung. Deshalb nennt Bacon die Liebe ein “gefährliches Königreich”. Als er sich in George verliebt, phantasiert dieser, wie es wäre, wenn sie heterosexuelle Eheleute wären, ein einfacher “country husband and his wife”. Und tatsächlich ist es auch diese “Kuschelszene”, in der George diese Phantasie gesteht, die die Leser:innen mitten ins Herz treffen dürfte. Zwar durfte sich der König einen Liebhaber halten (er war der König), aber selbst für einen Staatsmann wie Bacon war eine Offenbarung der eigenen Homosexualität ein Ding der Unmöglichkeit. 

Bei aller Tragik, bei allen Intrigen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (es gibt sogar ein Mordkomplott), die in diesem Buch beschrieben werden, vermittelt uns Blackmores Version von Bacon seine Geschichte in einem augenzwinkernd-selbstironischen Ton. Es gibt in diesem Roman Sätze, die haben fast schon das Niveau eines Aphorismus von Oscar Wilde, wenn Blackmore sie nicht bei ihm geklaut hat (“You never expect beautiful people to be funny.” S. 122). Außerdem werden die historischen Persönlichkeiten nicht wenig durch den Kakao gezogen. So ahmt Blackmore (Bacon) den schottischen Slang von James I. (“Beicon, there ye fucking are!”, S. 11) so herrlich nach, dass ich innerlich oft Tränen gelacht habe. Als Shakespeare-Fan kann ich allerdings Bacons Abneigung gegen den “Bard” nicht teilen. Shakespeare wird bei ihm als wenig schlagfertiger Bühnenschreiberling dargestellt, sein Zeit- und Berufsgenosse Ben Johnson kommt da schon etwas besser weg.

Dieser historische Roman ist einfach ein Wechselbad der Gefühle mit einem ganz starken Protagonisten und Ich-Erzähler. Um es auf Englisch zu sagen (weil das auf Deutsch ziemlich merkwürdig klingen würde): I very much enjoyed myself while reading it. I hope you do, too.

Freitag, 19. April 2024

"Der Hirtenstern" von Alan Hollinghurst


Der Begriff “L'art pour l'art” bezeichnet ja eine Kunst, die nur um ihrer selbst willen existiert. Sie hat keinerlei “Sinn und Zweck”, keine politische Botschaft oder sonst ein Anliegen - sie “ist” einfach. Oft musste ich an diese Kunstströmung denken, als ich “Der Hirtenstern” von Alan Hollinghurst gelesen habe. Denn der Protagonist Edward Manners zelebriert die Kunst der Begierde um ihrer selbst willen. Die Verliebtheit in seinen Schüler Luc ist nichts anderes als praktizierter Hedonismus.

“Der Hirtenstern” ist bereits 30 Jahre alt. 1994 wurde er auf die Shortlist des Booker Prize gesetzt. Erst im Jahr 2022 wurde “The Folding Star” für den Albino Verlag von Joachim Bartholomae ins Deutsche übersetzt. 

Die Handlung des Romans spielt sich im Herbst 1991 ab. Der 33-jährige Engländer Edward Manners kommt als Privatlehrer in eine nicht genannte mittelgroße alte belgische Stadt in Flandern - man vermutet es ist Brügge. Der homosexuelle Manners erkundet abends die örtliche Schwulenszene und unterrichtet tagsüber zwei männliche Teenager in Englisch, Marcel und Luc. Marcel ist der Sohn des Direktors eines Kunstmuseums, das den Werken des verstorbenen (fiktiven) Malers Edgard Orst (er spielt eine wichtige Rolle im Roman) gewidmet ist, Edward wird sein Assistent. Edward verliebt sich aber in den siebzehnjähren Luc, der davon erstmal lange nichts mitbekommt. Die Verliebtheit ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans sowie das Empfinden des Ich-Erzählers Edward.

Hollinghursts Prosa ist allererste Sahne. Der Mann kann absolut mit Worten umgehen und aus ihnen Kunst schaffen. Nicht umsonst wurde der Roman 1994 auf die Shortlist des Booker Prize gesetzt, als queere Thematiken in der Literatur noch lange nicht selbstverständlich waren.

Es gibt so Sätze in diesem Buch, die sind so blumig und gespickt mit Metaphern, dass ich einfach pure Begeisterung dafür empfinde. Z.B.: “Sie benutzte immer dasselbe Parfüm, einen wundervollen Duft, der alte Klöster, Tanten, Landhäuser voller Gobelins und vertrocknete Blüten in einer Porzellanvase gewesen war, bevor er zu dem wurde, was immer er jetzt war, eingefangen in stilvolle Phiolen, die ein Herbalist aus Mayfair an gepuderte Witwen in schwarzen Pumps verkaufte.” (S. 221f.) Oder: “Ich spürte, wie der Geist der Zeit, den ich heraufbeschworen hatte, an mir vorbeizog wie ein nächtlicher Wind in den Wäldern, der um einen einsamen Schuppen oder eine lang verlassene Nissenhütte weht, wo zwei Jungen bei einem dürftigen Feuer aus Zweigen und Abfall hocken und plaudern.” (S. 347). Sorry, aber in solche Sätze kann ich mich einfach reinsetzen. Wenn sie ein Getränk wären, würde ich sie ausschlürfen und mich daran berauschen. Das ist für mich Literatur! Hier muss natürlich auch dem Übersetzer Joachim Bartholomae Beifall gezollt werden.

Es geht in diesem Roman - für ein literarisches Buch - sehr viel und explizit um S*x (ich verfremde das Wort, um Bots abzuhalten). Zum einen wird der S*x zwischen dem Protagonisten und seinen Fast-Lebensgefährten Cherif und Matt ausführlich beschrieben. Durch das “Fetischbusiness” des extrovertierten Matt wird das Thema zusätzlich in den Fokus gerückt. Er klaut u.a. getragene Unterwäsche aus Schwimmbädern und verkauft sie zu horrenden Preisen weiter. Außerdem kopiert und verkauft er Schwulenpornos, damals noch als VHS-Kassetten, die er mit der Post unter die Leute bringt.

Was Hollinghurst meisterhaft einander gegenüberzustellen vermag, ist die Banalität von S*x im Gegensatz zur Erhabenheit des Begehrens. Während S*x wie alle körperlichen Bedürfnisse eigentlich ein ziemlich simpler Vorgang und vom Prinzip Essen bzw. dem Gegenteil davon furchtbar ähnlich ist, spielt sich die eigentliche Erotik immer im Kopf ab. Nicht umsonst ist das Gehirn das größte S*xualorgan des Menschen. Und was ist schon ein erfülltes Bedürfnis im Gegensatz zum Begehren, zur Erotik des “Vielleicht”. Sind es nicht die unerwiderten, einseitigen Liebesgeschichten, die uns ein Leben lang verfolgen? Das Motiv, Kunst zu schaffen, entsteht oft durch einen Mangel heraus. Der Mangel ist der Zustand, der uns hoffen und wünschen lässt. Und diesen Zustand hat mir Hollinghurst meisterhaft erzählt.

Dennoch muss ich leider sagen, dass ich dann doch froh war, als ich diesen 620-Seiten langen Roman beendet hatte. Für mein Empfinden ist das Buch wirklich gute 200 Seiten zu lang. Hollinghurst verliert sich oft so in Details, Kleinigkeiten und Verkünstelungen, die ich als redundant empfand. Auch die ganze Background-Story um Edgard Orst war mir viel zu ausufernd. Im Mittelteil, als Edward zur Beerdigung seines Ex-Freundes nach England reist, kommen so viele Szenen mit random eingeführten Personen vor, die ich einfach nur überflüssig fand. Also ein bisschen muss ich leider sagen, dass dieser Roman “zurecht” etwas übergangen wird im Gegensatz zu anderen Werken des Autors. Nichtsdestotrotz finde ich die Übersetzung hervorragend, die Covergestaltung ist auch sehr stimmig und jede/r soll sich natürlich selbst ein Bild machen, ob es ihm/ihr genauso geht. Im Albino-Verlag ist auch die “Schwimmbadbibliothek” erhältlich, das nächste Buch von Hollinghurst, das ich lesen werde.

Fazit: Sprachlich erste Klasse, aber vom Unterhaltungsaspekt (also wie angenehm das Buch im Ganzen zu lesen ist) eher schwierig und leider viel zu lang.

Montag, 15. April 2024

"Leute von Früher" von Kristin Höller

Schein und Sein im Wattenmeer 

Untergegangene Inseln tragen immer gerne zur Mythenbildung einer Kultur bei. In der Nordsee ist es die Insel Strand mit dem legendären untergegangenen Ort Rungholt, der die Menschen an der Künste und darüber hinaus noch bis heute fasziniert. Obwohl es die Insel Strand heute nicht mehr als Ganzes gibt (die Reste der Insel sind heute die Inseln Nordstrand, Pellworm und die Hallig Nordstrandischmoor), bezeichnet Kristin Höller ihren Schauplatz in “Leute von Früher” schlichtweg als Insel “Strand”.

Auf Strand heuert die 29-jährige Marlene aus Hamburg als Saisonkraft in einem Museumsdorf an. Schnell wird das Leben zwischen Containerunterkunft und Kostümgrenze mit ihrem Arbeitsplatz im Kramladen bei Arno zur eingespielten Routine. Ihr Leben in Hamburg, die noch junge Beziehung zu Paul, ihre besten Freund:innen Luzia und Robert, die Eltern, die einen Prozess am Laufen haben - alles nur noch eine ferne Erinnerung. Dazu trägt auch die geheimnisvolle Janne bei, die in der Fischräucherei arbeitet. Die Frauen kommen sich näher, doch was ist auf der Insel im Wattermeer überhaupt echt und was nur Kulisse?

Dieser Roman ist Eskapismus pur. Ich möchte nach der Lektüre jetzt bitte auch gerne ganz dringend nach Strand, um kostümiert in diesem Dorf zu arbeiten. Ich will mit den Bewohner:innen der Insel das Johannisfest feiern, ich möchte eine Janne und ihren Räucherduft kennenlernen, ich will diesen älteren Kollegen beobachten, der immer die Sportschau auf dem Handy schaut. Natürlich möchte ich auch mit Arno und seinen Kindern einen Auflauf essen und mir von Barbara die Karten legen lassen. Aber wenn ich dann so darüber nachdenke: Vielleicht möchte ich es auch wieder nicht - und das hat nicht nur mit den Geistern der Insel zu tun, sondern auch mit dem steigenden Meeresspiegel…

Erzählweise und Sprachstil dieses auch optisch wunderschön gestalteten Buches sind unaufgeregt, bildhaft und gleichzeitig schnörkellos modern. Es wird in jedem Fall eine bestechend maritime und mystische Atmosphäre erzeugt, ohne dass es jemals “drüber” ist. Wer Freude an metaphorischen Umschreibungen für das lesbische Liebesspiel hat, wird hier auch einige finden, ich sage nur Austern und Orangenschale. Man sollte auch für magischen Realismus etwas übrig haben, denn ganz ohne ihn kommt dieses Buch nicht aus. 

Was mir besonders gefallen hat, ist die Topographie der Insel. Hier wird eine sehr spannende erzählerische Welt erschaffen, die einem schon nach kurzer Zeit sehr vertraut vorkommt. Obwohl dem Buch keine “Landkarte” beigegeben ist, baut sich die Insel im Kopf der Leser:innen zu einem perfekten Mikrokosmos auf - vom reetgedeckten Edeka, über den “Friedhof der Namenlosen” bis hin zur Fischräucherei und Jannes Zuhause in der ehemaligen Vogelwarte. Auch die ganze Mystik und Legendenbildung, um die sich alles dreht, hat mich hier nicht abgeschreckt, sondern zur Spannung des Plots beigetragen. Die erzählerische Detailverliebtheit hat mir ebenfalls sehr gefallen, vor allem wenn es um die genaue Beschreibung der Nahrungsmittel, das Umetikettieren, die Fischereiprodukte, etc. ging. Das Thema Schein und Sein wurde jedenfalls für meine Begriffe perfekt umgesetzt.

Was soll ich noch sagen, außer: Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und kann es allen empfehlen, die gute Geschichten zu schätzen wissen.

Herzlichen Dank an Suhrkamp und Vorablesen für das Rezensionsexemplar!




Samstag, 13. April 2024

"Sämtliche Erzählungen" von Franz Kafka


Kafka lesen: 100 Jahre später…

Kafka liefert Literaturwissenschaftler:innen auf der ganzen Welt seit über 100 Jahren Stoff für ihre Abhandlungen. Und doch ist sein Werk nach wie vor schier unergründlich. Nicht umsonst gibt es den Begriff “kafkaesk”, der für das Enigmatische seines Schreibens sinnbildlich geworden ist. Obwohl ich Germanistik (Neuere deutsche Literatur) im Hauptfach studiert und auch Deutsch Leistungskurs im Gymnasium hatte, habe ich bisher in meinem Leben nur wenig Kafka gelesen. “Der Prozess” und “Das Schloss” standen natürlich im Studium auf der Leseliste, ebenso “Die Verwandlung”, was ich bereits in der Schule lesen durfte. Die Erzählung über Gregor Samsa, der sich in einen nahezu immobilien Käfer verwandelt, ist auch das Werk von Kafka, das mich bisher am meisten beeindruckt hat und ergo besonders in Erinnerung geblieben ist. Nun also wollte ich es mal wieder mit Kafka versuchen - wann, wenn nicht in einem “Kafka-Jahr”?

100 Jahre werden im Juni dieses Jahres 2024 vergangen sein seit dem Tod des legendären Franz Kafka mit nur 40 Jahren, Versicherungsangestellter aus Prag, juristischer Doktor, kränklicher Junggeselle mit wechselnden Frauenbekanntschaften und Freund von Max Brod. Ja, dieser Freund ist immens wichtig für die Kafka-Rezeption, denn ohne ihn gäbe es viele seiner Werke nicht zu lesen und sein Nachruhm wäre wahrscheinlich ungleich geringer. Kafkas letzter Wille ist allgemein bekannt: Alles Unveröffentlichte sollte vernichtet werden - zum Glück hat Brod sich nicht daran gehalten. 

Kafka lesen ist kathartisch. Es ist wie ein reinigendes Gewitter, das durch dein Inneres zieht und bei dem du nicht weißt, ob Schäden entstanden sind oder ob die Kulissen deines Selbst für immer weggefegt wurden. Bei Kafka geht es oft um die Themen Schlafen und Träumen und oft wissen die Lesenden nicht, was Wirklichkeit und was Traumdarstellungen sind. Unzuverlässige Erzähler gibt es zu Hauf und manchmal ist die Erzählinstanz eben ein Hund ("Forschungen eines Hundes”) - oder ein Mensch, der in einen Käfer verwandelt wurde. Kafka lesen und danach wieder langsam in die Realität auftauchen ist wirklich wie das Erwachen aus einem skurrilen Traum voller undeutbarer Symbole und langer Gänge, die zu keinem Ziel führen. 

Bei der Lektüre dieser vor über 100 Jahren entstandenen Erzählungen ist mir mal wieder klar geworden, wie gnadenlos modern und gleichzeitig zeitlos Kafka eigentlich ist. Wenn ich zum Beispiel an das Fragment “Der Heizer” denke, wo einfach ein sexueller Angriff von einer Frau bzw. Vergewaltigung eines Mannes durch eine Frau erzählt wird. “Das Urteil”: Erschütternd und surreal, wie die Verurteilung des Sohnes durch den Vater tatsächlich vom Sohn an sich selbst qua Sprung in den Tod vollzogen wird. Dazu die bitteren, abgeklärten Schlussworte, die jedem einen Schauer über den Rücken jagen müssen: “In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.” Von der kühlen Grausamkeit, die “In der Strafkolonie” beschrieben wird, brauchen wir gar nicht sprechen. Und “Die Verwandlung”: Immer noch ein wahnsinnig guter Text über das Individuum als Außenseiter, das Ich in Diskrepanz zu seinem (familiären) Umfeld. Am Ende beeindrucken mich immer wieder die starken Schlusssätze der mitunter recht kurzen Prosatexte, schmerzhaft und klar wie Peitschenhiebe.

Und dann trotz aller Schwere doch immer: die unfreiwillige Komik des Ganzen! Die Absurdität des Lebens auf die Spitze getrieben oder zu einem skurrilen Traumbild verzerrt. Grotesk, witzig, das ist Kafka eben auch. Und wer hätte gedacht, dass folgende Geste, die heute als “typisch deutsch” in Memes zu finden ist, schon bei Kafka steht (In: “Entlarvung eines Bauernfängers”): “”So!”, sagte ich und klatschte in die Hände zum Zeichen der unbedingten Notwendigkeit des Abschieds. Weniger bestimmte Versuche hatte ich schon einige gemacht. Ich war schon ganz müde.”” (S. 15)

Ich weiß nicht wie es euch geht, aber mich erreicht dieser kafkasche Humor, der ihm übrigens auch in der ARD-Miniserie zugeschrieben wird, die ich euch auch sehr empfehlen kann.

Viele Dinge bei Kafka bleiben aber eben auch rätselhaft: Beschreibt er in “Kleine Frau” eine toxische Beziehung und ist das, was er als “Klette” bezeichnet, für moderne Begriffe eine Art “Stalkerin”? Ich weiß es nicht, aber das ist auch eher Aufgabe der Kafka-Forschung, diese Dinge zu ergründen. Die Erzählungen aus dem Nachlass, herausgegeben von Max Brod, kommen teilweise noch sehr viel rätselhafter rüber für mein Empfinden, als die von Kafka veröffentlichten Texte. Man merkt eben, es sind Fragmente, so wie “Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande”, wo einfach Seiten fehlen und der Lesefluss unterbrochen ist.

Nun noch ein paar Worte zu der von mir gelesenen Ausgabe von Kafkas sämtlichen Erzählungen des Anaconda-Verlags, die mir freundlicherweise als Rezensionsexemplar vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt wurde. Erstmal besticht die wunderschöne Hardcover-Schmuckausgabe durch ihre Gestaltung mit Goldfolie und Käfer-Bett-Motiv. Mit 10 Euro ist sie auf dem Gebiet der Schmuckausgaben ein wahres Schnäppchen und es gibt bereits weitere Klassiker in der Reihe (z.B. “Frankenstein” von Mary Shelley). Natürlich muss man bedenken, dass dies KEINE kritische Ausgabe ist. D.h. es wird auf ein Vor- und Nachwort sowie auf Fußnoten, die bei wissenschaftlichen Ausgaben essentiell sind, verzichtet. Wem dies nicht wichtig ist, weil er/sie den reinen Text ohne Drumherum und Erklärungen genießen möchte, für den/die ist diese Anaconda-Ausgabe genau richtig. Auch für alle Bibliophilie veranlagten Lesenden, die einfach eine schöne Kafka-Ausgabe im Regal stehen haben möchten. 

Wenn man mich nun fragen würde: Sollte man im Jahr 2024 noch/wieder Kafka lesen bzw. damit anfangen. Meine klare Antwort lautet: Ja, unbedingt!

Danke an den Anaconda Verlag und das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar!

Dienstag, 9. April 2024

"Die Schattenmacherin" von Lilly Gollackner


Obwohl ich keine Biologin bin, habe ich einmal aufgeschnappt, dass Männer Mangelwesen seien und dass das ihnen eigene Y-Chromosom quasi nur ein kaputtes X sei. Die weitaus geringere Lebenserwartung von Männern und die höhere Sterblichkeit männlicher Säuglinge unterstreichen diese These. Dass es einmal keine Männer mehr geben könnte, weil sie quasi einer biologischen Auslese zum Opfer gefallen sind, ist dennoch eine seltsam groteske Überlegung - aber ist sie wirklich so weit hergeholt? Genau ein solches Szenario - eine Welt, die nur noch aus weiblichen Wesen besteht - entwirft Lilly Gollackner in ihrem Roman “Die Schattenmacherin”, erschienen im März 2024.

Die Welt im Jahr 2068 ist eine andere, wie wir sie heute kennen. Männer gibt es schon lange nicht mehr, im Jahr 2034 wurden alle “androtoken Homo Sapiens” von einer mysteriösen Seuche hinweggerafft. Eine Welt, die durch Klimawandel, Verdichtungskriege und Umweltzerstörung ziemlich klein und fast unbewohnbar geworden ist, in der Pflanzen ein Vermögen kosten und man sich ohne “Protektionscreme” und Schutzmaßnahmen keinesfalls der unbarmherzig brennenden Sonne aussetzen darf - ein Horrorszenario. Eine Welt, in der nur noch 283 469 Menschen leben…

Im Mittelpunkt der Handlung steht zum einen Ruth, seit 2036 “die Präsidentin” der noch bewohnbaren Welt, die mit ihren 70 Jahren von einer Jüngeren, Ania, abgelöst werden soll. Die Präsidentin hat in dieser potenziellen Zukunftswelt die Entscheidungsgewalt über “die fünf Bereiche, auf denen unsere Gemeinschaft fußt: Versorgung, Technologie, Wasser, Fortpflanzung und Sicherheit” (S. 66). Ruth hat Probleme mit ihrer Absetzung, mit ihrem “zukunftslosen” Dasein: “Was sie nicht akzeptieren kann, ist der emotionale Kontrollverlust. Dieses Fallen, Stürzen in die Erinnerung, ausgelöst durch Blicke und Gerüche. Als würde sich das Hier und Jetzt zersetzen in den Nebelgranaten des gelebten Lebens.” (S. 42) 

Mir hat diese Klima-Dystopie literarisch sehr gefallen und mich thematisch gleichzeitig schockiert. Sie holt uns aus unserer gedanklichen Komfortzone und führt uns mit erschreckend nüchterner Präzision die möglichen Folgen eines menschengemachten Klimawandels vor Augen. Natürlich können nicht mal Zukunftsforscher:innen voraussagen, wie genau die Zukunft tatsächlich wird, aber Gollackner zeichnet in ihrem Roman eine mögliche Version derselben: Die freie Natur ist aufgrund der unbarmherzigen Sonneneinstrahlung ohne Schutzmaßnahmen unbetretbar geworden, die verbliebenen (weiblichen) Menschen leben unter gläsernen Kuppeln, Wälder sind absolute Schutzzonen, Wasser ein seltenes Gut. Ruth erinnert sich wie sie vor 40 Jahren (also etwa in unserer Gegenwart) Pola kennenlernte und diese damals schon vor der Wasserknappheit gewarnt hatte: “Versiegelung, trockene Böden, ausbleibende Regenphasen. Leergepumpte Grundwasserreservoirs.” (S. 48) Außerdem wird der Menschheit in dieser Phase klar, dass das “Patriarchat als Mittäter an der Vernichtung der Lebensgrundlagen” (S. 48) anzusehen ist: “Eine Frau zu sein, war das schon ein politischer Akt?” (S. 48)

“Die Schattenmacherin” ist ein feministisches Manifest, das für Vielfalt - auch menschliche - plädiert. Außerdem werden moralisch-ethische Fragen und der menschliche Umgang mit schweren Verlusten anhand der Protagonistin Ruth thematisiert. Das Buch macht außerdem mehr als deutlich, dass wir unsere Zukunft letztlich selbst in der Hand haben. Wir dürfen nicht zulassen, dass es eine solche Horror-Zukunft wie in “Die Schattenmacherin” sein wird und deswegen sollten wir sofort alles dafür tun, unseren Planeten zu retten. Wenn das nur so einfach getan wäre wie gesagt und nicht die größte Kollektivaufgabe, vor der die Menschheit vermutlich jemals gestanden ist…

Ich muss die Lektüre dieses Romans wohl etwas länger sacken lassen. Wenn einem eine solch erschreckende Zukunftsvision in so klaren und eindrücklichen Bilder vorgezeichnet wird, dann macht das etwas mit einem. Auch bin ich mir sicher, dass der Terminus “Androtoke” niemals mehr aus meinem passiven Wortschatz verschwinden wird. Schwere Themen auf relativ wenig Seiten sehr gekonnt umgesetzt - ich bin begeistert, bedrückt und bezaubert von diesem Buch. Letzteres vor allem von seinem Ende, das Hoffnung macht, Hoffnung auf eine bessere Zukunft!

Herzlichen Dank an Kremayr Scheriau und Buchcontact für das Rezensionsexemplar!

Dienstag, 2. April 2024

"Ein schönes Ausländerkind" von Toxische Pommes

Wer “Toxische Pommes” (im Folgenden von mir “Pommes” genannt, weil sie ihr Buch auch so signiert hat) von ihren Internetvideos her kennt, weiß, dass es kaum eine*n Content Creator*in gibt, die beißende Gesellschaftskritik so humorvoll/ironisch/satirisch verpacken kann wie sie. Und auch beim Romandebüt der mit Vornamen eigentlich Irina heißenden Wiener Juristin dürfte so mancher/m Leser:in oft das Lachen im Hals stecken bleiben.

Pommes beschreibt in ihrem Roman mit dem provokanten Titel “Ein schönes Ausländerkind” (dessen Cover mit der Fotografie eines ausgestopften Babylammes, was laut Nachwort ziemlich schwer zu finden war, nicht weniger provokativ anmutet) die Geschichte ihres eigenen Aufwachsens in autofiktionaler Form, sprich: Es handelt sich um einen Roman mit einer namenlosen Ich-Erzählerin, der sich stark an der Biographie seiner Autorin orientiert, ohne eine 1:1-realistische Abbildung derselben zu sein.

Die Ich-Erzählerin beschreibt, wie sie mit ihren Eltern, die serbischer (Vater) bzw. montenegrinischer (Mutter) Abstammung sind, ihre Heimat Kroatien als kleines Kind während der Balkankriege der 1990er Jahre verlassen hat, um in Österreich sesshaft zu werden.

Der Roman erzählt von der Fallhöhe, die die Immigration in ein anderes Land mit sich bringt: Die Mutter, die eigentlich studierte Pharmazeutin ist, muss in Österreich als Putzkraft/Nanny bzw. “Mädchen für alles” bei der Familie arbeiten, bei der sie kostenlos im ehemaligen Haus der Großmutter wohnen können. Der Vater, eigentlich Schiffsbauingenier, bekommt in Österreich keine Arbeitsgenehmigung und ist zu einem Dasein als unfreiwilliger Hausmann verdammt. Dies macht etwas mit seiner Psyche, er kümmert sich zwar liebevoll um seine Tochter, zieht sich aber immer mehr in sich selbst zurück.

Und da sind natürlich die vielen Vorurteile, die Menschen anderer Herkunft oft entgegengebracht werden. Pommes beleuchtet sozusagen die Fallstricke der Integration. Als Immigrat:in muss man häufig um so viel besser sein als die besten “Einheimischen”, um mithalten zu können. Das bekommt auch die Ich-Erzählerin zu spüren, als sie, obwohl sie Klassenbeste in ihrer Grundschulklasse war, vom Lehrer nur eine Empfehlung für die Hauptschule bekommt. Und als sie später dank des Einsatzes ihrer Mutter doch auf dem Gymnasium landet, gibt ihre Deutschlehrerin ihr trotz Bestleistungen keine Einser, weil sie Vorurteile hat und scheinbar zwischen “guten” und “schlechten” Ausländerkindern unterscheidet.

In diesem Roman geht es aber nicht nur um Fragen der Migration und Identitätsfindung in der neuen Heimat, sondern es wird uns auch eine ganz besondere Vater-Tochter-Beziehung erzählt. Während die Mutter nur mehr oder weniger als Statistin der dreiköpfigen Kleinfamilie fungiert und als Ernährerin eher mit Abwesenheit glänzen muss, ist der Vater rund um die Uhr für das Wohl und Wehe der heranwachsenden Tochter zuständig. Daraus entwickelt sich ein intensives Band zwischen den beiden. Es ist wirklich ganz rührend beschrieben, wie der Vater unfreiwillig immer kleiner und “unsichtbarer” und die Tochter immer “größer”, selbständiger und klüger wird. Aufgrund dessen driften die beiden wieder etwas auseinander, auch wenn die tiefe Beziehung trotz allem bestehen bleibt. Selten habe ich eine so anrührende Vater-Tochter-Beziehung gelesen.

Durch die vielen kurzen Kapitel, die jeweils ein bestimmtes Thema behandeln, ist der Roman ziemlich kurzweilig. Man kann also auch mal schnell auf dem Klo ein Kapitel lesen, wenn man das möchte, ohne von seinen Mitmenschen für eine/n Dauersitzer:in gehalten zu werden. Auch möchte uns die Autorin scheinbar die in den Balkanländern gesprochenen Sprachen (Im Roman “B/K/M/S” genannt) näherbringen, denn es gibt viele Dialogpassagen, vor allem zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Vater, die auf Kroatisch (?) geschrieben und dann in Klammern auf Deutsch übersetzt wurden. Das finde ich ziemlich gut, trägt es doch zur Authentizität des Ganzen auf bezaubernde Weise bei.

Ich kann nur sagen: Lest diesen Roman unbedingt. Er ist kurzweilig, authentisch, humorvoll, herzerwärmend und klug. Ich kann mir gut vorstellen, dass es eine Fortsetzung gibt, denn leider war er auch viel zu schnell zu Ende.

Triggerwarnungen: Fremdenfeindlichkeit, Tierquälerei, Krankheit (Krebs)


Donnerstag, 28. März 2024

"Sieben Sekunden Luft" von Luca Mael Milsch


Luca Mael Milsch erzählt in “Sieben Sekunden Luft” die aufwühlende Geschichte einer toxischen Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich einander nicht ausgesucht haben und doch für immer verbunden sind: Mutter und Tochter: “…egal, wie weit du weglaufen willst und wirst. Sie bleibt.” (S. 150) Gemeint ist die Mutter. Von Ex-Partner:innen kann man sich trennen, so etwas wie eine Ex-Mutter gibt es nicht. Die Tochter ist Selah, die Mutter wird nur “Mama” genannt, den Schritt zur Individuation der Mutter-Figur durch die Gabe eines Namens geht die Erzählinstanz nicht. Das passt ins Gefüge des Textes, denn die Mutter ist übermächtig-gottgleich in dieser Beziehung und das Göttliche hat - ich spreche hier nur für den westlichen Kulturkreis - ja auch keinen Namen außer der Bezeichnung selbst.

Wir bekommen Selahs Leben in vier Zeitebenen erzählt. 1995: Die Stimme des 11-jährigen Kindes Selah, die bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufwächst. Die Mutter hat einen Bürojob und wechselnde Männerbekanntschaften. Sie lässt ihre Tochter spüren, dass es nicht einfach ist, ein Kind ohne Unterstützung durch den Selah unbekannten Vater, der keine Alimente zahlt, durchzubringen. Ohne Zweifel hat sie narzisstische Züge, sie verlangt von ihrer Tochter Gehorsam und vor allem, dass Selah keine Probleme macht, als Persönlichkeit quasi unsichtbar ist und in der Schule sowie im Klavierunterricht brilliert. Selah macht sich klein, bekommt eine Essstörung, wird gemobbt, sexuell angegriffen und homophob beleidigt, denn sie kleidet sich nicht typisch mädchenhaft. Von all dem bekommt die Mutter nichts mit. 2006: Selah als junge Frau im Studium, das sie nicht ernst nehmen kann, orientierungslos. Sie lebt in einem WG-Zimmer und immer noch mit den Geistern der Vergangenheit zusammen. Die Beziehung zur Mutter: Schwierig und distanziert. 2017: Selah auf einer dreimonatigen Auszeit an der Ostsee mit Hund, ihr Job in der Pflege hat sie aufgerieben, die Vergangenheit reflektierend. 2023: Selah ist in einer festen Beziehung mit Ava, sie haben ein Pflegekind. Selah ist Musikerin und glücklich in einem familiären Umfeld. Allerdings steht die durch den Tod einzig mögliche Trennung von der Mutter bevor, die unheilbar an COPD erkrankt ist. Ein langsamer und nochmal alles aufwühlender Abschied.

Was mir sofort aufgefallen ist, ist die unglaublich authentische Erzählstimme. So würde ein echter Mensch tatsächlich denken, habe ich mir sehr oft gedacht, als ich Selahs innerem Monolog lauschen durfte. In diesen Worten steckt keinerlei Künstlichkeit, obwohl sie überaus kunstvoll gewählt sind. Hier ist kein Satz, keine Aussage überflüssig. In Selahs Worten manifestiert sich all das Ungesagte, all das, was gegenüber ihrer Mutter nicht artikuliert werden durfte. Selahs Mutter hat gegenüber ihrer Tochter nur eine Meinung gelten lassen - und das ist ihre eigene. Die Tochter musste sich unterordnen, Dinge machen, die ihrem Wesen zutiefst gegen den Strich gingen. Ich spreche hier nicht davon, die Spülmaschine auszuräumen, wenn man keinen Bock darauf hat. Selah wurde als Individuum nicht gesehen. Und das schlägt sich auf die Psyche eines Kindes nieder und gipfelt in mangelndem Selbstbewusstsein und Schlimmerem.

Vieles, was hier geschrieben wurde, hat Allgemeingültigkeit. Selahs Reflektionen sind starke Aussagen und ich habe mir viele Sätze rausgeschrieben, weil sie so unglaublich wahr und gut sind. Zum Beispiel diesen Abschnitt: “das gegenseitige Verletzen, versehrte Körper unter einem Dach, sich gegenseitig versehrende Menschen, eine Familie.” (S. 202) Oder:

"Du hast nie verstanden, warum Menschen nicht ihre Ruhe haben wollen, und bist erschrocken, wie sehr du es an manchen Tagen schaffst, so zu tun, als seist du einer von ihnen." (S. 134) 

Ich habe oft mit Selah mitgeführt, weil ich viele ihrer Gedanken sehr gut nachvollziehen kann.

Das Motiv des Luftholens zieht sich leitmotivisch durch den Roman und ist auch in die formale Gestaltung des Textes eingeflossen (S. 175-182). Nach einem Leben voller äußerer Zwänge und teilweisen Fremdbestimmung, ist da der Wunsch bzw. vielmehr der Drang, einmal ganz bei sich zu sein und einfach mal tief durchatmen, “aufatmen”, wie sie es nennt, zu können - und wenn es nur für sieben Sekunden ist.

Das versöhnliche Ende dieses Romans macht Hoffnung und auch wenn Selah nur eine Romanfigur ist, so freue ich mir diesen Menschen, der sich am Ende des Textes endlich selbst gefunden hat und nun freier atmen kann.

Dieses Buch ist ein Debütroman und als solcher von höchster literarischer Qualität. Ich würde mich schwer über die Jury wundern, wenn er nicht zumindest auf die Longlist des Deutschen Buchpreises kommen würde. Ein absolut perfekter Roman, an dem es nichts, aber auch gar nichts auszusetzen gibt. Dennoch möchte ich auf die zahlreichen sensiblen Inhalte in diesem Roman hinweisen. Triggerwarnungen: Homophobie/Queerfeindlichkeit, toxische Eltern-Kind-Beziehung, psychische Erkrankungen, Vergewaltigung, Mobbing, Essstörung, Krankheit/Sterben

Herzlichen Dank an Lovelybooks für die Leserunde mit Autor:in, dem Haymon-Verlag für das Rezensionsexemplar und Luca Mael Milsch für diesen wunderbaren Text.


Dienstag, 26. März 2024

"Das Mörderarchiv" von Kristen Perrin

Es gibt Romane, in denen steht die Auseinandersetzung des orientierungslosen Individuums mit einer scheinbar sinnentleerten Welt im Vordergrund- und es gibt solche, die dienen der reinen Unterhaltung der Leser:innen. “Das Mörderarchiv” gehört sicher zu letzter Kategorie, wobei die beiden Protagonistinnen, also Frances in der Vergangenheit und Annabelle in der Gegenwart, sich schon in einer ziemlich zeichenhaft-komplizierten Welt befinden, die eine Bedrohung für sie darstellt. Der einen, Frances, droht aufgrund einer Prophezeiung, die ihr als

Teenagerin gemacht wurde, die sichere Ermordung. Folgende Worte, die ihr von einer Jahrmarkt-Wahrsagerin als 17-jährige gesagt wurden, werden sie ihr ganzes restliches Leben begleiten: “Ich sehe bleiche Knochen in deiner Zukunft. Dein langsames Hinscheiden beginnt [...] sobald du die Königin in der Hand hältst.” (S. 10). Außerdem solle Frances noch auf den Vogel achten, der Verrat bringen würde. “Aber Töchter sind der Schlüssel zur Sühne.” Sie soll “die eine rechte” an sich binden. “Die Zeichen führen zu deinem Mörder.” Der anderen, Annabelle, droht der Entzug ihres Millionenerbes und vor allem der ihres Elternhauses in London-Chelsea, in dem sie auch mit Mitte 20 noch mit ihrer Künstlerinnen-Mutter, Frances’ Nichte Laura, lebt. Denn: Es kommt wie es kommen muss, Frances wird ermordet und Annie (Annabelle) muss den/die Mörderin ihrer Großtante finden. Gut dass die zu Lebzeiten ein prall gefülltes “Mörderarchiv” angelegt hat…

Wenn ich Krimis lese, dann ist das englische Herrenhaus schon eines meiner beliebtesten Settings. Gravesdown Hall - oh ja, sprechende Namen sind in diesem Roman ein großes Thema - ist natürlich ein Paradebeispiel dafür. Und auch  im dazugehörigen Dorf “Castle Knoll” ist alles so, wie es in einem englischen Cosy-Krimi sein soll. Es gibt - und ohne sie wäre dieser Krimi sinnlos - zahlreiche Verdächtige mit typischen Berufen (Gärtner, Chauffeur:in, Dorfärztin, Tierärztin, etc.), die alle ziemlich überzeichnet sind. Und dennoch: Es hat bei mir leider nicht “Klick” gemacht bei diesem Buch. 

Warum? Naja, hauptsächlich hätte ich mir gedacht, das titelgebende “Mörderarchiv” würde eine weitaus größere Rolle spielen als es das letztlich tat. Ich dachte halt, Annie nimmt sich jeweils eine verdächtige Person vor und dann die zugehörige Akte, aber das war nicht so. So dass wir selbst anhand der Indizien, die Frances so akribisch angelegt hat, nach und nach auf den Täter/die Täterin kommen. Stattdessen wird immer wieder direkt aus dem Tagebuch von Frances aus den 1960ern berichtet.

Ich fand es leider - bis auf die Grundidee - nicht überzeugend. Täter:in hat mich leicht überrascht, aber das Motiv hat mich nicht aus den Socken gehauen. Spannung war für mich ebenfalls kaum gegeben.

Fazit: Ein mittelguter Cosy-Krimi mit nettem Setting, den man nicht gelesen haben muss. Aber die Fotos sind nicht schlecht, oder? 😉

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Mittwoch, 20. März 2024

"Die Entflammten" von Simone Meier


Wenn man über ein Gericht sagt, es wäre “interessant” gewesen, dann ist das meistens kein Kompliment für die Köchin oder den Koch. Mir will allerdings vor allem das Adjektiv “interessant” in den Kopf kommen, wenn ich an den Roman “Die Entflammten” von Simone Meier denke, der momentan gefühlt in aller Hände und Köpfe ist. Formulieren wir es aber anders, denn dieses Buch ist keineswegs mit einem schlecht schmeckenden Essen zu vergleichen. Ich bin froh, dass mir diese Geschichte erzählt wurde, die ich so noch nicht kannte.

Es ist einerseits die Geschichte der historischen Johanna van Gogh-Bonger (1862-1925). Sie war die Witwe von Vincent van Goghs Bruder Theo van Gogh und machte die Werke ihres Schwagers durch geschicktes Kunstmanagement und Marketing posthum weltberühmt. Und genau über diese ihre zentrale Lebensleistung wurde mir leider zu wenig berichtet. Es wird so anerzählt, wie in etwa der Vertrieb der Kunstwerke und die Logistik des Verschickens war, dass die Bilder schlecht verpackt wurden und Beschädigungen erlitten, aber nur ganz kurz. Und dass sie ja die geniale Idee hatte, das Werk Vincents durch den Vertrieb von Postkarten niederschwellig zugänglich zu machen, das wird nur von einem ihrer späten Freunde lobend eingeworfen. Ich hätte sie gerne erlebt, wie ihr das alles eingefallen ist, aber letztendlich wird aus diesem Lebenswerk der Johanna van Gogh-Bonger, weswegen sie heute in die Kunstgeschichte eingeschrieben und unvergessen ist, nur eine kleine Episode gemacht. Und das ist schade.

Aber nun kommen alle Aspekte, die mir gefallen haben und die ich positiv hervorheben möchte: Das Buch hat zwei Erzählstränge, die zwar getrennt sind, aber sich an manchen Stellen berühren bzw. ineinanderfließen. Durch die beiden Erzählstränge ist der Roman sehr abwechslungsreich. Die Geschichte von Jo wird einmal aus ihrer Perspektive und einmal aus der Zukunftsperspektive von Gina beleuchtet. Gina ist die junge Autorin aus der Gegenwart, die Johanna van Gogh-Bongers Geschichte aufschreibt. Sehr metatextuell, denn wir lesen quasi Ginas Buch. Die junge Frau stolpert etwas orientierungslos durch ihr Kunstgeschichte-Studium, bis sie auf Johannas Geschichte aufmerksam wird. Gina sagt über Jo: “Eine junge Frau wie ein Stück Brot, unscheinbar und zugleich lebensnotwendig” (S. 100). Jo ist eine sehr pragmatische, geschäftstüchtig auftretende Protagonistin, heute würde man sagen eine “Macherin”. Wahrscheinlich ist es diese “no nonsense”-Einstellung, die ihr letztlich den Erfolg gebracht hat. Bemerkenswert war für mich: Jo machte als Frau bereits Ende des 19. Jahrhunderts einen Abschluss in englischer Literaturgeschichte. Die Abhängigkeit von einem Mann wollte sie nie und nach der nur sehr kurzen Ehe ist sie ihr auch entkommen. Johanna wurde zwar durch einen anderen Mann reich, aber das kam durch ihre eigene Initiative.

Es geht in diesem Roman nicht nur um den Vertrieb und die Vermarktung von Kunst, sondern auch darum, was Kunstrezeption mit uns machen kann, was Kunst in der Lage ist, in uns auszulösen. Gina erlebt folgendes, als sie vor Vincents blühendem Mandelzweig steht: “Ich stand davor, ich wollte meine Hand ausstrecken, wollte sie in den Blüten kühlen [...] das Bild wühlte mich ungewöhnlich auf, die Endzeit der Schönheit, dachte ich, und brach mitten in einem nüchternen Museumssaal in Tränen aus.” (S. 157) 

Gina sagt, ihr Schreiben sei “impressionistisch”, das ihres Vaters, der bislang aber nur ein Buch veröffentlichen konnte, wäre es auch und letztlich kann man auch Simone Meiers Art und Weise einen Text zu formulieren als “impressionistisch” bezeichnen. Ihre Wortwahl ist bildhaft, ihre Szenen und Zeitebenen fließen ineinander über, alles wirkt ein bisschen verschwommen.
Sehr interessant und originell finde ich, dass Gina und Jo an ein paar Stellen miteinander in einen Dialog treten. Hier berühren sich und verschwimmen die Zeiten, die Plotstränge und letztlich die beiden Protagonistinnen zu einer.

Das Buch selbst will ein sprachliches Gemälde sein und schafft dies auch an manchen Stellen. Sprache und Ausdrucksweise sind intellektuell gehoben, was angesichts des Themas zwar passend erscheint, was man aber als Leser:in auch mögen muss.

Fazit: Ein wirklich sehr gut erzählter Roman, in dem ich mir ein Weniger an “
Männern in Särgen” und ein Mehr an historischen Frauen im Kunst-Business gewünscht hätte.

Triggerwarnungen: Tod/Sterben/(exhumierte) Leichen, (psychische) Krankheiten

[Unbezahlte Werbung, Buch gekauft bei Schmökerbox]


Donnerstag, 14. März 2024

"Der Stich der Biene" von Paul Murray


“Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.“ Dieses sehr berühmte Zitat aus “Anna Karenina” lässt sich auch auf “Der Stich der Biene” von Paul Murray (übersetzt von Wolfgang Müller, erscheint am 14.3.2024 bei Kunstmann) und auf die dort im Fokus stehende irische Familie Barnes übertragen. Sie sind unglücklich - warum und vor allem wie es zu diesem negativen Status Quo ihrer Gefühlswelten kam - erfahren wir in diesem 700 Seiten umfassenden Meisterwerk der modernen Erzählkunst. Fun fact: Paul Murray hat das Manuskript tatsächlich zunächst mit der Hand geschrieben und es dann erst digitalisiert. Eine unfassbare Leistung angesichts der enormen Seitenzahl - und eine sehr unmittelbare Art zu schreiben.

“The Bee Sting” war 2023 für den Booker Prize nominiert und stand sogar auf der Shortlist. Aus der englischsprachigen Bücher- und Rezensent:innen-Welt gab es fast nur positive Stimmen und man kann nur mutmaßen, warum es letztlich ein anderer irischer Autor mit dem Vornamen Paul war, der den renommierten Preis abgeräumt hat (Paul Lynch für “Prophet Song”). Das Buch heißt auf Deutsch übrigens nicht “Der Bienenstich”, was die genauere Übersetzung von “The Bee Sting” wäre, weil man es sonst im deutschsprachigen Raum mit einem Kuchen verwechseln könnte. Gehaltvoll und reich an geistigen Kalorien ist dieses Werk aber allemal.

Das übergreifende Thema des Romans sind Lebensentscheidungen - und Lebenslügen. Was bewegt uns, genau diese Entscheidungen zu treffen, die wir getroffen haben? Warum unterdrücken wir Teile unseres wahren Ichs, nur um anderen zu gefallen bzw. in die traditionellen Raster einer Gesellschaft zu passen? Und: spielt das Schicksal eine Rolle? Wäre alles anders gekommen, wenn die Braut am Hochzeitstag nicht von einer Biene gestochen wäre? Würde jemand ein urbanes, queeres Leben in der Großstadt führen, wenn nicht ein ihm nahestehender Mensch bei einem Autounfall gestorben wäre, dessen “Platz” und Rolle er eingenommen hat?

Gibt es sowas wie valide Omen, Vorsehung, Wahrsagen - und Geister? Was macht der Verlust der einzigen wahren Liebe mit einem Menschen?

Diese Fragen - und noch viele mehr - stellt sich der Roman anhand des Fallbeispiels der scheinbaren irischen Durchschnittsfamilie Barnes, die bei genauer Betrachtung - und die Betrachtung ist mit 700 Seiten sehr genau - alles andere als durchschnittlich ist. Ihr psychologischer und ökonomischer Verfall wird eindringlich dargestellt. Man könnte das Werk von der Dynamik, Disposition und Thematik her gut mit Thomas Manns “Buddenbrooks” vergleichen: “Der Stich der Biene” handelt nämlich auch vom “Verfall einer Familie”, wie es bei Thomas Mann im Untertitel seines Nobelpreis-Werks heißt.

“Der Stich der Biene” fühlt sich stellenweise an, als würde man das Protokoll einer sehr intensiven Therapiesitzung lesen, bei der die tieferen Schichten des Bewusstseins der literarischen Figuren nach und nach freigelegt werden. Es fügen sich immer mehr Puzzleteile zusammen, die am Ende ein großes Ganzes ergeben, auf dem die gegenwärtige verfahrene Situation zusammen mit den Versatzstücken aus der Vergangenheit abgebildet ist. Das Ende ist aber entsprechend offen - jeder kann sich seine/ihre eigene Meinung bilden, was nun genau geschehen wird.

Die Erzählweise ist multiperspektivisch. Der Roman wird aus den unterschiedlichen Perspektiven der vier Mitglieder der Kernfamilie erzählt: Zunächst Cass, die Tochter, die kurz vor ihrem Schulabschluss steht und der Provinz sowie der angespannten familiären Situation durch die Aufnahme aufs Trinity College Dublin entfliehen möchte. Dann PJ, der zwölfjährige “Nachzügler”, der den drohenden finanziellen Ruin der Familie auch körperlich zu spüren bekommt. Die Geschichten der beiden Jugendlichen sind voll mit Jugendsprache, Kraftausdrücken und Chat-Konversationen. Ganz anders nimmt sich da plötzlich die Perspektive der Mutter Imelda aus. Ihre Sicht wird sehr unmittelbar im inneren Monolog bzw. Gedankenstrom erzählt, wobei die Interpunktion ausgesetzt ist und wir nur an der Großschreibung erkennen können, wenn ein neuer Satz beginnt. Das ist natürlich eine Hommage an Murrays berühmten Landsmann James Joyce und das letzte Kapitel von “Ulysses”. Die Unmittelbarkeit, die hier erzeugt wird, ist bestechend. Komplettiert wird das Ganze durch die Perspektive des “Familienoberhaupts” Dickie, der gegen die drohende Insolvenz seines Autohauses und gegen seine wahre Identität ankämpft. Während die Kinder sich vor allem mit ihrer Gegenwart und der Zukunftsangst auseinandersetzen, sind die Geschichten der beiden erwachsenen Familienmitglieder von der Vergangenheit geprägt. Wie wurden sie zu den Menschen, die sie jetzt sind. Schön und wichtig, wenn es um die Fiktionalisierung unserer gegenwärtigen Lebenswelt geht, finde ich auch den queeren Aspekt des Buches. Damit hätte ich zunächst nicht gerechnet und ich will diesbezüglich auch nicht zu viel verraten, nur dass es ihn eben gibt.

Umwelt- und Klimaschutz sind Themen, die ebenfalls eine wichtige Rolle im Roman spielen. Cass beginnt sich während ihrer fortgeschrittenen Schulzeit mit Klimafragen auseinanderzusetzen und begeistert auch ihren Vater dafür. Als Inhaber eines Autohauses zweifelt er zunehmend an seinem Beruf. Bei ihm trägt die Zunahme des ökologischen Bewusstseins quasi zum ökonomischen Verfall der Familie bei. Die prekäre Lage der dysfunktionalen Familie Barnes ist außerdem ein Symbol für die verheerende Lage, in der sich die ganze Welt angesichts des Klimawandels - genau jetzt in unserer Gegenwart, in der wir alle gemeinsam auf diesen Planeten leben, der kurz vor der Zerstörung steht - befindet. Der Mikrokosmos Barnes spiegelt den Makrokosmos Erde. Daher auch das offene Ende: Es ist unklar, ob die Menschheit es schaffen wird, das Ruder noch herum zu reißen, genauso unklar ist es, ob die Familie Barnes selbiges schafft. So viel sei gesagt: Die Vorzeichen sind keinesfalls positiv und eine Tragödie ist wesentlich wahrscheinlicher als ein Schauspiel mit freudigem Ausgang. Einer der unheilsschwangeren Sätze, die mir im Gedächtnis geblieben sind, lautet: “Man konnte die Menschen, die man liebte, nicht schützen - das war die Lektion der Geschichte, und deshalb bedeutete die Liebe zu jemandem, sich einer drastisch erhöhten Leidensstufe auszuliefern.” (S. 442)

Der Roman lässt sich nicht mal eben schnell “weglesen”. Für dieses Buch braucht man Zeit, Energie und die Bereitschaft, sich wirklich voll und ganz auf diese Geschichte - in all ihren Facetten und kleinsten Verästelungen - einzulassen, sonst funktioniert es nicht. Hat man aber seinen Teil als Leser:in eingebracht, dann wird man mit einem erzählerischen Opus Magnum belohnt, das einen nicht selten verzaubert und zur Selbstreflektion anregt - und das ist ja der Sinn und Zweck von Literatur.

Herzlichen Dank an den Kunstmann-Verlag und Lovelybooks für das Rezensionsexemplar!

Diesen Buchrücken liebe ich übrigens ganz besonders.


Mittwoch, 13. März 2024

"Der Wald" von Eleanor Catton


Ein Roman über die Tragödien unserer Zeit

Was sind die tragischen Figuren unserer Gegenwart? In Shakespeares Dramen waren es die Herrscher und die Usurpatoren, die sich nicht selten eine Schlacht um den Thron lieferten. Heutzutage sind es immer mehr die Weltpolitiker, Tech-Magnaten und Großindustriellen und auf der anderen Seite Klimaschützer:innen wie Greta Thunberg und ihre Bewegung “Fridays for Future”. Die einen kämpfen für sich selbst bzw. ihr Image, die anderen für nichts weniger als die Zukunft unseres Planeten. Eleanor Catton, die jüngste Booker-Prize-Trägerin aller Zeiten (sie gewann den Preis 2013 für “The Luminaries”) hat sich in ihrem Roman “Birnam Wood” (auf Deutsch schlicht “Der Wald”, übersetzt von Meredith Barth und Melanie Walz) ebenfalls mit dem Kampf Gut gegen Böse, Wirtschaft vs. Umwelt, Kapital vs. Moral auseinandergesetzt. Nicht umsonst heißt das Kollektiv, das die Protagonistin Mira gegründet hat, “Birnam Wood”, ein Begriff der Shakespeares Tragödie “Macbeth” entnommen ist. 

Worum geht es? Neuseeland im Jahr 2017. In Christchurch gibt es seit einigen Jahren das Guerrila-Gardening-Kollektiv “Birnam Wood”. Die Gründerin Mira und ihre gute Freundin Shelley stehen an einem Wendepunkt. Shelley möchte die Gruppe verlassen und Mira driftet ein bisschen orientierungslos dahin. Mira wird auf ein Grundstück in Thorndike am Rande des Korowai-Nationalparks aufmerksam, das sich perfekt für ihre gärtnerischen Aktivitäten eignen würde. Dieses Grundstück des gerade zum Ritter geschlagenen Schädlingsbekämpfers Owen Darvish wiederum möchte der durch Drohnen reich gewordene amerikanische Milliardär Robert Lemoine erwerben, um dort einen Bunker zu bauen. Er bietet Mira und “Birnam Wood” an, ihre Pflanzungen auf dem Gelände zu betreiben, außerdem will er sie mit einer großen Summe finanzieren. Ist dies die Rettung des Kollektivs oder ein Pakt mit dem Teufel?

In ihrem Roman wirft Catton viele Fragen auf, die wir uns als Menschen des 21. Jahrhunderts stellen müssen. Zum Beispiel, wie weit Digitalisierung und Selbstoptimierung gehen dürfen. Ob es nicht zutiefst menschlich ist, Fehler machen zu dürfen und nicht perfekt zu sein. Was wären Kunst und Kultur, wenn sie nicht das menschlich Fehlerhafte zum Thema hätten? Was macht dieses Streben nach Perfektion und Unsterblichkeit mit uns? Tony ist die Figur im Roman, die den Selbstoptimierungswahn, die Skrupellosigkeit und Amoralität, die in der Figur des Lemoine auf die Spritze getrieben wird, anprangert. Mira, die Gründern von Birnam Wood, ist hin- und hergerissen zwischen dem charismatischen Multimillionär, der sich Unsterblichkeit erkaufen will und dem erfolglosen Gelegenheitsjournalisten, der das menschlich Fehlerhafte, aber auch das uns Menschen inhärente Streben nach moralischem Handeln verkörpert. Wer wird am Ende mit seinen Positionen reüssieren? Oder kann niemand gewinnen, weil wir am Ende alle in einem Boot sitzen? Zentral ist auch die Frage, wie weit Überwachung gehen darf. Sind Drohnen nicht zutiefst unmoralisch und wird uns diese Technik nicht letztlich mehr Schaden als Nutzen bringen?

Ich betonte immer wieder gerne in meinen Rezensionen, wie sehr ich es mag, wenn ein Roman durch Originalität besticht. “Der Wald” ist mal wieder so ein Buch. Die Konstellation Guerilla-Gardening-Kollektiv trifft shady Multimilliardär-Prepper ist definitiv eine, die mir so noch nie erzählt wurde. Außerdem ist mir Neuseeland als literarischer Schauplatz auch relativ neu.

Für einen literarischen Roman ist “Der Wald” ungeheuer fesselnd. Der Plot ist einfach spannend im klassischen Sinne. Man will unbedingt wissen, welchen Schachzug die handelnden Personen bzw. Parteien als nächstes ausführen. Die berühmte “Sogwirkung” ist meiner Meinung nach voll gegeben. Es wechseln sich Phasen der eingehenden Charakterisierung der einzelnen Personen mit solchen der Plotentwicklung ab, wobei im letzten Drittel die Handlung erst richtig an Fahrt aufnimmt. Ab diesem Zeitpunkt kann man wegen der Spannung und des rasanten Erzähltempos das Buch nur noch schwer aus der Hand legen. Ökothriller ist meines Erachtens wirklich die richtige Gattungsbezeichnug.

Die Übersetzung ist zu Beginn etwas holprig und gestelzt, wird dann aber zunehmend besser. Manchmal gibt es aber nach wie vor kleine Ungereimtheiten. Zum Beispiel bezeichnet eine Person eine andere als “du Dreck” (S. 480). Würde man das so sagen? Ich kenne das Original nicht, könnte man aber vorstellen dass so etwas gesagt wurde wie “you piece of shit”, was ich dann eher als “Du Drecksack”, “Du Abschaum” oder “Du Dreckstück” übersetzt hätte. Was ich ebenfalls nicht ganz nachvollziehen kann, ist die Entscheidung des Verlags, das Buch “Der Wald” statt “Birnam Wood” zu nennen. Selbst wenn einem der Begriff Birnam Wood nichts sagt und man nicht weiß dass es ein Zitat aus “Macbeth” ist, so kann man das erstens googeln und zweitens wird es im Text ausführlich erklärt. Finde ich etwas schade dass man hier den deutschen Leser*innen so wenig zutraut, zumal ja nicht wirklich ein “Wald” eine Rolle spielt im Roman. Dann hätte man eher sowas wie “Das Kollektiv” nehmen sollen.

Ein weiteres Manko ist meines Erachtens, dass es den Charakteren oft an Tiefe fehlt. Vor allem Lemoine ist sehr klischeehaft gezeichnet und Mira und Shelley sind als Persönlichkeiten zu flach und austauschbar. Alles in allem ist das Buch dennoch ein sehr spannender literarischer Gegenwartsroman, der viele Fragen unserer Zeit aufwirft und mit einem der krassesten Enden schockiert, die ich seit Langem gelesen habe, welches ich mir aber trotzdem etwas anders gewünscht hätte. 

Triggerwarnung: Drogenmissbrauch, Gewalt, Mord, Umweltzerstörung

[Werbung, da Rezensionsexemplar] Herzlichen Dank an den btb-Verlag sowie das Bloggerportal von Randomhouse für das Rezensionsexemplar