Donnerstag, 26. Dezember 2024
"A Bookboyfriend for Christmas" von Freya Miles
Mittwoch, 25. Dezember 2024
"Ein Geschenk kommt selten allein" von Birgitta Bergin
Montag, 23. Dezember 2024
"The Wood at Midwinter" von Susanna Clarke
Susanna Clarke kann epische Fantasy (“Jonathan Strange & Mr. Norrell”), “Piranesi” steht noch immer ganz oben auf meiner Leseliste. Das Hauptgenre dieser nur selten publizierenden Autorin aber sind Short Stories. Ihre neueste, “The Wood at Midwinter”, die nur knapp 50 Seiten umfasst, war eine Auftragsarbeit für BBC Radio, die 2022 gerne eine weihnachtliche Story von Clarke haben wollten. Anschließend wurde sie als Einzeltitel im Hardcover publiziert. Mit wunderschönen Illustrationen von Victoria Sawdon. Ein bibliophiles Kunstwerk ist dieses schmale Büchlein allemal. Doch was erzählt uns die Geschichte?
Sie berichtet von einer jungen Frau, Merowdis. Statt mit ihrer wohlhabenden Großfamilie, ist Merowdis lieber mit ihren Tieren zusammen. Sie hält Hunde, unzählige Katzen, einen Papagei, ein Frettchen und ein Schwein. Aber auch ungewöhnliche Haustiere wie Spinnen und Wildvögel fliegen bzw. krabbeln in ihrem Zimmer aus und ein. Merowdis ist aber am liebsten im Wald, wo ihre Schwester Ysolde, die sie noch am ehesten versteht, immer mit der Kutsche hinbringt. So auch an einem Midwinter-Tag kurz vor Weihnachten. Merowdis kann mit Tieren und Bäumen sprechen. Susanna Clarke sagt im Nachwort ihrer Novelle, dass ihre Protagonistin heutzutage wohl als neurodivergent zu bezeichnen wäre. “She has long since given up the idea that anyone else will understand the things that are importatant to her.” (S. 58)
Wir erfahren, dass Merowdis nicht den ihr zugedachten Mann ehelichen möchte. Sie möchte frei sein, aber andererseits wünscht sie sich auch ein Kind: “The child must come in midwinter. A midwinter child in the arms of a Virgin. A child to bring light into the darkness. A child to heal all wounds.” (S. 24) Wer oder was das Kind ist, würde zu viel verraten. Es ist der Höhepunkt und die Pointe der Geschichte. Nur so viel: Es ist eine Sache, die im Bereich des Fantastischen angesiedelt ist und wahrlich eine “unerhörte Begebenheit”.
“The Wood at Midwinter” ist ein zauberhaftes allegorisches Wintermärchen. Typisch für Susanna Clarke ist, dass sie sich von vielerlei Quellen inspirieren und diese zu einem faszinierenden literarischen Konglomerat verschmelzen lässt: heidnische Naturreligion und Christentum, viktorianische Literatur, Mythologie und Fantasy, Fabel. Wirklich interessant ist außerdem das Nachwort, in dem Clarke ihre Novelle selbst analysiert und literarisch in ihrem Œuvre verortet. Eine Poetologie sozusagen. Hier wird auch gesagt, dass ihre Geschichten sich gegenseitig inspirieren und dass Merowdis zur selben Welt gehört wie “Jonathan Strange and Mr Norrel”. Wenn das nicht ein Grund ist, diesen opulenten Fantasy-Klassiker mal wieder aus dem Regal zu holen. Ich muss aber jetzt erstmal “Piranesi” lesen. Aber Midwinter ist und bleibt von nun an die Zeit von Merowdis - und das ist auch gut so.
Sonntag, 22. Dezember 2024
"Mord im Stadtpalais" von Beate Maly
Historischer Weihnachtskrimi mit Flair
Für mich ist Beate Maly schon seit vielen Jahren die Queen des unterhaltsamen Historienromans. Oft sind ihre Romane historische Krimis, die wiederum sehr oft ihre Heimatstadt Wien als Schauplatz des Geschehens haben. Ich persönlich liebe die Reihe um Ernestine Kirsch und Anton Böck, in der es ein älteres Paar immer wieder mit Mordfällen zu tun bekommt. Aber Maly hat noch viel mehr im Repertoire und kann definitiv schneller schreiben als ich dazu komme, ihre Bücher zu lesen. Ich kenne kaum eine schreibende Person, die produktiver ist als sie.
Der vorliegende “Weihnachtskrimi” ist diesmal kein Teil einer Reihe, sondern ein eigenständiges Buch. Wir befinden uns natürlich in Wien, im Dezember 1910. Vom Elend in der Vorstadt ist in der Wiener Innenstadt mit ihrer prachtvollen neuen Ringstraße und Prestigebauten wie dem Eislaufverein - der im Roman auch eine Rolle spielt - vor wunderbarer Kulisse, nichts zu merken. Diesmal tauchen wir mit dem Fall in die vornehmen Kreise Wiens ein. Das Mordopfer ist ein reicher älterer Tabakfabrikant namens Steinhäusel, der in seinem dekadenten Stadtpalais in der altehrwürdigen Herrengasse - in nächster Nähe zur Hofburg - während der Adventszeit seine gesamte Familie mit Anhang empfängt. Ganz im Geiste der vor einigen Jahren verstorbenen ersten Frau Steinhäusel, die die Weihnachtszeit liebte und ihre Familie während dieser um sich scharen wollte. Protagonistin des Romans ist die böhmische Köchin Mila, die seit ihrem zehnten (!) Lebensjahr in Wien arbeitet. Mittlerweile ist sie über Fünfzig und spürt die jahrelange harte Arbeit in ihren Knochen. Mila arbeitet erst seit wenigen Monaten im Palais Steinhäusel, wo sie für das leibliche Wohl der Herrschaften zuständig ist. Allerdings darf der Hausherr keinen Zucker essen und auch dessen neue Ehefrau, eine ehemalige Schauspielerin, verzichtet auf Milas Mehlspeisen, achtet sie doch auf ihre schlanke Linie. Gut, dass es bereits zwei Enkelkinder gibt, die gerne naschen. Als der Hausherr nach dem Genuss zweier zuckerfreier "Marillentascherl" tot umfällt, bricht ein Familienstreit um das Erbe aus. War es vielleicht doch Mord? Mila und nette Kommissar Felix Zack, der aussieht wie der Nikolaus, ermitteln.
“Mord im Stadtpalais” ist ein sehr atmosphärischer, ruhiger Krimi. Maly versteht es wunderbar, die historischen Weihnachtsbräuche lebendig werden zu lassen. So bekommen die Kinder z.B. Nikolausstiefel, die mit traditionellem Naschwerk, Früchten und Nüssen befüllt werden. Man riecht beim Lesen förmlich die weihnachtlichen Gerüche, die die Küche des Palais ausstrahlt. Historisches Setting kann Beate Maly aus dem EffEff. Genauso wie ausführliche Charakterisierungen, bei denen die Figuren bis ins kleinste Minenspiel Gestalt annehmen. Sie hat einen besonderen Schreibstil, den ich unter Hunderten anderen blind wiedererkennen würde. Die Figur des Felix Zack und dessen traurige Geschichte gehen absolut ans Herz. Schön dass es Hoffnung für ihn gibt und er jetzt einen “Gankerl” hat. Hier wird das weihnachtliche Bedürfnis nach Harmonie und Glück für alle befriedigt, was für die zerstrittene Familie Steinhäusel natürlich nicht gegeben ist.
Der Krimi ist ähnlich gestrickt wie die von Agatha Christie - am Ende gibt es die Auslösung, bei der alle Verdächtige zugegen sind. Und anders als Beate Maly zunächst dachte - wie sie im Nachwort sagt - passen Weihnachten und Krimi sehr wohl zusammen. Für alle die historische Wohlfühlkrimis mögen, ein absolutes Muss.
Herzlichen Dank an den Emons Verlag für das Rezensionsexemplar!
Montag, 16. Dezember 2024
"Flimmern im Ohr" von Barbara Schibli
“Daheim beim Üben fühle ich mich einsam, wenn ich die Musik von damals höre, denn damals war das Hören ja immer ein kollektives Erlebnis. Wir gehörten zusammen, denn dabei ging es letztlich beim Hören dieser Musik. Aber das Hören, oder wie immer man das nennen will, was ich mit den Platten mache, lässt mich meine Einsamkeit, die ja eh schon da ist, noch deutlicher fühlen.” (S. 101)
In “Flimmern im Ohr” geht es um die 53-Jährige Schweizerin Priska. Der Roman, der aus der Ich-Perspektive der Protagonistin erzählt wird, spielt im Sommer 2010, Priska ist also etwa Jahrgang 1957.
Priska kämpft nach einem Unfall (welcher das ist, werden wir später im Buch erfahren) mit einem schwerwiegenden Hörverlust. Vor Kurzem wurde ihr ein sogenanntes Cochlea-Implantat eingesetzt, das ihr dank modernster Technik wieder einen Zugang zum Hören verschaffen soll. Ihre Musiktherapeutin Frau Häusermann hat ihr empfohlen, die alten Platten ihrer Jugend abzuspielen, um Musik wieder wahrnehmen zu lernen. Die Songs vergangener Zeiten triggern eine gedankliche Reise in die Vergangenheit und lassen die Eckpfeiler von Priskas Biografie für die Lesenden lebendig werden. Vor allem die Zeit der späten 1970er und frühen 1980er Jahre wird beleuchtet.
Gefiltert durch Priskas Gedankenwelt werden Tabuthemen des weiblichen Intimbereichs ganz offen auf den Tisch gelegt. Scheidenflüssigkeit (bzw. ihr Fehlen), Periode, Masturbation, Wechseljahre, Hitzewallungen, Pille und diesbezügliche Trigger-Themen wie Abtreibung, (gewollte) Kinderlosigkeit und Vergewaltigung sind Schlagworte, die auf dem Tablett von Priskas Erinnerungen einen ungezwungenen Tanz tanzen. Die Lesenden hören sie förmlich rufen: Schaut uns an, hier sind wir, uns gibt es auch noch! Auch das Stichwort Bisexualität ist untrennbar mit der Protagonistin verbunden - und auch mit David Bowie, der selbst bi war und dessen Aussage “Was sind wir sexy, alle!” sich leitmotivisch durch den Roman zieht.
Eigentlich vermeide ich die typische Rezi-Phrase “das liest sich flüssig”. Aber jetzt muss ich sie mal wieder aus der Mottenkiste oder dem Phrasenschwein hervorholen, denn ich kann das Lesegefühl tatsächlich nicht anders beschreiben. Hier stockt nichts, alles ist im Flow, wie bei einem guten Musikstück, von denen viele im Roman zitiert werden. Die Prosa von Schibli gibt einen gewissen Takt vor und wir als Lesende freuen uns, wenn wir den Refrain wiedererkennen. Es ist eine emotionale und interessante Reise und es macht Freude, am wechselhaften Leben der Hauptfigur Priska teilzuhaben - sowohl an ihrem gegenwärtigen mit dem Möchtegern-Dandy Bengt, als auch an ihrer bewegten Vergangenheit mit der Revoluzzerin Gina. Gina ist eine überaus spannende Frauenfigur, die den Feminismus in Reinkultur verkörpert. Dass sie dennoch enigmatisch und vielschichtig bleibt und nicht zur eindimensionalen Chiffre verkommt, ist der gekonnten Charakterisierung der Autorin zu verdanken. Die Protagonistin Priska selbst ist ohnehin sehr facettenreich und das übergeordnete Thema mit dem Hörverlust und dem Implantat ist keines, über das man in jedem zweiten Roman etwas lesen würde.
Ich bin ehrlich: Mit der Schweizer Geschichte kenne ich mich so gut wie gar nicht aus. Dass es so eine Art “Stasi” gab und eben diese Fichen-Affäre, die im Jahr 2010 nochmal ein Revival erlebte, war mir völlig unbekannt. Barbara Schibli schafft es wunderbar, die historischen Zusammenhänge auch für Unkundige transparent zu machen und zwar ohne dass es je dröge oder langatmig wird.
Dies ist ein Buch über weibliche Selbstbestimmung/Feminismus, versehrte Körper und einen wachen Geist, der zurückblickt auf ein Leben - voller Fülle und Musik, Liebe und Schmerz - in dem Wissen, dass da trotzdem und hoffentlich noch ganz viel Zukunft ist. Beeindruckend.
Herzlichen Dank an den Dörlemann Verlag und Barbara Schibli für das Rezensionsexemplar!
Dienstag, 10. Dezember 2024
"Muskeln aus Plastik" von Selma Kay Matter
Worte finden für den Schmerz
“Ich hätte lieber Schmerzen gehabt, die positive Aufmerksamkeit brachten; einen Knochenbruch, eine Platzwunde; stattdessen wurde ich früh mit den Stigmata langsamer Erkrankungen versehen; Neurodermitis, Depression, Migräne, Allergien.” (S. 99)
Wenn ein junger Mensch von einer nach außen nicht sichtbaren, chronischen Krankheit betroffen ist, dann wohnt dieser Tatsache eine besondere Tragik inne, die abgekoppelt existiert von der allgemeinen Tragik, die jede schwere Krankheit mit sich bringt. Selma Kay Matter (1998 geboren), Autor*in von “Muskeln aus Plastik”, ist von vielen solcher Krankheiten betroffen, die deren Leben bestimmen. Matter ist seit Kindheit chronisch krank, das Buch beginnt als dey nach einer Corona-Erkrankung auf das "Fatigue-Syndrom" und/oder auf Long Covid untersucht wird.
“Muskeln aus Plastik” ist ein hoch intellektueller Text, gespickt mit Zitaten und Querverweisen, voller Fußnoten, Quellenangaben und spezieller Begrifflichkeiten, von denen ich viele erstmal nachschlagen musste. Die Kapitel haben unterschiedliche Schwerpunkte, manche sind surreal, manche sehr intellektuell-wissenschaftlich, oft erkennt man in den dialogisch geprägten Abschnitten deren Profession als Dramatiker*in. Der autobiografische Fokus: Das Aufwachsen in privilegierten Verhältnissen in der Schweiz, die Weiterentwicklung hin zu einem unabhängigen Leben in Berlin, das Bedürfnis nach Care und körperlicher Zuwendung, Transidentität. Ist es ein autofiktional-literarisches Sachbuch?
Vielleicht am ehesten. Der Text inspiriert jedenfalls, er animiert mich dazu, weiter zu denken: Der Körper als Gefängnis, Schillers Aussage: “Es ist der Geist, der sich den Körper baut.” Dey setzt sich zum Beispiel mit dem Wesen des Schmerzes auseinander: "Alles ist im Verhältnis zum Schmerz” (S. 93). Selma Kay Matter macht sich komplett nackt vor uns Lesenden. Dey verhüllt sich selbst nicht, indem dey sich in eine literarische Persona zurückzieht und lediglich den Anschein eines autofiktionalen Einflusses geltend macht. Nein, dieses Buch ist - so nennt dey es in den Fußnoten - kein Roman, sondern ein “Essay”. Ich würde sagen, es ist ein experimenteller schriftstellender Versuch, sich die eigene Krankheit, die deren ganzes Wesen bestimmt, komplett zu erklären. Dey sagt zum Beispiel: “Seit ich Schmerz empfinde, sehne ich mich nach einer Sprache dafür.” (S. 94) Matter schreibt über die Einsamkeit des Schmerzes, über die Dramen, die sich im eigenen Inneren einer kranken Person abspielen. Dey schreibt über den Wunsch, sich mitzuteilen und die Unmöglichkeit, dies jemals komplett zu erreichen. Schmerzempfinden ist sprachlos. Und dennoch ist das vorliegende Buch ein Versuch, den Schmerz zu teilen, ihn sichtbar zu machen. Auch ist es eine Möglichkeit der Verweigerung des eigenen Daseins in der Schriftlichkeit, schließlich hadert Selma Kay an mehreren Stellen im Buch mit der eigenen Vergänglichkeit: “Vielleicht ist das auch, warum ich schreibe: um das Geschehen zu zwingen, bleibende Spuren zu hinterlassen, anstatt spurlos in der Ewigkeit zu verschwinden.” (S. 51)
Natürlich sind Geschlechtsidentität und Sexualität auch immer auf den Körper bezogen und wichtige Themen in “Muskeln aus Plastik”. Matter bezeichnet sich selbst als “nicht binäre trans* Person” (S. 202) und wir dürfen dey etwas auf deren körperlicher Transformation begleiten. Auch deren trans*Freund*innen Aron und Ilay lernen wir kennen und die warmherzige Solidarität, die zwischen diesen Menschen herrscht. Das Konzept von “Care-Arbeit” und überhaupt Care als existenziell bedeutsamer Faktor, der gesucht und so selten in seiner Vollkommenheit gefunden wird, von denen, die der Care bedürfen.
Das Buch hat einen großen Mehrwert und die lesende Person geht mit Sicherheit klüger raus als am Anfang. Ein philosophisches Buch mit schweren Themen, das dennoch eine gewisse Leichtigkeit ausstrahlt. Eine Empfehlung für alle, die sich mit der Dichotomie von Krankheit und Gesundheit sowie dem Wesen des Schmerzes näher auseinandersetzen möchten.
Herzlichen Dank an den Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar!
Donnerstag, 5. Dezember 2024
"Alles dazwischen, darüber hinaus" von Maë Schwinghammer
Traurigschöne Reise zu sich selbst
“Mit jedem Foto, jeder Erinnerung, jeder Urkunde und Anekdote, die ich übereinanderlege, wirkt das Gesamtbild kongruenter, ich sehe nicht mehr verschwommen. Ich sehe eine Version der Geschichte vor mir, ich erzähle sie, und was erzählbar ist, erzählbar wird, ist weniger furchteinflößend.” (S. 213)
Autofiktionale Literatur von Transmenschen und/oder nicht binären Personen zu lesen, ist etwas ganz Besonderes. Für die, die selbst trans und/oder nicht binär sind, sind diese Texte die Möglichkeit, sich mit einem ähnlichen Schicksal zu identifizieren, sich verstanden und durch die Worte anderer geborgen zu fühlen. Für Cis-Menschen sind sie aber nicht weniger wertvoll. Auch wir, die wir uns - mehr oder weniger - mit unserem Geburtsgeschlecht identifizieren, können von ihnen profitieren. Es ist unglaublich, welch erzählerisches Potenzial in Geschichten über Menschen steckt, die nicht der binären Norm entsprechen. Deswegen lese ich sie so gerne. Wir lernen durch solche Texte besser zu verstehen, dass es eben mehr gibt als “er” und “sie” und die Welt alles andere als schwarzweiß ist. Die Welt ist bunt und das vermittelt uns auch Maë Schwinghammer (they/sie/ihr/keine) in deren (ich entschuldige mich, wenn ich das mit den Pronomen noch nicht zu hundertprozentig hinbekomme) Debütroman.
Mit “Alles dazwischen, darüber hinaus” erzählt Schwinghammer die eigene Lebensgeschichte autofiktional auf sehr eindringliche, oft humorvolle, manchmal traurige und immer erfrischend “andere” Weise.
Das Buch ist eine Aneinanderreihung von autobiographischen Skizzen und kurzen Szenen aus dem Leben eines grenzgängerischen Menschen. Schwinghammer hangelt sich an der eigenen Biografie entlang, bis zu dem Punkt, an dem they eine Selbstbezeichnung gefunden hat: Maë.
Die Welt ist zunächst ein unzugängliches Chaos aus Worten und Zeichen für den 5-jährigen Michael aus Wien-Simmerung, der sich nicht wirklich zurechtfinden kann in dem System, das ihm die Erwachsenen auf dem Silbertablett präsentieren und in das “er” sich gefälligst einfügen soll. Auch wenn die Eltern meist verständnisvoll sind und versuchen, sich mit ihrem Kind auseinandersetzen, fühlt sich dieses unverstanden und fehl am Platz. Mobbing und das immer neue Benennen mit immer anderen Namen machen Michael, wie they ursprünglich hieß, zu schaffen. Wir erleben, wie aus dem Kind ein Jugendlicher wird, der sehr gut in der Schule ist und schließlich ein Erwachsener, der studiert, obwohl die Familie der Arbeiterklasse entstammt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen, fluiden Sexualität ist ein Experiment, an dem für Schwinghammer 2019 die Erkenntnis steht: nicht binär. Eine Bezeichnung, die relativ neu in den Sprachgebrauch gekommen ist und für so viele den absoluten Befreiungsschlag bedeutet.
Mich hat die Lektüre sehr berührt und obwohl ich 11 Jahre älter bin als Maë, konnte ich viele “Millienial-Struggles” und Versatzstücke der Generation Y wiedererkennen (peinlicher CD-Kauf bei den Elektro-Läden, die immer einen Weltall-Namen haben, Gameboy, negative Erfahrungen im Skilager, etc. pp.). Maë Schwinghammer schafft es, mit einer schnörkellosen, zugänglichen Sprache eine Tiefe in der Bedeutung zu erzeugen, die mir sehr gefallen hat. Trotz aller Ernsthaftigkeit musste ich immer wieder schmunzeln über die authentischen Situationen, die hier beschrieben werden. Manchmal hat mich die Lektüre etwas an “Ein schönes Ausländerkind” von Toxische Pommes erinnert. Denn auch die Hauptfigur in “Alles dazwischen, darüber hinaus” ist Österreicher*in mit Migrationshintergrund, in diesem Fall einem serbischen. Fast schon tragikomisch fand ich die Figur des Vaters, der sich immer wieder in die Welt des Verkaufs zurückkämpfen will, und auch die Mutter hat eine berührende Geschichte.
“Alles dazwischen, darüber hinaus” ist ein versöhnliches Buch und eine schöne Geschichte. Nicht nur weil sie beschreibt, dass und wie ein Mensch sich selbst gefunden hat, sondern auch weil sie Zeugnis abliefert davon, dass es auch anders geht. Dass familiärer Rückhalt und echte Freund:innenschaft existieren - auch für nicht binäre Menschen und auch jenseits eines bildungsbürgerlichen Elternhauses. Absolut toll und mit übertriebenem Weihnachtsgeschenkpotenzial (man beachte auch die sehr schöne, hochwertige Buchgestaltung) - für alle.
Herzlichen Dank an den Haymon Verlag für das Rezensionsexemplar!
Nähere Infos zum Buch: hier