Sonntag, 13. April 2025

"Stammzellen" von Alina Lindermuth


Erschreckende und erfrischend andere Dystopie

Man stelle sich vor, es gäbe eine Welt, die von der Lebensrealität her genau so ist wie unsere, nur gäbe es auf dieser Welt eine Krankheit, die Menschen zu Bäumen macht. Sie plötzlich befällt und dann fangen sie schrittweise an, zu mutieren…Erst versteifen sich die Zehen, dann bildet sich immer mehr Rinde an den Beinen. Erst der Unterkörper und dann kassiert die Pflanze auch noch drn Oberkörper und vor allem das menschliche Bewusstsein ein, bis die Person nicht mehr ist und an ihrer Stelle ein ganz normaler, lebender Baum. Aber eben ein Baum. 

Mit diesem Gedankenspiel setzt sich die österreichische Autorin Alina Lindermuth in ihrem Roman “Stammzellen” auseinander. In ihrer Romanhandlung gibt es diese tückische Krankheit namens “Dendrose”, die eigentlich vor allem Menschen ab 50 befällt. Obwohl die Protagonistin des Romans, Ronja, noch wesentlich jünger ist, hat sie von Berufswegen mit der Dendrose zu tun. Sie verfolgt die aktuelle weltweite Forschung rund um die Krankheit und hat sogar einen Nebenjob als Dendro-Assistentin, wo sie Betroffene und deren Familien besucht. Schon gleich zu Beginn des Romans lernt sie den schönen Sprachwissenschaftler Elio kennen, der gerade an seiner Doktorarbeit über die Herkunft von Sprichwörtern forscht. Sie verlieben sich in dieser fragilen Welt, die von der neuen Krankheit und der Klimakrise fest umklammert wird. Und wie so oft in guter Literatur geht es also auch hier um die beiden ewigen Menschenheitsthemen-Bestseller Liebe und Tod, nur dass der Tod eben in ganz besonderer Form auftritt.

Lindermuth changiert erzählerisch immer wieder zwischen Ronjas Alltag als Ärztin am Krankenhaus (mich hat gewundert dass trotz Setting Österreich “Krankenhaus” und nicht ”Spital” gesagt wird) sowie ihrer Arbeit als Dendro-Assistentin und der Liebesgeschichte zwischen Elio und ihr. Letztere ist etwas spröde, aber ich denke, genau so wollte die Autorin sie auch darstellen. Liebe als Herausforderung, Liebe als Challenge. Von Anfang an liegt etwas Unausgesprochenes in der Luft und so ganz kommen die beiden irgendwie auf keinen wirklich zu 100 Prozent grünen Zweig. 

Die Stärke dieses Romans ist es, Stimmungen einzufangen. Das Licht eines Nachmittags, die Schönheit der Natur in Zeit und Raum. Lindermuth lässt poetische Sprachbilder entstehen, sie kann schreiben. Ein Beispiel: “Der Herbst hat die Bäume und Sträucher fein säuberlich abgeräumt, hat die Blätter einzeln heruntergekämmt und die Äste stehen lassen wie erstarrte schwarze Finger, die nicht wissen zu scheinen, wozu sie in diesen Monaten überhaupt existieren.” (S. 138). Bei solchen Sprachbildern sage ich einfach: Jep, gekauft und für gut befunden. Es ist quasi Nature Writing meets Dystopie/Science Fiction meets Liebesroman. 

Das kleine Problemchen, das ich mit dem Roman hatte, liegt eher im Berich des Plots und der Figurenentwicklung. So richtig konnte ich den Finger nicht drauf legen, aber irgendetwas mutet trotz aller Schwere der Thematik künstlich, leicht oberflächlich und manchmal nicht ganz ausgereift an. Aber das mag auch nur mein rein subjektiver Eindruck sein. Lindermuth übrspringt erzählerisch immer wieder ganze Monate, die Kapitel sind nach ihnen benannt, also Mai, Dezember, Jänner, etc. Die Situation wird immer nur szenisch gestreift und wir sehen die feinen Nuancen, die Zwischentöne nicht. Es werden quasi nur die Jahresringe der Beziehung zwischen Elio und Ronja präsentiert, aber das Holz dazwischen bleibt blass. Mir hat also die Verdichtung etwas gefehlt im Sinne von Feinheiten. 

Ansonsten ist die Idee natürlich grandios und mal eine Nature-Dystopie, die erfrischend und erschreckend anders zugleich ist. Wenn man das Buch zuschlägt ist man definitiv froh in einer Welt zu leben in der es keine Krankheit namens Dendrose gibt. Ein gutes Buch, mit sehr schöner, zur Thematik passenden Aufmachung, das ich für alle Liebhaber solcher Bücher auf jeden Fall empfehlen kann.

Herzlichen Dank an die Agentur Buchcontact sowie den Verlag Kremayr & Scheriau für das Rezensionsexemplar!


Donnerstag, 3. April 2025

"Wenn Ende gut, dann alles" von Volker Klüpfel


“Ob ich ein paar Seiten schreiben sollte? Doch schon als ich den Computer aufgeklappt hatte, wusste ich, dass ich mich heute vergeblich abmühen würde. Meine Gedanken waren ganz woanders, und wenn ich etwas übers Schreiben wusste, dann, dass man es nicht erzwingen konnte. Durfte!” (Volker Klüpfel: Wenn Ende gut, dann alles, S. 120)

Das Motiv des Ermittler-Duos ist seit Sherlock Holmes und Dr. Watson aus der Kriminalliteratur nicht mehr wegzudenken. Meistens sind die beiden Ermittelnden komplette Gegensätze und liefern sich oft zur Belustigung der Lesenden einen Schlagabtausch, manchmal gibt es auch eine erotische Anziehung zwischen ihnen. In “Wenn Ende gut, dann alles”, dem ersten Roman-Soloprojekt von Volker Klüpfel, des einen Teils des versierten Krimi-Duos Klüpfel und Kobr, geht es genau um ein solches ungleiches Ermittlenden-Duo, bei dem der Humor-Faktor ganz klar im Vordergrund steht.

Der erfolglose Thriller-Autor Thomas - Tommi - Mann (ja, hier wird nicht tief gestapelt!) lebt im abgelegten Wohnwagen seines Vaters, der jetzt in einer Seniorenresidenz residiert. Geerbt hat er außer dem baufälligen Haus auf zwei Rädern auch noch dessen ukrainische Putzkraft Svetlana. Während Tommi verzweifelt versucht, mit dem Schreiben voranzukommen, macht Svetlana bei ihm sauber und mischt sich in sein Leben und Schreiben, seine Lektüre-Gewohnheiten, seine Ernährung und die Nicht-Beziehung zu seiner On-off-Freundin Michelle ein. Dann läuft ihnen ein Mädchen mit Down-Syndrom über den Weg, was nicht spricht und niemanden zu haben scheint. Daraus wird sozusagen der erste Fall des Ermittlerduos Tommi und Svetlana, den sie natürlich am Ende erfolgreich aufgeklärt haben werden.

Was ich wirklich richtig nice und originell fand an dem Roman, ist die Tatsache, dass der Protagonist und Ich-Erzähler Tommi ein struggelnder Schriftsteller ist und wir seinen Schreibfortschritt - oder besser gesagt: Rückschritt - quasi beobachten können. In einem Roman von einem Schriftsteller über einen Schriftsteller ist immer auch ein ganzes Stück Metaebene als tragende Wand eingezogen. Der Bestsellerautor Volker Klüpfel versetzt sich mit Tommi in jemanden hinein, der noch kein Buch zu Ende gebracht hat, dessen großer Traum es aber dennoch ist, Schriftsteller zu werden.

Was mir nicht so gefallen hat, war der Fall an sich, der eigentlich furchtbar tragisch ist, aber sehr auf die Humorebene gezogen wurde, weil es sich bei diesem Roman eben um einen Cosy Crime handelt. Auch wurde die Sache mit dem einsamen Kind im Speziellen dann viel zu gefällig durch eine Deus-Ex-Machina-Situation aufgelöst. 

Dass sehr viel Text aus dem gebrochenen Deutsch von Svetlana generiert wurde, fand ich ebenfalls wenig zeitgemäß. Den naiv-klugen Kluftinger-Humor habe ich dennoch vermisst und nur an ganz wenigen, Tommi selbst betreffenden Stellen, aufblitzen sehen.

Ich hoffe, dass mir der nächste Band vom Inhaltlichen etwas mehr zusagen wird. Alles in allem habe ich aber besonders Tommi ein wenig ins Herz geschlossen und bin gespannt, was er und Svetlana noch so alles ermitteln werden.

Herzlichen Dank an die Agentur ehrlich&anders für das Rezensionsexemplar und die tolle Camping-Tasse sowie Penguin Randomhouse Deutschland.

Freitag, 14. März 2025

"Hier draußen" von Martina Behm


Mental Load und Schweinedung

“Hier draußen” ist ein moderner Dorfroman, der in einer kleinen norddeutschen Ortschaft der Gegenwart spielt. Wir haben aber auch immer mal wieder Einschübe, Rückblenden, die die Situation auf der Handlungsebene mit Hintergrundinformationen unterfüttern. Diese Struktur hat mir sehr gefallen und war hier auch hilfreich, um das Gelesene besser zu verstehen.

Wir begegen in diesem Buch mehreren Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft verdienen. Die “alteingessenen” Dörfler sind alle um die 60 Jahre alt und entsprechend eingefahren, haben Gesundheits-, Finanz- und/oder Eheprobleme und viel zu viel Arbeit, denn die Kinder übernehmen in der Regel nicht mehr einfach so den Hof der Eltern, sondern ziehen in die Stadt oder in andere Bundesländer, studieren, leben ihr eigenes Leben. Ein umgekehrtes Phänomen ist der Zuzug gut situierter und gut ausgebildeter jüngerer Leute um die 30/40, die “hinaus aufs Land” wollen. So wie Lara und Ingo, zusammen mit ihren schulpflichtigen Kindern Erin und Erik. Sie haben sich einen “Resthof” gekauft - aber werden sie, die Städter aus Hamburg - er Manager bei einem Start-Up-Unternehmen, sie freiberufliche Grafikerin - wirklich den Rest ihres Lebens in diesem Kaff Fehrdorf verbringen? Dann gibt es noch Jutta und Armin, die “Öko-Hippies”, die vor 30 Jahren aus der Stadt ins Dorf gezogen sind, um eine WG zu gründen. Sie sind übriggeblieben, nicht wirklich zusammen, aber gelegentlich doch. Auch sie werden im Laufe der Handlung eine wichtige Rolle spielen.

Aber die Handlung, was ist das hier überhaupt? Das ist ein wenig das Problem des Romans. Der rote Faden, um den sich die Erzählung lose windet, ist eigentlich, dass Ingo eines Abends, als er von Hamburg, wo er nach wie vor arbeitet, nach Hause pendelt, eine weiße Hirschkuh überfährt. Der ortsansässige Jäger und Schweinebauer Uwe, ein ewiger Junggeselle, erschießt mit Ingo zusammen das leidende Tier. Dumm nur, dass eine Prophezeiung sagt, wer eine weiße Hirschkuh tötet, wird innerhalb eines Jahres sterben. Das ist an sich schon sehr spannend, wird aber im Laufe des Plots oft aus den Augen verloren. Es geht vielmehr darum, die Dörfler und ihre Probleme detailliert zu beschreiben.

Und das ist tatsächlich die Stärke des Romans. Besonders die Situation der ländlich lebenden Frauen hat Martina Behm hervorragend eingefangen. Anhand der jüngeren Städterin Lara beschreibt sie auf realistische Weise die Struggles einer arbeitenden Mutter, die sich für die Kinder, ihren Mann, das Haus, den Hund und und und den Allerwertesten aufreißt. Die als Selbständige weiterkommen möchte und der nur Steine in den Weg gelegt werden. Das Mental Load, oh dieses verdammte Mental Load. Die unsichtbaren Tasks, die Mütter immer und ständig auf dem Schirm haben müssen und die kein anderer sieht oder macht. Auch Tove Wirtz, die um die 60 ist, hat ihr Leben für andere gelebt: den undankbaren, cholerischen Mann, die beiden Söhne, die jetzt längst woanders wohnen, die Dorfgemeinschaft, den Hof. Wird auch sie nochmal ihr Glück finden? Uwe ist der unerwartete Sympathieträger des Romans. Seine Geschichte ist besonders herzzerreißend.

Für meinen Geschmack wurde die Handlung etwas zu sehr in die Länge gezogen. Man hätte hier sehr gut kürzen können, vor allem was die detaillierten Beschreibungen des Zubereitens von Nahrung, etc., angeht. Manches hätte ich genauer wissen wollen, anderes war mir hingegen zu ausführlich ausgearbeitet.

Alles in allem aber ein sehr unterhaltsamer, starker Dorfroman, den ich euch empfehlen kann.

Herzlichen Dank an dtv und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

Dienstag, 25. Februar 2025

In eigener Sache: Schreibpause mit Unterbrechungen


Ich habe folgenden Beitrag gestern auf Instagram geposted, er gilt aber natürlich auch für die Leser*innen meines Blogs. Vielen Dank für euer Verständnis und eure Treue!

Hallo ihr Lieben!

Wie manche von euch vielleicht aus der Story wissen, schreibe ich gerade selbst an meinem ersten Roman (ich kann es noch gar nicht wirklich glauben, es ist so ein unbeschreiblich tolles Gefühl! 🥰). Um Nachfragen vorzubeugen: Es weiß außer mir noch keiner, um was es genau geht 😉. Gut Ding will Weile haben und ich will auch nichts “verschreien”, wie man bei uns in Bayern sagt. Ich bin schon sehr gut vorangekommen, die Worte fließen nur so aus mir heraus. Ich muss tatsächlich gar nicht so viel aktiv machen, meine Charaktere machen das irgendwie ganz von allein... (auch wenn sie manchmal seltsame Dinge tun 😅).

Und ihr wisst ja, wie es ist, wenn man in ein Projekt viel Zeit und Energie investiert, dann fehlt es an anderen Ecken und Enden. Momentan muss ich das Lesen von anderen Geschichten leider ein wenig vernachlässigen, um meine eigene voranzutreiben und damit leider auch den Blog und #Bookstagram. Ich bin zwar nach wie vor bei @vorablesen aktiv und poste auch dementsprechend meine Rezensionen hier, aber es wird in den nächsten Wochen eher ruhiger sein auf diesem Kanal. Ich hoffe, ihr bleibt mir trotzdem gewogen. Wenn ich mit meinem Buch fertig bin (ich will noch gar nicht dran denken 😢), wird bestimmt alles wie zuvor sein. Oder auch nicht?

In diesem Sinne macht es gut, wir sehen und hören uns! Eure Vicky

Samstag, 22. Februar 2025

"Russische Spezialitäten" von Dimitrij Kapitelman



Tragikomische Mutter-Sohn-Geschichte

“In der russischen Welt meiner Mutter ist Russland gut und heldenhaft und hat gar keine andere Wahl, als zu kämpfen. Herzlos ist das nicht von ihr, nur sehr wahrheitsverloren. Deswegen leidet Mama wohl auch so darunter, dass ihr Sohn diese russischen Wahrheiten aufs Verderben nicht erkennen will.” (S. 58)

“Russische Spezialitäten” hat mich deswegen interessierst, weil es darum geht, wie Menschen damit umgehen, wenn ihr Land zum politischen Aggressor wird. Und damit, dass ihre nationale bzw. kulturelle Identität zum Schimpfwort wird und zum Grund, warum sich andere Leute vielleicht nicht mehr so gerne mit ihnen abgeben möchten. Es ist ein autofiktionaler Roman, in dem der ukrainisch-moldawischstämmige Autor und Journalist Dimitrij Kapitelman, der in Kiew geboren wurde und seit seiner Kindheit mit seiner Familie in Leipzig lebt und dort - bis Corona kam - einen Laden für russisch-ukrainische Produkte betrieben hat, die jüngere Vergangenheit verarbeitet. Er tritt als Ich-Erzähler auf und im Mittelpunkt steht die Beziehung zu seiner Mutter. Obwohl die beiden ein inniges Mutter-Sohn-Verhältnis haben, sind sie doch anderer Meinung, was den Krieg zwischen Russland und der Ukraine angeht. Die Mutter ist auf der Seite des Aggressors und der Sohn versucht sie davon zu überzeugen, dass die Ukraine das Opfer ist und sich verteidigen muss. Zunächst ohne Erfolg. Schließlich fährt der Ich-Erzähler mitten im Krieg selbst in sein ukrainisches Geburtsland und muss dort mit anderen Problemen als mit der Sorge der Soldaten-Mütter kämpfen, ihre Söhne könnten bei der Kälte keine Mütze tragen.

Ich muss schon sagen, es hat ein bisschen gedauert, bis ich in dieses Buch “reingekommen" bin, bis ich den Vibe gefühlt habe und bis mir die Worte nahe ans Herz gegangen sind. Das hatte vor allem damit zu tun, dass Dimitrij Kapitelman ein richtiger Sprachakrobat ist, der mit lautmalerisch-metaphorisch-allegorischen Bällen jongliert. Das war mir oft - gerade am Anfang - ein wenig too much. Eigentlich mag ich gut gewählte Sprachbilder, aber hier war mir unter anderem der lila Fliederstaub, der um die sozialistischen Plattenbauten weht, etwas zuviel des Guten. Wörter wie “umherbefruchten” (S. 14), “Tomatentrauer” (S. 25) oder “Krautinator” (S. 29) sind nur wenige Beispiele für die Anwendung von blumigen Neologismen in diesem Buch.

Letztlich aber hat mich das Buch zum Ende hin überzeugt, wo es dann sehr ernst und tragisch wird. Die komischen Elemente waren zwar nett, aber sie waren mir persönlich zu anekdotisch und der Ich-Erzähler ist mir durch diesen ‘Humor’ kein Stückchen näher gekommen. Am Ende habe ich aber doch eine gewisse Verbindung zu ihm gespürt, was das Buch für mich im Nachhinein lesenswert macht.

Herzlichen Dank an Hanser Berlin und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

Dienstag, 18. Februar 2025

"Tinte, Staub und Schatten - Das Buch der Verlorenen" von Alina Metz

Es ist lange her, dass ich ein Kinderfantasy-Buch als Lektüre für mich gelesen habe. Weil “Tinte, Staub und Schatten” aber mit Buchmagie und einem bibliophilen Fantasy-Setting wirbt, hat es mich sofort angesprochen. Auch in Hinblick darauf, dass meine fast neunjährige Tochter das Buch dann ab 11 lesen kann (das ist die Altersempfehlung), habe ich mich für die Lektüre entschieden. Im Mittelpunkt steht nämlich auch ein starkes, 16-jähriges Mädchen, namens Minna. Sie macht sich nach ihrem Realschulabschluss allein auf in die Stadt, in der sie geboren worden ist, um den Tod ihrer Mutter vor 11 Jahren aufzuklären.

Man wird eigentlich von Anfang an in eine märchenhafte Buchwelt hineingeworfen - die Welt von Tinte, Staub und Schatten. Eine Welt, in der Bücher tödlich sein können und in der ein unterirdisches Bücher-Labyrinth existiert, in dem man durchaus sowohl sterben als auch verschwinden kann - so wie Minnas Mutter, die “Büchersucherin” war. Denn manche Bücher sind selten und sorgen dafür, dass das Gleichgewicht der Kräfte, das man doch in jeder Welt irgendwie braucht, aufrechterhalten wird. Deswegen gibt es die Büchersucher, die mit ihrer “Staubmagie” für Ordnung im Labyrinth sorgen. Für Staubmagie benötigt man metallische Geräte wie “Hyperbeln” und andere Dinge aus Kupfer, bei denen ich nicht so ganz geschnallt habe, was sie eigentlich genau tun und wie sie funktionieren. Aber Lektüre soll nicht zum pseudowissenschaftlichen Lehrgang verkommen, von daher habe ich das jetzt mal so hin genommen.

Das Spiel mit Intertextualität hat mir natürlich sehr gut gefallen, wobei ich es für die Ziel-Altersgruppe teilweise etwas “hoch” finde. Da werden zum Beispiel Dantes “Göttliche Komödie” zitiert und Cervantes’ “Don Quixote” und Goethes “Götz von Berlichingen”. Die meisten Elfjährigen werden damit wahrscheinlich noch nichts anfangen können, aber einmal ist ja immer das erste Mal, dass man etwas von Klassikern hört.

Aber jetzt zu dem, was einem Buch seinen Charakter verleiht - den Charakteren: Die rothaarige Minna, unsere Hauptfigur, bleibt eigentlich am blassesten von allen, was ein wenig schade ist. Ihr Movens, Büchersucherin zu werden, ist vor allem die Trauer um ihre Mutter und der Versuch, die Geschichte um deren Verschwinden im Labyrinth zu ergründen. Raban Krull, der düstere Antiquar, Büchersucher und Minnas Lehrmeister, ist ganz klar am Vorbild Severus Snape modelliert und wir als Lesende erfahren bis zum Ende dieses ersten Bandes - es ist eine Reihe - nicht, ob seine Motive gut oder böse sind oder sogar beides. Sein tollpatschiger, aber liebenswerter Sohn Gulliver wird als späterer Love Interest für Minna aufgebaut. Ganz toll und erwähnenswert finde ich, dass es in diesem Kinderroman auch queere Charaktere gibt. Der etwas mysteriöse und vom Aussehen her androgyne Jascha, macht bereits am Anfang deutlich, dass er auf Männer steht. Sein späterer Rivale, der Wilde Jäger Parzival - der auch ganz offen bisexuell ist und stöndig mit Jascha flirtet, ist ebenfalls spannend und auch hier könnte ich mir vorstellen, dass der Trope Enemies to Lovers im Laufe der Reihe anhand von diesen beiden Figuren “eingelöst” wird.

Obwohl das Bücher-Labyrinth - wie es sich für ein Labyrinth gehört - ziemlich komplex war und es ein paar Längen gab, fand ich das Buch zum Ende hin aber wieder ganz toll und spannend. Das ist vor allem den überraschenden Plot Twists zu verdanken. Am Ende gibt es einen riesigen Cliffhanger, der dann wahrscheinlich im zweiten Band, der im Herbst 25 erscheinen soll, aufgelöst wird. Hat mich sehr gut unterhalten!

Herzlichen Dank an Überreuter und Vorablesen Junior für das Rezensionsexemplar!

Freitag, 14. Februar 2025

"Coast Road" von Alan Murrin

Großartige irische Literatur

Irische Roman-Literatur: Das sind große Gefühle in Prosaform und die Lektüre dieser Werke fühlt sich oft an, als würde man von einer schroffen, steilen Klippe aufs weite Meer hinaus blicken. Das Meer spielt als Setting auch eine große Rolle in “Coast Road”, dem Debütroman von Alan Murrin, ein irischer Autor, der in Berlin lebt. 

Letztes Jahr habe ich das Buch schon oft bei englischsprachigen Buchbloggenden gesehen, die völlig begeistert von dem Roman waren. Dennoch bin ich froh, dass ich auf die dtv-Ausgabe gewartet habe, die unter dem Schutzumschlag sehr schön mit einer in Öl gemalten Landschaftsszene gestaltet und von Anna-Nina Kroll hervorragend ins Deutsche übersetzt wurde.

Die Handlung von “Coast Road” spielt 1994/1995 im irischen Künstenstädtchen Ardglas im County Donegal. Murrin entführt uns in eine Zeit, in der Irland gesellschaftspolitisch gefühlt noch “hinter dem Mond” lebte. In der man Kondome im englisch regierten Norden kaufen und Abtreibungen im benachbarten Königreich vornehmen lassen musste. Und in einer Zeit, in der man sich nicht scheiden lassen konnte und in der Frauen meist völlig von ihrem Ehemann abhängig waren. Das Referendum zur Abschaffung des Verbots von Ehescheidungen, das nach Ende der erzählten Zeit im Jahr 1996 in Kraft trat, spielt eine entscheidende Rolle im Roman. Eine der Hauptfiguren, James Keaveney, setzt sich als Parlamentsabgeordneter aus Donegal für die Abschaffung des Paragrafen ein. 

Alan Murrins Roman mutet im einen Moment wie ein historischer an und im nächsten sind es doch wieder die allgemeingültigen Themen des Lebens, die hier verhandelt werden und die uns alle zu jeder Zeit betreffen: Liebe und Hass, Leben und Tod. Anhand von drei Paaren werden wir uns im Laufe des Roman überdies drei Fragen gestellt haben: Bei Izzy und James: Wird sie gehen? Bei Donal und Dolores - was bringt das Ehe-Fass zum Überlaufen? Und schließlich bei Colette und Shaun: Kommen sie wieder zusammen?

Am interessantesten von den Charakteren fand ich, neben Colette, die man aufgrund ihrer Differenziertheit einfach spannend finden muss, tatsächlich den Priester, Brian. Er schaut quasi von außen auf die Ehen der Paare und bildet sich seine Meinung. Ganz stark ist die Szene im Beichtstuhl, in der er einer der für die Handlung relevanten Personen die Beichte abnimmt. Seine ganze Persönlichkeit zeigt, dass (katholische) Geistliche auch nur Menschen mit Bedürfnissen und Gefühlen sind. Ich hätte gerne mehr Szenen mit ihm gehabt und seine Rolle noch ein wenig mehr ausgebaut gesehen. Indirekt leidet auch er unter den selbsternannten Alpha-Männern aus Ardglas, die letztlich sogar sein Schicksal bestimmen.

Ich habe in einem Interview mit Alan Murrin gelesen, dass er als Schreibtipp gegeben hat: “Don't deal too much in introspection. Dramatise everything.” Scheinbar hat er sich an seinen eigenen Tipp gehalten, denn dieser wunderbare Roman kommt 100% ohne Längen aus. Die Handlung hält sich nicht mit Unnötigem auf und schreitet einem tragischen Höhepunkt entgegen, in dem alle Hauptfiguren mehr oder weniger involviert sind.

Ein ganz großartig erzählter, feministischer Roman, der von einem Mann geschrieben wurde. Unbedingt lesen!

Herzlichen Dank an dtv und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!






Mittwoch, 12. Februar 2025

"Emily Wildes Enzyklopädie der Feen" von Heather Fawcett


“Er schien die schroffe Schönheit nicht genießen zu können, den wilden Schrecken der Berge, die gewaltigen Gletscher, die schmalen Streifen Zeit, die sich in Form von gefrorenen Wasserfällen an die Felswände klammerten. In beiden Nächten tanzte über uns das Polarlicht, Grün und Blau und Weiß wogten ineinander, ein kalter Ozean am Himmel, und selbst diesem Spektakel gönnte Bambleby kaum einen Blick.” (S. 208)

Kennt ihr das, wenn man sich nach einer Lektüre fragt, warum man das Buch nicht schon längst gelesen hat - es hätte einen noch viel früher glücklich machen können? Mir ging es so mit “Emily Wildes Enzyklopädie der Feen” von Heather Fawcett (Fischer Tor, übersetzt von Eva Kemper). Zum Glück ist es eine Trilogie und ich habe noch zwei Bände “Leseglück” vor mir.

Worum geht's? [kleiner Spoiler] Das Buch ist ein historischer Fantasyroman. Die englische “Feenforscherin” oder Dryadologin Emily Wilde aus Cambridge reist ins abgelegene norwegische Dorf Hrafnsvik, um das dortige “Kleine Volk” zu untersuchen. Dort taucht plötzlich ihr Kollege, der unverschämt gutaussehende Prof. Wendell Bambleby auf, von dem sie vermutet, dass er selbst von den Faye abstammt. Damit hat sie recht, Wendell ist ein exilierter Feenkönig, der das Tor in sein Reich sucht. Und dann erleben sie Abenteuer und kommen sich näher und es ist atmosphärisch, wild und romantisch und einfach toll!

Googelt mal Wendell Bambleby Emily Wilde - ihr werdet massenweise FanArt und FanFiction dazu finden. Die beiden sind einfach ein Match Made in Heaven bzw. in Faye. Ich habe die beiden Hauptfiguren geliebt, vor allem Wendell. Endlich mal wieder eine männliche Fantasy-Figur, die tragikomisch und nicht schwarzweiß gezeichnet ist. Dass die Autorin mit einem feinen Humor arbeitet, hat mich einfach angesprochen. Ich will nicht, dass alles immer bitterernst und dramatisch ist. Es war trotzdem noch dramatisch, aber eben nicht nur. 

Heather Fawcett schreibt eine wunderbare Prosa, die Eskapismus und Spannung in sich vereint.Und dann diese winterliche Atmosphäre und dieses CottageCore-Setting. Ich bin entzückt und verliebt und will unbedingt bald den zweiten Band lesen und werde sicher weinen, wenn ich Wendell und Emily ziehen lassen muss. Top Empfehlung für alle, die die gesagten Sachen auch so mögen und schätzen wie ich.



Mittwoch, 5. Februar 2025

"Gentlemen and Players" von Joanne Harris


“‘You can't work at St Oswald's for as long as I have without believing in signs and portents and - ‘Ghosts?’ I suggested slyly. He did not return my smile. ‘Of course’, he said. ‘The bloody place is full of them.’ I wondered for a moment if he was thinking of my father. Or Leon. For a moment, I wondered if I was one myself.” (S. 193)

Kennt ihr diese Bücher, die ein extrem langes Built-up haben und es einem scheinbar endlos vorkommt, bis sie zum Punkt bzw. Sinn und Zweck der Geschichte kommen? Das ist bei “Gentlemen & Players” von Joanne Harris (übrigens die Autorin von “Chocolat”) so. Ich habe mich in das Cover verliebt und auch das Setting “englische Jungen-Eliteschule” hat mich sofort angesprochen. Wenn ich gewusst hätte, dass sich die knapp über 500 Seiten wie Kaugummi ziehen, hätte ich das Buch wahrscheinlich nicht gelesen.

Es ist eine Geschichte, die aus zwei Perspektiven erzählt wird. Zum einen die des 65-jährigen Lateinlehrers Straitley - ja, sprechende Namen gibt es in diesem Buch auch einige - zum anderen die eines namenlosen Ich-Erzählers, dem Kind eines früheren Hausmeisters der Schule namens Snyde. Straitley ist die gute Seele von St. Oswald, er wird demnächst sein Century vollmachen, was ich nicht ganz verstanden habe. Denn Century heißt ja eigentlich Jahrhundert und er ist ja doch wesentlich jünger. Andererseits ist das Buch von 2005/2006 (10 Jahre später gab es diese Neuauflage) und vielleicht meint er einfach das Ende des 20. Jahrhunderts. Eine genaue Jahreszahl bekommen wir im Gegensatz zu Daten (Tag und Monat), aber nicht. Es wird aber gerade alles digitalisiert an der Schule (PC-Räume) und von Smartphones gesprochen. Ich weiß nicht, ob die Autorin das Buch für den zweiten Release nochmal überarbeitet hat. Jedenfalls ist Straitley der Sympathieträger, den Schüler und Lehrer*innen gleichermaßen respektieren. Er ist alleinstehend und quasi mit der Schule “verheiratet” und bringt uns als Lesenden die Insiderinfos. Dann ist da eben diese Ich-Erzählinstanz, die davon berichtet, wie sie als Kind des Hausmeisters in einem Häuschen auf dem Schulgelände mit dem Vater aufgewachsen ist, die Mutter hat beide früh verlassen. Diese Person, die auf die öffentliche Schule gehen musste, ist fasziniert von St. Oswald und legt sich eine zweite Identität als “Pinchback” zu, einem Phantom-Schüler, der in seiner Freizeit und teilweise auch während der regulären Schulzeit, durch die Gänge der Eliteschule streift. Dort trifft Pinchback eines Tages auf den etwas älteren Schüler Leon Mitchell und verliebt sich in ihn. Damit nimmt das Schicksal seinen Lauf.

Das ist der Kern der Geschichte, allerdings gibt es sehr viel Überbau, der hier auch noch erzählt wird. Es scheint mir, als wollte die Autorin die Atmosphäre haarklein schildern, um bei den Lesenden das Gefühl zu erzeugen, sie würden die Schule in und auswendig kennen. Eine Schule hat allerdings ziemlich viel Personal und ja, jeder Lehrer wird hier “besprochen” und auch eine Menge Schüler, vor allem die aus der Lateinklasse von Mr. Straitley. Der ist natürlich schon sehr sympathisch als Charakter, allerdings war mir die Handlung als Ganzes viel zu langatmig. Der große Twist am Ende war schon überraschend, aber leider auch ein wenig unglaubwürdig. 

Ein Buch, an dem ich gefühlt ewig gelesen habe. Es wundert mich nicht, dass es nicht ins Deutsche übersetzt wurde, zumindest wüsste ich nichts davon. Blieb leider hinter den Erwartungen zurück, obwohl ich das Cover immer noch sehr feiere.


Freitag, 31. Januar 2025

"Bible Bad Ass" von Edith Löhle


“Vielleicht ist es an der Zeit, einen längst fälligen Frühjahrsputz in mir zu machen: verstaubte Glaubenssätze ab-swiffern, veraltete Rollenverhältnisse entsorgen, Werte neu anordnen. Ich will, dass es in mir glänzt.” (S. 109)


Viele junge und mittelalte Menschen kehren der Kirche heutzutage zurecht den Rücken. Was in diesem konservativen Männerverein abgeht, ist leider ganz und gar nicht mehr feierlich. Da können sie noch so viel Wein trinken und Hostien essen. Die Diskriminierung von Frauen und queeren Menschen zieht sich bis in unsere heutige, man sollte meinen, moderne und aufgeklärte Zeit. Am allerschlimmsten sind aber die furchtbaren Missbrauchsskandale, die vertuscht und verschleiert werden.

Die Protagonistin des Romans “Bible Bad Ass”, Klara, hat ebenfalls mit der konventionellen Kirche gebrochen. Sie ist Journalistin bei einem hippen Frauenmagazin und als sie für ihren Chef - ausgerechnet während ihrer MENstruation - mal wieder eine tolle Story aus dem Hut zaubern soll, stößt sie auf die Geschichte der queeren evangelischen Pfarrerin Annina Ligniez, die ihr eine andere, sehr weibliche Sicht auf Bibel und die Kirche offenbart. Annina Ligniez ist eine reale Person, mit der Edith Löhle für den Roman tatsächlich zusammengearbeitet hat. Als Klara plötzlich in eine Whatsapp-Gruppe gerät, in der biblische Frauen ihre realen Geschichten erzählen, kommt es bei der Journalistin zu einem Umdenken: Können wir nicht zu einer modernen Form des Glaubens finden, indem wir den Fokus auf Schwesternschaft und Liebe lenken, statt auf Männerwirtschaft und Ausgrenzung?

Das positive und das negative Element dieses Romans sind für mich eins: eine Flut an Informationen. Wenn man böse ist, könnte man sagen: Infodump, wenn man nett ist: Aufklärung. Man merkt einfach, dass die Autorin Journalistin und mit dem Finger stets bei Google ist. Für einen Roman mit Ich-Erzählerin fehlt mir die detaillierte Herausarbeitung des inneren Konflikts der Hauptfigur. Klar geht es auch immer wieder darum, dass sie angepisst ist von ihrem frauenfeindlichen, nicht-gendernden Umfeld und um die Probleme mit ihrem Freund Nico. Letzteren liebt sie eigentlich, aber er nimmt sie in ihrer extrem feministischen Haltung nicht immer ernst und das führt zu Problemen. Aber ich habe die Figur Klara dennoch nicht ganz greifen können, sie kam oft rüber wie ein wandelndes Klischee. Eigentlich Katholikin mit schwäbischen Wurzeln, die im hippen Berlin wohnt. Prenzlauer-Berg-Drama ick hör dir trapsen…

[Spoiler ahead] Als Realistin finde ich es nicht gut, dass uns das Buch mit einer metaphysischen Erklärung für den Chat mit den biblischen Frauen abspeist. Woher kam dann das Ganze jetzt? Ist es fake oder real hardcore metaphysisch? Und dass die Protagonistin am Ende als esoterische und singuläre Spinnerin dasteht, hat mir auch nicht gefallen. Eine potenzielle Pseudo-Reformatorin, die alle Beziehungen zu ihrem bisherigen Leben abbricht? Interessant wäre gewesen zu wissen, was sie jetzt daraus macht. Aber an dieser Stelle endet leider das Buch.

Das heißt jetzt allerdings nicht, dass ich aus “Bible Bad Ass” nichts mitgenommen habe. Während das Buch als Roman für mich kaum funktioniert, ist es als Informationsquelle für die jahrhundertelange Frauenfeindlichkeit der Institution Kirche Gold wert. Ich habe sehr viel gelernt über weibliche Geschichte und die Ungerechtigkeiten, die Männer den biblischen Frauen - angetan haben, indem sie deren Geschichte und Bedeutung z.B. für Jesus fehlinterpretiert oder klein gehalten haben. Ob es sie nun gab oder nicht, ist dabei irrelevant.

Eigentlich ein sehr tolles, informatives und wichtiges Buch. Als erzählendes Sachbuch hätte es mir aber noch besser gefallen. 




Sonntag, 26. Januar 2025

"Der Klavierschüler" von Lea Singer


“...man muss nicht Thomas Mann sein. In jedem Menschen lebt vermutlich der Wunsch, erkannt zu werden. Erkannt als das, was er ist oder war.” (S. 126)

“Der Klavierschüler” von Lea Singer hat meines Erachtens ein klares Zielpublikum: Intellektuelle. Wer sich so gar nicht mit der Welt der europäischen Künstler*innen der 1930er Jahre auskennt, der hat hier schlechte Karten, überhaupt einen Einstieg zu finden. Klar, es geht eigentlich um eine Liebesgeschichte und die sollte ja für jede/n zugänglich sein, oder? Aber die Liebe zwischen dem Protagonisten, dem Schweizer Musiker Nico Kaufmann (1916-1986) und dem russischen Star-Pianisten Vladimir Horowitz (1903-1989) wird schon auf sehr verkopfte Weise präsentiert. Klar, das Buch ist hervorragend recherchiert und komponiert, aber selbst für die, denen Namen wie Antonio Borgese und Nathan Milstein etwas sagen, ist es eher geistige Arbeit als Lesevergnügen. 

"Der Klavierschüler” ist mehr fiktionalisierte Zeitgeschichte und literarische Autobiografie als ein klassisches Stück Literatur. Die Autorin hat sich am realen Leben von Nico Kaufmann orientiert. Als Basis ihrer Erzählung hat sie die Briefe von Horowitz an seinen Schüler Nico Kaufmann aus den Jahren 1937-1939 und dessen unveröffentlichte Romanfragmente quasi als Erste gesichtet und ausgewertet. Sie bilden das Grundgerüst der Handlung. Einzig durch den “Fremden” (Donati), den Singer als fiktionale Figur (glaube ich) einführt und der wegen der von Kaufmann gespielten Musik noch am Leben ist und jetzt seine Geschichte hört, verleiht sie der erzählten Biografie eine literarische Komponente.

Die Handlung ist spröde und an sich schon nicht so leicht zugänglich. Das liegt meines Erachtens an der verschachtelten Erzählsituation und auch an den fehlenden Anführungszeichen bei der direkten Rede. Man muss sich vieles erschließen: Wer spricht und welche Zeitebene wird besprochen. Die Rahmenhandlung spielt 1986 in Zürich, wo Nico Hoffmann auf den suizidgefährdeten Donati trifft. Am Anfang wird dieser Donati von der Schweizer Gesellschaft für Sterbehilfe gesucht, um ihn seinen finalen Drink, für den er unterschrieben hat, zu verabreichen. Donati entkommt aber, weil er Musik (Schumanns “Träumerei”) hören möchte. In einem Luxushotel trifft er auf Kaufmann, der ihm das Stück spielt und anschließend seine Lebensgeschichte erzählt. Dafür machen sie einen kleinen Roadtrip durch Zürich und drum herum. Bis auf ganz zu Beginn fehlt der Spannungsbogen und ich tat mich etwas schwer, an der Geschichte dranzubleiben.

Wenn ich an den Roman denke, kommen mir Nomen in den Sinn, die sich leitmotivisch durch dieses Buch ziehen: Musik, Klang, Sünde, Tod, Unsterblichkeit. Außerdem die Missachtung und Verfolgung, der Homosexuelle im 20. Jahrhundert ausgesetzt waren. Eine traurige Zeit und es bleibt uns allen zu hoffen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Momentan sieht die Zukunft nicht so rosig aus und wir sollten wo es geht, die Fahne der Menschlichkeit und Toleranz hoch halten.

Ein sehr gutes, aber schwer zugängliches Buch mit einem schweren geistigen Überbau, in dem wir zwar eine Liebesgeschichte, aber nur wenig direkte erzählte Interaktion zwischen den Liebenden haben. Ich kann “Der Klavierschüler” allen empfehlen, die sich für queere Geschichte und Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts interessieren.

Montag, 20. Januar 2025

"Mord im Filmstudio" von Beate Maly


Psychothriller in Cosy-Crime-Verpackung

CHVC - Cosy Historical Vienna Crime - you are my guilty pleasure! Obwohl ich nur noch wenige Buchreihen verfolge, so hat die historische Krimi-Reihe um das in Mordfällen im Wien der 1920er unfreiwillig ermittelnde ältere Pärchen (sie sind “zusammen”, aber nicht verheiratet) Anton und Ernestine vor Jahren einen Nerv bei mir getroffen. Mittlerweile ist schon der neunte Band erschienen, unglaublich wie schnell Beate Maly schreibt, vor allem bei der Vielzahl ihrer Buchprojekte. Die Frau ist ein Phänomen. Jedenfalls lag Band 8 fast ein Jahr auf dem SUB und ich frage mich beschämt wie ich es schaffen konnte, “Mord im Filmstudio” so lange auf selbigem zu lassen. 

Wer jetzt glaubt: Na geh, Cosy Crime ist eh nicht meins, den kann ich beruhigen: Wenn das “cosy” ist, was Maly sich hier ausgedacht hat, dann ist der Papst evangelisch. Nein, was hier an Trigger-Themen und Hardcore-Crime-Stuff ausgegraben wurde, ist alles andere als das Material eines “Blümchenkrimis”. Man muss hier als lesende Person wirklich ein dickes Fell haben: heftigstes Mobbing unter Kindern und Erwachsenen, sadistische Gewalt unter Kindern, Gaslighting, Suizid von Kindern (!) und Erwachsenen, schwere Körperverletzung/Kindesmisshandlung, Verlust von Angehörigen durch psychische Gewalt, Alkoholismus, Krieg und Krankheit, unterlassene Hilfeleistung, Misogynie, Homophobie, Antisemitismus, rassistische Gewaltverbrechen und natürlich Mord und Totschlag. Content Notes wären hier echt eine gute Sache.

“Achtung, eine Durchsage: Der kleine Psychothriller möchte aus der Cosy-Krimi-Reihe abgeholt werden…” Also ich wollte doch nach meiner letzten intensiven Lektüre eigentlich ein wenig abschalten und mir kein Panoptikum menschlichen Leids reinziehen. Immerhin wird in diesem Buch kein Tier gequält, wobei, die Cocker Spaniel-Dame Minna wird ganz allein zu Hause im Garten gelassen und verkriecht sich “beleidigt” unter einem Busch. Und die Menagerie, also der Zoo in Schloss Schönbrunn, kommt ja auch als Erinnerung einmal vor, mit den Tieren in den viel zu kleinen Käfigen…OCHVC - Cosy Historical Vienna Crime - you are my guilty pleasure! Obwohl ich nur noch wenige Buchreihen verfolge, so hat die historische Krimi-Reihe um das in Mordfällen im Wien der 1920er unfreiwillig ermittelnde ältere Pärchen (sie sind “zusammen”, aber nicht verheiratet) Anton und Ernestine vor Jahren einen Nerv bei mir getroffen. Mittlerweile ist schon der neunte Band erschienen, unglaublich wie schnell Beate Maly schreibt, vor allem bei der Vielzahl ihrer Buchprojekte. Die Frau ist ein Phänomen. Jedenfalls lag Band 8 fast ein Jahr auf dem SUB und ich frage mich beschämt wie ich es schaffen konnte, “Mord im Filmstudio” so lange auf selbigem zu lassen. 

Wer jetzt glaubt: Na geh, Cosy Crime ist eh nicht meins, den kann ich beruhigen: Wenn das “cosy” ist, was Maly sich hier ausgedacht hat, dann ist der Papst evangelisch. Nein, was hier an Trigger-Themen und Hardcore-Crime-Stuff ausgegraben wurde, ist alles andere als das Material eines “Blümchenkrimis”. Man muss hier als lesende Person wirklich ein dickes Fell haben: heftigstes Mobbing unter Kindern und Erwachsenen, sadistische Gewalt unter Kindern, Gaslighting, Suizid von Kindern (!) und Erwachsenen, schwere Körperverletzung/Kindesmisshandlung, Verlust von Angehörigen durch psychische Gewalt, Alkoholismus, Krieg und Krankheit, unterlassene Hilfeleistung, Misogynie, Homophobie, Antisemitismus, rassistische Gewaltverbrechen und natürlich Mord und Totschlag. Content Notes wären hier echt eine gute Sache.

“Achtung, eine Durchsage: Der kleine Psychothriller möchte aus der Cosy-Krimi-Reihe abgeholt werden…” Also ich wollte doch nach meiner letzten intensiven Lektüre eigentlich ein wenig abschalten und mir kein Panoptikum menschlichen Leids reinziehen. Immerhin wird in diesem Buch kein Tier gequält, wobei, die Cocker Spaniel-Dame Minna wird ganz allein zu Hause im Garten gelassen und verkriecht sich “beleidigt” unter einem Busch. Und die Menagerie, also der Zoo in Schloss Schönbrunn, kommt ja auch als Erinnerung einmal vor, mit den Tieren in den viel zu kleinen Käfigen…O.k., vergesst was ich gesagt habe und fügt psychisches Leid von Tieren dem Horrorkabinett hinzu.

Wo ist jetzt eigentlich mein sympathisches Ermittler*innen-Duo Ernestine und Anton? Genau wie es der Titel vermuten lässt - sie sind auf einem Filmset. Ernestine hat es natürlich mal wieder eingefädelt: Statist*innen für die Stummfilm-Aufzeichnung des “Rosenkavaliers” wurden gesucht (Libretto: Hugo von Hofmannsthal!) und Ernestine hat sich und Anton prompt angemeldet und sie wurden genommen. Anton hat wie immer keinen Bock und möchte lieber den heißen Sommer und seinen Ruhestand auf dem Liegestuhl genießen. Immerhin stimmen ihn die köstlichen Topfengolatschen in der Filmkantine milde. Glück gehabt, Ernestine. Aber die hat diesmal auch die engen Korsagen schnell satt und die unangenehme Attitüde der Filmleute. Doch es gibt ein Ereignis, das sie von all dem schnell ablenkt und ihren Ermittlerinneninstinkt weckt: Die schöne Hauptdarstellerin des Films, Louise Toupie, wurde in ihrer Garderobe ermordet. Und es gibt einen Haufen Verdächtige, die die Diva loswerden wollen. Anton isst erstmal eine zweite Topfengolatsche und Ernestine und Antons Schwiegersohn Erich ermitteln…

Beate Maly schlägt in diesem Buch sehr ernste Töne an. Klar kennen wir das von den anderen Bänden der Reihe, aber hier ist die Vorgeschichte des Verbrechens besonders perfide. Und die Nebenhandlung mit Erich, der von seinem Kollegen antisemitisch beleidigt wird. Der aufkommende Nationalsozialismus ist ein Thema. Da wird einem schon anders, wenn man sich die Jahreszahl anschaut: 1925. Schluck. Ihr wisst sicher, was ich meine.

Anton ist wie immer das komische Element, aber mit seiner grenzenlosen Naivität in Bezug auf die noch geheime Schwangerschaft seiner Tochter Heide übertreibt er es diesmal etwas…Er ist Apotheker und denkt nicht mal an die Möglichkeit, dass sie schwanger sein könnte, obwohl sie sich übergibt, dauernd müde ist und frisch verheiratet ist…

Beate Maly ist und bleibt meine österreichische Histo-Queen, die hervorragend plotten und lebensechte Charaktere aus dem Hut zaubern kann. In diesem Buch hat sie es etwas übertrieben, mit allem irgendwie. Das heißt nicht, dass es nicht sehr kurzweilig, unterhaltsam und lesenswert ist - und erst recht nicht, wenn man ein Fan der Reihe ist.

Freitag, 17. Januar 2025

"The Safekeep" von Yael van der Wouden


Über die Dinge, die unsere Geschichten erzählen 

Romane, in denen Häuser quasi die Protagonisten sind, haben mich schon immer fasziniert. Das Haus als Herberge des Unterbewussten, das Haus als Folie für all die dort gelebten Leben, für die Dramen und das Glück. Das Haus als Motiv für das Bleibende, vor dem die Flüchtigkeit des Menschenlebens nur noch stärker und unbarmherziger zum Vorschein kommt.

Der Roman “The Safe Keep” der niederländerischen Autorin Yael van der Wouden ist so ein Buch, in dem ein Haus die Hauptrolle spielt. Die deutsche Übersetzung beim Gutkind Verlag, die jetzt im Januar erscheint, wird dementsprechend “In ihrem Haus” heißen. Wissenswert: Das Buch war 2024 auf der Shortlist des Booker Prize, da es in der Originalsprache Englisch erschienen ist. Dies ist bemerkenswerter Weise nicht die Muttersprache von Yael van der Wouden. Man “hört” dem Buch dies aber in keinem Moment an, die englische Prosa ist makellos. Vereinzelt gibt es niederländische Begriffe, die aber erklärt werden.

Im Mittelpunkt des Romans steht das Haus der drei Geschwister Hendrik, Isabel und Louis, die im Jahr der Handlung 1961 alle um die 30 Jahre alt sind, Louis ist mit 31 der Älteste. Das Haus befindet sich auf dem Land, im Osten der Niederlande. Während Hendrik und Louis in Den Haag wohnen, lebt Isabel seit dem Tod der Mutter alleine in dem großen Anwesen. Die Brüder haben beide gute Jobs, Isabel lebt vom Nachlass ihrer Eltern, der von ihrem Onkel verwaltet wird. Hendrik ist homosexuell und seit vielen Jahren mit seinem Partner Sebastian zusammen. Louis hingegen hat wechselnde Partnerinnen. Eines Tages stellt Louis seinen Geschwistern die mysteriöse Eva vor. Isabel hegt eine sofortige Ablehnung ihr gegenüber, die sich im Laufe der Handlung in eine leidenschaftliche Anziehung verwandeln wird…

Dieses Buch wimmelt. Es wimmelt von Dingen und von der Geschichte, die jedem Gegenstand innewohnt. Isabel hegt die Paranoia, ihre Haushaltshilfe Neelke würde sie bestehlen, sie führt akribisch Buch über alle Gegenstände, die sie besitzt. Unterschwellig stellt sich die Frage, ob uns die Dinge, die wir besitzen, zu dem gemacht haben, was wir sind. Gerechtigkeit ist ebenfalls ein Thema des Romans. Louis soll als Ältester das Haus erben, obwohl er als Erster der drei Geschwister in die Stadt zurück ging. Das Recht der frühen Geburt. Und das, obwohl es doch Isabel ist, die ihr ganzes Leben diesem Haus widmet. Überhaupt Isabel: Sie ist schroff und spröde - kein liebenswerter Charakter. Ich mochte sie nicht und kann auch verstehen, dass Eva ihre liebe Not mit ihr hatte. Eva war auch ein wenig seltsam, obwohl das alles im Nachhinein auf herzherausreißende Weise erklärt wird. 

Obwohl die Anzahl der handelnden Personen relativ gering ist, menschelt es sehr in diesem Roman. Stimmungen, Meinungen, kleine große Gesten und natürlich Dialoge. Animositäten und Anziehung. Die erotischen Szenen sind sehr intensiv und leidenschaftlich. Muss man mögen, ich wäre gut mit weniger Körperlichkeit ausgekommen. Ich denke aber, dass es hier nicht anders ging, um die Argumentationslinie der Autorin mit Leben zu erwecken. Trotzdem kommt man sich beim Lesen voyeuristisch vor. Der Roman ist ein intimes Kammerspiel. Szenen, die nicht für die Augen anderer bestimmt sind - das Tagebuch, neben der Figur des Hasen ein Leitmotiv von “The Safe Keep”.

Übrigens ist es ein “Sommerbuch”, denn die Haupthandlung passiert in einem warmen Juni, der in einen heißen Juli übergeht. Draußen kocht die Luft und drinnen die Emotionen. Mich hat die Lektüre beim Lesen in der starren winterlichen Hochphase oft gewärmt. Fast ganz am Ende ist es aber auch mal kalt und grau in der Handlung - wie bei mir tiefster Januar.

Ein Buch, das einen wirklich umhaut mit einer prosaischen Wucht und einem Plot Twist, der unvergleich tragisch ist. Zurecht auf der Shortlist des Booker.



Mittwoch, 15. Januar 2025

"Das verwinterte Herz" von Jennifer Pfalzgraf


Wunderschönes Wintermärchen

Es begab sich vor langer Zeit, etwa um das Jahr 1780 herum. Da lebten in der Hauptstadt des französischen Reiches zwei Menschen, die einander spinnefeind waren. Zum einen der Junker Miłosz Lepiński, der die Profession eines Magiers unterhielt. Diese musste er im Untergrund ausüben, denn diejenigen, die der Magie mächtig waren, wurden von der französischen Polizei dazumal, der Maréchaussée, sträflich verfolgt. Miłosz war ein Vicomte aus den polnischen Königslanden.

Zum anderen war da die Maid Germaine de Saint-Nazaire. Auch sie war von adeligem Geblüt, eine Comtesse gar. Sie zählte gerade einmal 23 Lenze, hatte aber schon viele arme Seelen auf dem Gewissen. Das lag an ihrem gar unüblichen Broterwerb - sie wurde bezahlt, um Menschen ins Jenseits zu befördern. Die beiden Leute hatten gar schon viel erlebt in ihrem jungen Leben, doch nun mussten sie miteinander eine Reise antreten, die ihrer beiden Dasein für immer verändern sollte. Diese wunderschöne winterliche Mär erzählt euch die ehrenwerte Schriftgelehrte Jennifer Pfalzgraf in ihrem Buche “Das verwinterte Herz”.

Und ich erzähle euch jetzt, wie ich diese “Mär” so fand. Zuallererst muss ich sagen, dass in diesem kurzen Werk von 218 Seiten, das die Autorin als “Dark Fantasy Novelle” bezeichnet, kein Wort zu viel oder zu wenig ist. Eine eingängige Prosa, die das Wichtige erzählt, das Unwichtige ausspart und trotzdem nicht mit einem detaillierten Setting und einer einnehmenden winterlichen Atmosphäre geizt. “En point” könnte man passend zum französischen Handlungsort wahrheitsgemäß sagen. Neben der wirklich märchenhaften Liebesgeschichte, die den roten Faden der Erzählung bildet, lebt diese von ihren beiden hervorragend ausgearbeiteten Protagonist*innen Germaine und Miłosz. Ich habe selten “lebensechtere” Charaktere kennenlernen dürfen, die sich beim Lesen förmlich materialisieren und lebendig werden. Ich habe das Geplänkel und den gewitzten Schlagabtausch der beiden sehr genossen. Ebenso das Gefühl, wie langsam aber sicher die Liebe zwischen den Seiten emporsteigt wie der winterliche Morgennebel über dem Meer bei Nantes, dem letzten Schauplatz der Novelle. Der metaphorische Überbau und die literarischen Querverweise überzeugen auf ganzer Linie. Ich bin wirklich beeindruckt, wie viel schriftstellerische Könnerschaft im Selfpublishing möglich ist. Schön und wichtig finde ich auch die Content Notes/Triggerwarnungen am Ende des Buches. Ich habe dennoch zwei kleine Kritikpunkte: Erstens hätte ich mir gewünscht, dass das Buch tatsächlich noch länger gewesen wäre. Das Ende huschte etwas zu schnell herbei und ich hätte Germaine und Miłosz gerne noch viel ausführlicher begleitet. Ich weiß aber auch, dass die Autorin das Buch bewusst als Novelle konzipiert hat, um sich von Fantasy-Epen abzuheben und aus rein pragmatischen Gründen des Büchermachens und des Vertriebs. 

Zweitens fand ich es nicht allzu "dark". Ich hätte es vielleicht eher als eine “Historical Fantasy Novelle” statt “Dark Fantasy” bezeichnet. Die Autorin erklärt es aber damit, dass in Dark Fantasy eben Dinge vorkommen, die sensible Leser*innen abschrecken könnten wie z.B. Gewalt, Mord/Tod oder die Verfolgung von Andersdenkenden. Deshalb auch die Content Notes.

Allen Leser*innen, die “aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen”, sei dieses magische, warmherzige, aber stellenweise auch düstere Werk - trotz seiner Kürze und dem meiner Meinung nach nicht ganz so dunklen Dark - wärmstens an selbiges gelegt.

Herzlichen Dank an Jennifer Pfalzgraf für das Rezensionsexemplar!





Montag, 13. Januar 2025

"Wackelkontakt" von Wolf Haas


Metatextualität brillant auf die Spitze getrieben

“Es ging darum, mit seinen Worten den Übergangsbereich zu berühren. Die unsichtbare Nahtstelle zwischen den Welten des tatsächlich Geschehenen und des möglich Gewesenen. Wie ein Kletterer durfte man von diesem Grat nicht abrutschen und weder in den Himmel reinen Wortgeklingels noch in die Faktenhölle des gelebten Lebens stürzen.” (“Wackelkontakt”, S. 147)

Die eben zitierten Gedanken stammen aus dem Kopf unseres Protagonisten Franz Escher, der über seine Profession als Trauerredner nachdenkt und die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Was ist wirklich passiert und was ist Wunschdenken oder Fiktion? Das sind Fragen, die sich Escher im Laufe der Handlung, von der ich auf keinen Fall zu viel verraten darf, noch öfter stellen wird. 

Franz Escher und Elio Russo alias Marko Steiner. Das sind zwei Männer, die von der seltsamen Geschichte des jeweils anderen fasziniert sind. Escher liest ein Buch über Elio/Marko und vice versa. Sie haben viele Gemeinsamkeiten und doch auch wieder gar keine. Irgendwie eint sie aber die Leidenschaft für das Zusammensetzen. Escher ist leidenschaftlicher Puzzler, Steiner setzt Fahrräder und Elektronisches wieder zusammen. 

Aber Escher und Steiner sind eben auch ganz surrealer Weise zwei literarische Figuren, die den jeweils anderen als literarische Figur kennen und innerhalb eines literarischen Werkes das literarische Werk lesen, in dem der jeweils andere vorkommt. Simpel, wie Wolf Haas selbst über seine Geschichte sagte, aber genial (wie das Feuilleton und meine Wenigkeit über die Idee sagen). Das ist verrückt, kafkaesk, meta- und intertextuell, das ist spaßig und traurig und so spannend, dass ich das Buch kaum links liegen lassen oder nicht an es denken konnte, während ich es las (und das war keine lange Zeit). 

Dieser raffinierte erzählerische Trick, dass die Handlung immer häppchenweise so weit voranschreitet, bis Franz oder Marko/Elio sowie andere in der Geschichte eine Rolle spielende Personen das Buch mit der Geschichte des jeweils anderen zur Hand nehmen, ist einfach genial! Ich frage mich, wie es sein kann, dass bislang noch niemand auf diese brillante Idee gekommen ist.

Ungefähr auf Seite 116 habe ich erst gecheckt, auf was das Ganze erzähltechnisch hinausläuft und war von meiner Erkenntnis getroffen wie ein Stromschlag - passend zum Titel. Einfach so unfassbar genial dieser Plot und natürlich die erzählerische Umsetzung.

Das Leitmotiv des Romans ist die Kunst von M.C. Escher, dem Namensvetter unseres Protagonisten Franz Escher. Seine Puzzle-Leidenschaft beginnt mit einem 1000-Teile-Puzzle von Eschers zeichnenden Händen, die sich selbst zeichen. Das ist natürlich eine Anspielung auf die Unmöglichkeit dieses metatextuellen Romans selbst, in dem zwei Geschichten einander spiegeln und sich der Kausalität von Raum und Zeit entziehen. Wolf Haas fungiert hier also als literarischer M. C. Escher.

Dieser Roman ist beileibe keine Coverschönheit. Hier kommt die Schönheit wahrlich von innen. Es ist eine, die sich aus einem Mix aus feinsinnigem Humor, literarischer Perfektion, meisterhafter Wortgewandtheit und einem scharfen Blick für die Unzulänglichkeiten des Menschlichen speist. Unbedingt lesen! 


Freitag, 10. Januar 2025

"Not your Darling" von Katherine Blake


Orgien im prüden Amerika der 1950er Jahre? Ja, laut Katherine Blake und ihrem Buch “Not your Darling” (übersetzt von Astrid Finke) gab es sie zu Hauf - zumindest in Hollywood, in den nur von außen weißen Villen der skrupellosen Filmemacher und glamourösen - männlichen - Stars. Eine Frau, die hier ihr blaues Wunder erlebt und doch ihren Weg relativ unbeirrt fortschreitet, ist die 21-jährige Protagonistin Loretta Darling. Ein Künstlername, denn eigentlich heißt sie Margaret und stammt aus einem englischen Küstenstädtchen, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Sie möchte im Sündenpfuhl Hollywood groß rauskommen - als Visagistin der Stars. Außerdem ist es ihr Wunsch, Make-up im großen Stil verkaufen - die Kunst des Schminkemachens lernte sie von ihrer Mutter. Ein ehrenvoller Plan, wenn da nicht die Männer wären, die ihren Weg kreuzen. Wird Loretta ihr Ziel trotz in den Weg gelegter Steine erreichen?

In guter Literatur sind die Charaktere so gezeichnet, dass wir uns mit ihnen identifizieren können und das Gefühl haben, sie wären wirklich “echt”. Bei Loretta hatte ich dieses Gefühl der Authentizität ihrer Persönlichkeit leider an keiner Stelle. Sie wirkt wie eine belebte Barbie, die eine pseudo-feministische Geschichte vorspielt, aber keinerlei Tiefe besitzt. Auch die anderen Charaktere sind nicht sehr differenziert und meist entweder “gut” oder “böse”. Blake zeichnet ein sehr eindimensionales, toxisches Bild vom Hollywood der frühen 1950er Jahre. Praktisch jeder ist machtgeil, dauerhorny und skrupellos - nur wenn man in der Vergangenheit Traumata und schwere Verluste erlebt hat, kann man, wie Scott Elliott (Lorettas “Love Interest”) ein halbwegs "normaler" Mensch bleiben in der Traumfabrik. Auch für Loretta wurde eine melodramatische Background-Story erdacht, die ihren Charakter quasi tiefenpsychologisch unterfüttern soll. Jo, überzeugt mich hier leider nicht und wirkt wie ein sehr durchschaubarer "Kunstgriff" in die Trickkiste literarischer Klischees. 

Was mich immer tierisch stört - wir haben in der Handlung keinerlei Marker für das tatsächliche Vergehen der Zeit. Wir wissen zwar, dass Loretta am Tag ihres 21sten Geburtstages heiratet, aber die Autorin lässt uns über das Datum im Unklaren, wir kennen noch nicht einmal die Jahreszeit. Gut, in Los Angeles gibt es nicht wirklich Jahreszeiten, aber auch als die Handlung nach New York wechselt, wird nichts darüber verraten. Warum haben nicht mal die Briefe, die Loretta an ihre Schwester Enid schreibt, eine Zeitangabe. Loretta sagt an einer Stelle, dass ihr die englischen Jahreszeiten fehlen würden, weil wieder ein sonniger Tag sei. Es ist mir schleierhaft, wie man ohne die Nennung auch nur eines Monatsnamens ein komplettes Buch von fast 400 Seiten schreiben kann. Schließlich gibt es auch Feiertage wie Unabhängigkeitstag, Thanksgiving, Weihnachten, die in den USA eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Alles wird nur sehr vage verortet. Zum Beispiel heißt es “es war ein Sonntag” als sie ihren Ex-Mann Raphael wiedertrifft. Er möchte nicht, dass sie auf das Ereignis an ihrem 21. Geburtstag zu sprechen kommt, das zur Trennung der beiden führte: “Wie du sagst, es ist ja lange her.” Ich will als Leserin wissen, wie lange das her ist. Vor ein paar Kapiteln hat Loretta da noch gesagt, dass sie immer noch 21 ist. Ein bisschen “Worldbuilding” erwarte ich auch von Nicht-Fantasy-Romanen. Nämlich dass sie unsere Welt - auch in historischer Form - plastisch abbilden und nicht in einem luftleeren Raum verharren, in dem sich Lesende nicht orientieren können. Das alles erinnert mich an Seifenopern im TV, die ebenfalls an jeder Stelle schreien: wir sind gescriptet und haben absolut nichts mit dem echten Leben zu tun.

Was die Plotentwicklung und Spannungskurve angeht, so ist der meiner Meinung nach interessante Teil nach nur einem Drittel des Romans bereits vorbei. Ab diesem Höhepunkt ist die Handlung kein tosender Sturm mehr, sondern nur noch ein laues Lüftchen. Oder, um im Vokabular von Lorettas Metier zu sprechen: Das Gesicht des Buches legt sein glamouröses Oscar-Make-up ab, um einen alltagstauglichen und unspektakulären Nude-Look aufzutragen. Gegen Ende passiert dann noch einmal etwas, aber das kann die unnötig aufgeblähte Story auch nicht mehr retten.

Obwohl mich der Anfang des Romans bis zum (ersten) Höhepunkt ganz gut unterhalten hat, habe ich mir wesentlich mehr von dem Buch versprochen. Die gestalterische Aufmachung ist wirklich sehr schön, der Inhalt eher mau. Wie bei einer Person, die durch ein glamouröses Make-Up ein “Durchschnittsgesicht” zu verbergen sucht. Schade.

Herzlichen Dank an Droemer Knaur für das Rezensionsexemplar und die Beigaben.


Montag, 6. Januar 2025

"Der echte Krampus" von Uta Seeburg


Historische Bergeinsamkeit und seltsame Bräuche

“Der Major seufzte leise. In diesem Dorf lebten entschieden viel zu viele unverheiratete junge Menschen. All die verstohlenen Blicke, die hier getauscht wurden, entfachten immer neue Spekulationen in seinem Kopf, die immer wieder auf dieselbe Frage hinausliefen: Welches Geheimnis war so gefährlich, welche Leidenschaft so zerstörerisch, dass am Ende dieser geflüsterten Worte und verhüllten Gesichter ein Mord stand?” (S. 219)

Bisher habe ich alle Romane um Major Wilhelm von Gryszinski, dem preußischen Polizeibeamten, der in Bayerns Hauptstadt ermittelt, mit großer Begeisterung “verschlungen”. Auch seine Familie (die schreibende Ehefrau Sophie und der kleine Sohn Fritz) sowie sein gesamtes Umfeld im München des Fin de Siècle um 1900 sind mir mit den Jahren bzw. den Büchern ans Herz gewachsen. Während es im letzten Gryszinski-Roman “Der treue Spion” sogar bis Paris und ins russische Zarenreich ging, entführt uns Uta Seeburg in “Der echte Krampus” in eine verschneite, märchenhafte Bergeinsamkeit, die ihresgleichen sucht. Gryszinski macht nach vielen Jahren zum ersten Mal einen mehrwöchigen Urlaub mit seiner kleinen Familie. Die exzentrische adelige Wiener Freundin Gräfin Wurmbrand hat sich ein mondänes “Ferienhaus” - wie man heute sagen würde - in den Bayerischen Alpen geleistet. Es geht also für die Gryszinskis in das kleine (fiktive) Alpendorf Berghall in der Nähe von Bad Reichenhall. Kaum ein Tag in der Adventszeit vergeht hier, ohne dass ein (vor-)weihnachtliches Brauchtum von der Dorfgemeinschaft ausgeführt wird, dem die freigeistigen und protestantischen Gryzsinskis mit Erstaunen und teilweise auch Entsetzen beiwohnen. Denn manche Bräuche haben es in sich. Zum Beispiel der martialische Krampuslauf, in dem die jungen Männer des Dorfes sich als böse Begleiter des Nikolaus verkleiden und die Dorfbewohner*innen in Angst und Schrecken versetzen. Just bei diesem Krampuslauf am Abend des 5. Dezember geschieht ein Mord - einer der Krampusse wird erstochen. Und Gryszinski? Muss den langersehnten Winterurlaub mit kniffligen Ermittlungen teilen. Ob das gut geht?

Was wirklich fast einzigartig ist - sowohl für einen historischen als auch einen zeitgenössischen Krimi - ist zum einen die extrem hohe Zahl an Verdächtigen, die im ersten Drittel des Buches vor uns auf Gryszinskis Ermittlungsnotizen liegt. 19 junge Männer sind verdächtigt, am Tod von Gregor Kroiß, einem der Krampusse, schuldig zu sein. Und dann kommen theoretisch auch noch weitere Personen hinzu, die es gewesen sein könnten. Zum anderen birgt die Tatsache, dass die meisten Verdächtigen am Tatabend nicht sie selbst, sondern Krampusse waren, einen ungeheuren Spannungs-Effekt, der gruselig-zotteligen Ganzkörperverkleidung sei Dank! Außerdem liefern die enormen Schneemassen großes erzählerisches Potenzial: Tatwaffen können nicht so leicht “entsorgt”, die Toten bis zum Frühjahr nicht begraben werden. Auch Gryszinski macht im Laufe der Handlung Bekanntschaft mit der Unbarmherzigkeit der winterlichen Wetterlage - grandios komponiert von Uta Seeburg.

Ein wirklich meisterhafter Krimi, den ich trotz der aufgelösten “Krimi-Handlung” bestimmt in einigen Jahren ein zweites Mal lesen werde. Einfach weil er uns in diese historische Bergeinsamkeit versetzt, an der ich alles irgendwie geliebt habe und vor der ich mich nur sehr schwer wieder trennen konnte. Für mich der beste Gryszinski-Roman bislang.