„Kapital“ kommt einem von seiner Struktur her vor wie einer
der großen englischen Gesellschaftsromane. „Vanity Fair“ und andere sind von
daher sicher als Vorbild für diesen „Wälzer“ zu sehen, der nichts anderes will
als den Makrokosmos London anhand des Mikrokosmos „Pepys Road“ darstellen. Der
Name ist natürlich symbolisch und eine Referenz an den großen Chronisten und
Politiker Samuel Pepys, dessen Tagebuchaufzeichnungen unser Bild vom England
des 17. Jahrhunderts entscheidend geprägt haben. Vielleicht versteht sich John
Lancaster in seiner Tradition als Chronist der Londoner „Nuller-Jahre“, die mit
der Finanzkrise eines ihrer großen Themen hatten, das sich bis in die Gegenwart
zieht. Eine Straße namens „Pepys Road“ gibt es übrigens wirklich im Südwesten
Londons.
Die Haupthandlung von „Kapital“ (im englischen „Capital“,
was Hauptstadt bedeutet, gegenüber dem deutschen Titel also eine
Bedeutungsverschiebung markiert) spielt zur Zeit der beginnenden
Wirtschaftskrise, beginnend Dezember 2007-endend November 2008.
Wir lernen mehrere Menschen verschiedenen Alters und
unterschiedlicher Herkunft kennen, die erst einmal nur eint, dass sie in der
Südlondoner Straße „Pepys Road“ leben, arbeiten oder sonst mit ihr in
Verbindung gebracht werden können.
Ihre Geschichten werden abwechselnd weitergesponnen und
manche laufen über Kreuz. Da ist die zweiundachtzigjährige Frau Petunia Howe,
die in der Pepys Road geboren wurde und vermutlich auch dort stirbt. Sie steht
für die alten Werte, die Traditon, wenn man so will auch für das „alte Geld“,
das nach und nach seine Kraft verliert und keine Relevanz mehr für die Zukunft
hat. Ihre Familie lernen wir kennen, vor allem ihre Tochter Mary, die auf dem
Land lebt und ihren Enkel Graham, der sein Geld als Künstler verdient. Dann gibt es die neureiche Familie Yount, bei
der Roger Yount für den modernen kapitalistischen Aktienmenschen steht, der
viel zu viel arbeitet, viel zu viel verdient und dennoch ein viel zu falsches Leben führt. Seine Frau
Arabella ist sich trotz Hausfrauentums zu schade ihre zwei kleinen Söhne selbst
aufzuziehen und gibt stattdessen das von Roger verdiente Geld mit vollen Händen
für Botox, Fitesstrainer und Klamotten aus. Auch seine geschäftliche Umwelt
wird präsentiert und mit ihr Neid- und Missgunst, die im Bankenwesen an der
Tagesordnung sind (u.a. verkörpert von Mark, der sich für besser als Roger hält
(es wahrscheinlich auch ist) und deshalb seinen Job will.)
Es gibt den jungen
Fußballprofi aus Afrika, Freddy Kamo, der mit seinem Vater Patrick erst vor
kurzem in die Straße gezogen ist. Außerdem gibt es den polnische Hilfsarbeiter
Zbigniew, das ungarische Kindermädchen Matya und die afrikanische Politesse
Quentina (die illegal in England ist), die pakistanische Verkäuferfamilie Kamal
(drei Brüder, einer verheiratet mit zwei Kindern, die anderen beiden noch auf
der Suche nach ihrem Platz im Leben), die sich in England etwas aufgebaut haben
und doch immer wieder auf ihre Herkunft reduziert werden.
Zusammengenommen stehen alle für das weltoffene (manchmal mehr, manchmal
weniger) England der Zuwanderung und des Multikulturalismus. Sie alle hoffen
auf ein besseres Leben in dieser Milch-und-Honig-Stadt London. Ihr Problem ist
die Diskrepanz zwischen Hoffnung auf eine Veränderung und Verzweiflung über die
Entwurzelung und Heimatlosigkeit in der Fremde.
Dann gibt es da plötzlich eine namenlose Bedrohung, die alle
betrifft und die sich sowohl real als auch im Medium Internet eine Plattform
und damit Gehör verschafft: „Wir wollen was ihr habt“ – künstlerische
Installation oder gieriges Symptom der Neidgesellschaft?
Geld spielt eine große Rolle im Roman, Gentrifizierung und
Globalisierung sind die anderen großen Themen. Wo Menschen sind da ist auch
Liebe, Tod und Hoffnung. Diese Eckpfeiler und Menschheitsthemen sind die Folie
für „Kapital“ oder „Capital“, das von
den neuen Themen so vereinnahmt wird dass die großen Fragen oft zu einer
Nebensächlichkeit verkommen, aber sich natürlich nicht zurückdrücken lassen:
trotz Finanzkrise und Immobilienmarkt: Liebe und Tod sind weiterhin das, was
die Welt im Innersten zusammenhält – auch in der Pepys Road.
Das Buch hat einen erzählerischen Reichtum der in dieser
Form seinesgleichen sucht. Er lebt vor allem von den Charakterschilderungen,
die in ihrer Summe ein perfektes Panorama Londons und seiner Bewohner abgibt,
die natürlich fiktiv sind, aber irgendwie für Typen stehen, die das Bild der
englischen Hauptstadt genau so prägen.
Der Gesellschaftsroman – er ist wieder da! Aktuell, stark ,
erbarmungslos und unterhaltsam. So soll es sein!
Meine Ausgabe:
Originaltitel: Capital
Verlag: Klett-Cotta
Erscheinungsjahr der Ausgabe: 2012
Erstausgabe: 2012
Seiten: 682
ISBN: 3608939857