Erschreckende und erfrischend andere Dystopie
Man stelle sich vor, es gäbe eine Welt, die von der Lebensrealität her genau so ist wie unsere, nur gäbe es auf dieser Welt eine Krankheit, die Menschen zu Bäumen macht. Sie plötzlich befällt und dann fangen sie schrittweise an, zu mutieren…Erst versteifen sich die Zehen, dann bildet sich immer mehr Rinde an den Beinen. Erst der Unterkörper und dann kassiert die Pflanze auch noch drn Oberkörper und vor allem das menschliche Bewusstsein ein, bis die Person nicht mehr ist und an ihrer Stelle ein ganz normaler, lebender Baum. Aber eben ein Baum.
Mit diesem Gedankenspiel setzt sich die österreichische Autorin Alina Lindermuth in ihrem Roman “Stammzellen” auseinander. In ihrer Romanhandlung gibt es diese tückische Krankheit namens “Dendrose”, die eigentlich vor allem Menschen ab 50 befällt. Obwohl die Protagonistin des Romans, Ronja, noch wesentlich jünger ist, hat sie von Berufswegen mit der Dendrose zu tun. Sie verfolgt die aktuelle weltweite Forschung rund um die Krankheit und hat sogar einen Nebenjob als Dendro-Assistentin, wo sie Betroffene und deren Familien besucht. Schon gleich zu Beginn des Romans lernt sie den schönen Sprachwissenschaftler Elio kennen, der gerade an seiner Doktorarbeit über die Herkunft von Sprichwörtern forscht. Sie verlieben sich in dieser fragilen Welt, die von der neuen Krankheit und der Klimakrise fest umklammert wird. Und wie so oft in guter Literatur geht es also auch hier um die beiden ewigen Menschenheitsthemen-Bestseller Liebe und Tod, nur dass der Tod eben in ganz besonderer Form auftritt.
Lindermuth changiert erzählerisch immer wieder zwischen Ronjas Alltag als Ärztin am Krankenhaus (mich hat gewundert dass trotz Setting Österreich “Krankenhaus” und nicht ”Spital” gesagt wird) sowie ihrer Arbeit als Dendro-Assistentin und der Liebesgeschichte zwischen Elio und ihr. Letztere ist etwas spröde, aber ich denke, genau so wollte die Autorin sie auch darstellen. Liebe als Herausforderung, Liebe als Challenge. Von Anfang an liegt etwas Unausgesprochenes in der Luft und so ganz kommen die beiden irgendwie auf keinen wirklich zu 100 Prozent grünen Zweig.
Die Stärke dieses Romans ist es, Stimmungen einzufangen. Das Licht eines Nachmittags, die Schönheit der Natur in Zeit und Raum. Lindermuth lässt poetische Sprachbilder entstehen, sie kann schreiben. Ein Beispiel: “Der Herbst hat die Bäume und Sträucher fein säuberlich abgeräumt, hat die Blätter einzeln heruntergekämmt und die Äste stehen lassen wie erstarrte schwarze Finger, die nicht wissen zu scheinen, wozu sie in diesen Monaten überhaupt existieren.” (S. 138). Bei solchen Sprachbildern sage ich einfach: Jep, gekauft und für gut befunden. Es ist quasi Nature Writing meets Dystopie/Science Fiction meets Liebesroman.
Das kleine Problemchen, das ich mit dem Roman hatte, liegt eher im Berich des Plots und der Figurenentwicklung. So richtig konnte ich den Finger nicht drauf legen, aber irgendetwas mutet trotz aller Schwere der Thematik künstlich, leicht oberflächlich und manchmal nicht ganz ausgereift an. Aber das mag auch nur mein rein subjektiver Eindruck sein. Lindermuth übrspringt erzählerisch immer wieder ganze Monate, die Kapitel sind nach ihnen benannt, also Mai, Dezember, Jänner, etc. Die Situation wird immer nur szenisch gestreift und wir sehen die feinen Nuancen, die Zwischentöne nicht. Es werden quasi nur die Jahresringe der Beziehung zwischen Elio und Ronja präsentiert, aber das Holz dazwischen bleibt blass. Mir hat also die Verdichtung etwas gefehlt im Sinne von Feinheiten.
Ansonsten ist die Idee natürlich grandios und mal eine Nature-Dystopie, die erfrischend und erschreckend anders zugleich ist. Wenn man das Buch zuschlägt ist man definitiv froh in einer Welt zu leben in der es keine Krankheit namens Dendrose gibt. Ein gutes Buch, mit sehr schöner, zur Thematik passenden Aufmachung, das ich für alle Liebhaber solcher Bücher auf jeden Fall empfehlen kann.
Herzlichen Dank an die Agentur Buchcontact sowie den Verlag Kremayr & Scheriau für das Rezensionsexemplar!