Mittwoch, 30. Oktober 2024

"Tage einer Hexe" von Genoveva Dimova

Schmutzige Tage und schaurige Nächte

“Sie ging zum Fenster. Die Vorhänge waren zurückgezogen und gaben den Blick auf die verschneite Straße frei. Auf dem Dach gegenüber glitzerte etwas. Der Schatten einer großen Frau duckte sich hinter den nächstbesten Schornstein. Nur der Rauch ihrer Pfeife kräuselte sich noch erkennbar im Wind.” (Genoveva Dimova: Tage einer Hexe. Aus dem Englischen von Wieland Freund und Andrea Wandel, Klett-Cotta, S. 386)

Die Handlung spielt in einer fiktiven Version eines slawischen Landes (die Autorin wurde in Bulgarien geboren) während der zwölf “Schmutzigen Tage”, beginnend in der Silvesternacht, die den Start dieser Tage im Roman markiert. Bei uns gibt es ja die Raunächte, die von Weihnachten bzw. in der heidnischen Tradition von der Wintersonnenwende bis ca. zum 6. Januar andauern. Beide Zeiten haben gemeinsam, dass man ihnen nachsagt, der “Schleier zwischen den Welten” würde dünner werden und Magie in der Luft liegen. In Chernograd, einem ummauerten Ort, der aus Schwarzweiß-Tönen, Rauch, Traurigkeit und Magie zu bestehen scheint, treiben während der "Schmutzigen Tage” waschechte Monster und Geister ihr Unwesen: Upire, Karakonjule, Ruba, Rusalken, Samodiven, Varkolaks… Um die Stadt vor diesen Monstern zu beschützen, braucht es Magie und die wird dort von Hexen ausgeübt. Bzw. die Hexen versorgen die “normalen” Chernograder*innen mit Amuletten, Talismanen, Zaubertränken und anderen magischen Artefakten zur Verteidigung gegen die bösen Kreaturen.

Unsere Protagonistin Kosara Popova aus Chernograd ist eine Feuerhexe. Aber dummerweise verzockt sie ihren Schatten in der Neujahrsnacht an einen Fremden, weil er sie vor dem Zmey, dem Zar der Monster, beschützen soll. Welche Vorgeschichte Kosara mit dem Zmey hat, erfahren wir erst nach und nach. Der Fremde teleportiert Kosara nach Belograd, die Stadt auf der anderen Seite der Mauer, in der alles anders und vor allem positiver ist als in Chernograd. Wie es Roxana, eine andere Hexe aus Chernograd formuliert: “Alles ist so neu und aufgeräumt und sauber. Und die Leute sind so nett. Das ist irgendwie unheimlich. Warum lächeln sie die ganze Zeit? Was ist so verdammt lustig? Was haben sie zu verbergen?” (S. 68) Der erste Teil des Buches besteht aus dem Spiel mit der dichotomen Topographie der beiden Städte: Chernograd vs. Belograd. Aber obwohl Belograd so viel angenehmer und bunter ist als Chernograd, weiß Kosara, wo sie hingehört und vor allem, dass sie als Hexe ohne Schatten nicht überleben kann…

Der Plot dieses Fantasy-Romans, der den ersten von bislang zwei Teilen markiert, ist actionreich und spannend. Wir fiebern mit Kosara mit, wie sie versucht, den Zmey zu besiegen und ihre Magie zurückzuerobern. Dabei treffen wir nicht nur die blutrünstigen Monster und Geister, sondern auch allerlei schräge menschliche Gestalten an. Wir hängen auch das ein oder andere Mal auf dem Friedhof ab, denn viele der Monster sind nichts anderes als Zombies. Bei allem Gruselfaktor, der hier zum Tragen kommt: Ein bisschen “Romantasy” ist auch dabei, denn in Belograd lernt Kosara den schmucken Bullen Able kennen, wobei es der ansonsten einsamen (mal vom Geist ihrer Schwester abgesehen) Feuerhexe etwas wärmer ums Herz wird. Das alles ist gewürzt mit einer ordentlichen Portion Humor und Augenzwinkern. 

Besonders hervorheben möchte ich die wirklich beeindruckend “herbeigeschriebene” winterliche Atmosphäre, die dieser Roman von der ersten Zeile an ausstrahlt. Man möchte sich als Leser*in sofort mit einer Decke und einem Punsch/Tee einkuscheln und noch tiefer in die fantastisch-magische Welt eintauchen, die Genoveva Dimova sich ausgedacht hat.

Wer actionreiche Fantasy-Geschichten mag, die etwas gruselig sind und dabei oft ins Skurrile und Groteske gehen, eine tolle winterliche Atmosphäre aufweisen und eine starke, etwas “andere” (weibliche) Protagonistin haben, die auch dem ein oder anderen Love Interest nicht abgeneigt ist, der ist mit “Tage einer Hexe” an genau der richtigen Adresse. Zum absoluten Mega-Highlight hat es bei zwar nicht gereicht, aber es ist ein sehr unterhaltsamer Fantasy-Roman, der mit Sicherheit viele begeisterte Leser*innen finden wird.

Herzlichen Dank an Hobbitpresse/Klett-Cotta und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch gibt es: hier


Sonntag, 27. Oktober 2024

"Das Comeback" von Ella Berman


Wichtiges Thema langatmig umgesetzt 

Namen möchte ich jetzt keine nennen - das würde zu weit führen - aber in den letzten Jahren ist einiges ans Licht gekommen, was den Machtmissbrauch in den darstellenden Künsten, aber auch in anderen Branchen, betrifft. Meist junge Frauen, Männer und sogar Minderjährige, die - in den allermeisten Fällen - von männlichen Vorgesetzten unterdrückt, ausgebeutet, sexualisiert und teilweise sogar missbraucht wurden - wir alle haben dazu konkrete Beispiele im Kopf und den Hashtag #Metoo, der traurige Berühmtheit erlangte. Dabei liegt es sehr nahe, solche Geschichten zu fiktionalisieren, um ihnen eine Allgemeingültigkeit zu verleihen und den Betroffenen zu einer Identifikationsmöglichkeit zu verhelfen, die vielleicht dazu anregt, die eigene Geschichte ebenfalls zu erzählen.

Die Autorin Ella Berman hat sich in ihrem Erstlingswerk “The Comeback” (2020) dieses kontroversen und doch so wichtigen gesellschaftlichen Themas angenommen. Sie hat das Buch bereits 2017 geschrieben, in den Folgejahren kamen immer mehr Missbrauchsgeschichten aus dem Showbusiness ans Licht, die Autorin hat sich aber dazu entschieden, ihre Geschichte nicht zu verändern. 2024 wurde das Buch für den neu gegründeten Verlag Pola Stories, ein Unterverlag von Bastei Lübbe, von Elina Baumbach in Deutsche übersetzt.

Es geht um die 22-jährige Grace Turner (eigentlich Grace Hyde), die in ihrer Heimat England als 13-jährige für einen Hollywoodfilm gecastet wurde und im Zuge dessen mit ihrer Familie (Vater, Mutter und 8 Jahre jüngerer Schwester) nach Los Angeles zog. Sie erlebt eine Karriere als Kinderstar, verdient Millionen, wird drogensüchtig und alkoholkrank. Mit Anfang 20 verschwindet sie nach einem Zerwürfnis mit ihrem Entdecker Able von der Bildfläche. Was keiner weiß: Able hat sie jahrelang missbraucht und erniedrigt. Die eigentliche Geschichte handelt nun davon, wie sich Grace mit 22 Jahren zurück ins Leben kämpft und einen Comebackversuch startet.

Die Gegenwartshandlung schreitet nur sehr langsam voran, was aber zur festgefahrenen Situation der Protagonistin passt, die im Moment nicht wirklich weiß, wie es mit ihr als Mensch und Schauspielerin weitergehen soll. Häppchenweise bekommen wir die Vergangenheit durch episodenhafte Rückblenden präsentiert. 

Wenn ich Schulnoten für dieses Buch vergeben müsste, könnte ich mich mit mir selbst sehr schnell auf eine Drei minus einigen. Berman hat ein super wichtiges Thema relativ leidenschaftslos und ohne erkennbare größere intellektuelle Anstrengung präsentiert - solide, in Ordnung, aber mehr auch leider nicht. Ja, wir bekommen Einblicke hinter die Kulissen des Filmbusinesses, aber diese sind sehr oberflächlich. Es geht oft um Drogen- und Alkoholkonsum, auch Body Shaming ist ein Thema. Die Protagonistin war mir weder sympathisch noch unsympathisch, sie war einfach nur da wie eine Statistin in einem Kostümfilm. Obwohl wir das Geschehen komplett aus ihrer Sicht verfolgen, ist sie mir einfach keinen Millimeter nahe gekommen. Die Beziehung zur Ehefrau von Able, Emilia, nimmt sehr viel Raum ein, ohne dass ersichtlich wäre, warum. Einzig Dylan als Nebenfigur war mir einigermaßen sympathisch, wobei er schon ein wenig zu “perfekt” war, um wahr zu sein.

Die Leseerfahrung ist immer mein ehrlichstes Jurymitglied, wenn es um die Bewertung eines Romans geht. Und wenn ich immer wieder in Gedanken abschweife, um mein nächstes Buchfoto zu planen oder mir zu überlegen, was ich gleich esse, dann ist das wahrlich kein gutes Zeichen. Das Problem sind vor allem die langweiligen Dialoge zwischen Grace und wechselnden anderen Charakteren, die neben den Rückblenden fast die ganze Handlung ausmachen. Das eigentlich Spannende, nämlich die Konfrontation bzw. das Wiedersehen mit ihrem Peiniger, wird unendlich hinausgezögert. Als es dann gegen Ende des Romans endlich zu einem Aufeinandertreffen kommt, ist dies auch sehr schnell wieder vorbei und zugleich der Auftakt eines sehr theatralischen und unglaubwürdigen Höhepunkts des Romans. 

Sprachlich ist dieses Buch auch nicht das Gelbe vom Ei. Es ist zu einfach gestrickt, um auch nur annähernd literarisch bedeutsam zu sein. Ich habe kein Zitat verwendet für den Einstieg in diese Rezension. Das heißt schlicht und einfach, ich fand keine Aussage, die in diesem Roman gemacht wurde, die ich so bedeutsam oder sprachlich schön fand, dass ich sie mir hätte merken wollen. Die Autorin arbeitet gelegentlich mit dramatisch-pathetischen Sprachbildern, die inmitten der sonstigen Alltagsprosa maximal fehl am Platz wirken. Auch geht vieles ins Melodramatische, so dass der Roman nur knapp an dem vorbeischrammt, was man “Trivialliteratur” nennen würde. In einer Szene denkt Grace über ihre Hochzeit nach: “Während der Trauung hielt ich meinen Brautstrauß so fest umklammert, dass ich mir in den Finger stach und meinen weißen Jumpsuit vollblute.” (S. 57) Come on, der High-End-Blumenstrauß einer Hollywood-Millionärin dürfte erstens keine Dornen enthalten und zweites wird immer ein Band um solche Straße gebunden, damit genau sowas nicht passiert. Solche Bilder zu benutzen ist meines Erachtens billige Effekthascherei, die man eben nur in einfach gestrickten Romanen findet. Die Übersetzung aus dem Englischen erscheint mir stellenweise auch etwas zu nah am Originaltext, was mitunter merkwürdige deutsche Satzkonstruktionen nach sich zieht. Wobei natürlich auch sein kann, dass der englische Text nicht mehr hergibt.

Fazit: Bei Interesse für die Opfer des Machtmissbrauchs in Hollywood macht es sicher mehr Sinn, ausgewählte Artikel der “New York Times” zu diesem Thema zu lesen. Daraus wird man einen größeren Mehrwert ziehen, als aus der Lektüre dieses langatmigen Romans. Allerdings habe ich schon begeisterte Rezensionen gesehen und daher kann das natürlich auch nur meine bescheidene Minderheitenmeinung sein.

Herzlichen Dank an Pola Stories für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch findet ihr: hier

Freitag, 25. Oktober 2024

"Wohnverwandtschaften" von Isabel Bogdan


Ihr neuer “pflegeleichter” Mitbewohner

Viele Menschen werden sich erinnern: Die Realverfilmung von “101 Dalmatiner” spülte nicht nur Millionen in die Kassen des Disney-Konzerns, auch Dalmatiner-Züchter*innen konnten gut davon leben. So ähnlich stelle ich mir den WG-Hype vor, nachdem "Wohnverwandtschaften” von Isabel Bogdan auf der Bestseller-Liste gelandet ist. Und ich meine nicht nur die jungen Menschen, die die traditionellen Anhänger*innen von Wohngemeinschaften sind. Auch die älteren Semester werden der Idee einer Koexistenz mit anderen, ihnen zunächst fremden Menschen plötzlich nicht mehr so abgeneigt sein. Aber nicht nur die Bestsellerlisten sind ein Indikator dafür, dass wir enger zusammenrücken müssen. Der aktuelle Wohnungsmarkt ist härter denn je, zu viel Wohnfläche für wenige Personen ein Klimakiller, der demografische Wandel, all das spricht für das Wohnmodell, das die “Golden Girls” schon im Amerika der 1980er Jahre gelebt haben.

Isabel Bogdan hat aber nicht vier ältere Damen als Figuren für ihren Roman ausgewählt, sondern zwei Frauen und zwei Männer. Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Bogdan ihren Titel “Wohnverwandtschaften” an Goethes “Die Wahlverwandtschaften” angelehnt hat, wo dieselbe Geschlechterkonstellation vorkommt. Anders als bei Goethe sind Constanze und Murat, Anke und Jörg aber keine zwei Pärchen, sondern eine WG. Diese ist entstanden, weil Jörgs Frau Brigitte starb und die große Vierzimmerwohnung in Hamburg Altona wieder richtig bewohnt werden wollte und der Witwer Geld brauchte. Also sind zu dem pensionierten Journalisten Jörg (zu Beginn der Handlung 2022 ist er 78) noch die arbeitslose Schauspielerin Anke (53) und der selbständige It-Berater (Alter unbekannt) Murat sowie zuletzt die Zahnärztin Constanze (Alter unbekannt, aber ca. um die Vierzig) gezogen.

Ich möchte etwas zur Leseerfahrung von  “Wohnverwandtschaften” sagen. Das Buch zu lesen, ist, wie mehrere neue Folgen der Lieblingssendung am Stück zu schauen und sich danach mit einem mit Gemütlichkeit assoziierten Getränk zufrieden in die Sofakissen fallen zu lassen. Ein Wohlfühlbuch, ganz ohne Frage und genau dafür gedacht, den Lesenden schöne Stunden zu bereiten. Wie so ein Herbst/Winter-Gericht, wie heißt das noch, ach ja: Soulfood. Es geht auch ganz oft um das gemeinsame Essen in diesem Roman, denn Murat kocht sehr gut und baut sein eigenes Gemüse in seinem Schrebergarten (Laube heißt das glaube ich im Hamburger Raum) an. Das Rezept auf Seite 117 klang so köstlich, dass ich es sofort ausprobieren musste, denn: “...mit Birnen im Essen macht man nie was falsch.” Also ihr merkt schon: Alles sehr cosy, wobei die Handlung an sich eher traurig ist: Constanze und Murat hadern mit ihrer Vergangenheit; Jörg mit allen Zeitformen, denn diese verschwimmen immer mehr durch seine zunehmende Demenz. Anke hadert vor allem mit der Zukunft, in der sie als alternde Schauspielerin keine Jobs mehr zu bekommen scheint. Aber: sie haben alle einander und darum geht es - Einsamkeit gegen Gemeinsamkeit einzutauschen.

Inhaltlich hätte ich mir gewünscht - und auch ein bisschen erwartet - dass es ein bisschen mehr um das Zusammenwohnen an sich geht. Also um das eigentliche Leben in einer WG, wer wen wann stört und wann mit dem Putzen dran ist, wer zu lange auf dem Klo hockt, was man zusammen macht, wie gelebt wird. Aber das wird nur am Anfang und dann am Rande ein bisschen erwähnt. Stattdessen sind wir vor allem in den vier Köpfen der Bewohner*innen, die jeweils ihre eigenen Päckchen zu tragen haben. Eigentlich dachte ich mir, dass der ganze Roman im Stil des letzten Kapitels geschrieben wäre. Aber so, wie es umgesetzt wurde, ist es auch gut.

Erwähnenswert ist - neben dem wunderbaren Humor von Isabel Bogdan, der in all ihren Büchern die Tragik des Geschehens durchbricht - die hervorragende Darstellung der fortschreitenden Demenz bei Jörg. Mit Worten darzustellen, wie einem die Worte fehlen, wie der sprachliche Horizont immer kleiner wird, das ist schon bemerkenswert umgesetzt worden. Überhaupt ist die schon fast alltägliche Story von sehr durchschnittlichen Menschen (selbst die Schauspielerin kommt alles andere als abgehoben oder extravagant rüber) sehr warmherzig und die Lesenden sollen sich mit diesen Menschen, die sind “wie du und ich”, identifizieren können.

Ein wirklich gemütlicher und Hoffnung machender Roman. Solltet ihr ihm ein Zuhause geben wollen, macht ihr bestimmt nichts falsch. Und pflegeleichter als ein Dalmatiner ist das Buch allemal.

Herzlichen Dank an den Kiwi-Verlag für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch: hier



Samstag, 19. Oktober 2024

"The Absolute Book" von Elizabeth Knox


“What I hope is that I'm inviting people to think about libraries and what they mean to us. To think about what's kept, what's lost, what's destroyed.” (“The absolute book”, S. 302)

Mit “The absolute Book” von Elizabeth Knox muss ich euch leider mal wieder eine nicht so glorreiche Leseerfahrung berichten. Ich hatte mich so auf das Buch gefreut. Die Lobpreisungen auf dem Klappentext wie z.B. “A bibliophile’s daydream” und dass es, wie dort angedeutet wird, um Bibliotheken und alte Bücher im Rahmen eines Fantasy-Settings gehen würde, haben mich überzeugt zuzugreifen. Auch das Cover mit der Krähe vor dem goldenen Hintergrund hat mich magisch angezogen.

Elizabeth Knox ist eine neuseeländische Autorin, die in Deutschland eher unbekannt ist. Ihr berühmtestes Buch “The Vinter's Luck” habe ich gelesen und euch bereits vorgestellt. 

Die Haupthandlung spielt im Frühjahr 2017. Die Britin Taryn Cornick ist Expertin für Bibliotheksbrände und hat ein Buch darüber geschrieben. Ihre 4 Jahre ältere Schwester Bea wurde im Jahr 2003 mit 23 beim Joggen von einem Auto erfasst und kam ums Leben. 2010 starb der Autofahrer, der sie angefahren hat, einen mysteriösen Tod. Die Handlung ist ab hier zu komplex, um sie kurz gefasst wiederzugeben. Es geht jedenfalls um ein verschwundenes Buch, genannt “Firestarter”, das aus der beeindruckenden Bibliothek des Großvaters von Bea und Taryn gestohlen wurde.

Der Anfang war ja noch ganz spannend und ich dachte mir wirklich, das würde sich zu einem spannenden Fantasy-Krimi mit stringentem Plot entwickeln - aber weit gefehlt! Es wurde zunehmend diffuser, absurder, ich konnte dem Plot nur schwer folgen und habe mich immer weiter verloren in diesem kruden Labyrinth der Worte. Die Krimi-Handlung lief nur im Hintergrund ab, irgendwann ging es nur noch darum, was irgendwelche Feen/Elfen (“Sidhe”) so zu sich nehmen. Ich bin durchaus offen für Fantasy-Geschichten, in denen man durch Portale in magische Welten eintreten kann. Aber hier war das so extrem willkürlich und ohne System. Sprich: Der Weltenbau hat mich nicht überzeugt. Ich finde es mehr als seltsam, wenn nicht-magisch Charaktere die Möglichkeit der anderen Wellten einfach so hinnehmen. Wenn sie ihr Schicksal nicht hinterfragen. So wie bei Taryn nach dem Motto: Ach was, die Hölle existiert wirklich. Dann nichts wie hin. Überhaupt das mit der Hölle. Bereit in “The Vinter's Luck” hat Knox ihren gefallenen Engel von der Hölle erzählen lassen. Dante hat irgendwie bereits alles über die Hölle gesagt bzw. sie “erfunden”. Mein Bedarf an Höllen- bzw. Fegefeuergeschichten ist für alle Zeiten gedeckt.

Das Buch ist ein absolutes Negativbeispiel für quälende Übergänge. Die 626 Seiten sind gefühlt doppelt so lang, weil die Schrift in dieser englischen Ausgabe extrem klein ist für meine Begriffe. Hier wurde die Seite wirklich komplett ausgefüllt, also man sieht wenig “weiß”. Hinzu kommt, dass der Inhalt einfach mal um die Hälfte hätte gekürzt werden können. Hier werden alltägliche Verrichtungen, die absolut irrelevant sind für die Handlung wie z.B. das Zubereiten eines Salats, über mehrere Seiten beschrieben. Auch wird alles wirklich ins Kleinste ausgeführt. Hier hat sich wohl jemand Tolkien zum Vorbild genommen, wo auch auch ewig beschrieben wird was die Hobbits essen oder wie das Gras aussieht. Eigentlich mag ich Alltagsbeobachtungen gern, aber hier ist es nicht literarisch wertvoll, sondern einfach nur redundant. Ich habe diese Passagen irgendwann nur noch quer gelesen, weil ich doch wissen wollte, wie die Geschichte ausgeht. Aber so wirklich verstanden habe ich es nicht. Ehrlich gesagt wundert es mich nicht, dass es keine deutsche Übersetzung von dem Buch gibt. Wer würde das wollen? Aber schönes Buchfoto, oder? 😉 #daswarwohlnix

[Unbezahlte Werbung, selbstgekauft]

Mittwoch, 16. Oktober 2024

"Von Norden rollt ein Donner" von Markus Thielemann


Kaum ein Beruf wird so mit Idylle in Verbindung gebracht wie der des Schäfers. In der Literaturgeschichte wurden Schäferinnen und Schäfer romantisiert, wie die barocke Pastoralpoesie bzw. Schäfterdichtung beweist. Auch Shakespeare hat mit “Wie es euch gefällt” ein Schauspiel dieser Gattung geschrieben. Maler haben Schäferinnen und Schäfer auch schon immer gerne zum Motiv ihrer Bilder gemacht.

Die Schäfer*innen in der Lüneburger Heide sind quasi ein lebendiges Kulturgut. Sie betreiben ein uraltes Handwerk, die Arbeit mit den Heidschnucken ist “Landschaftspflege”, wie es im Buch “Von Norden rollt ein Donner” (C.H.Beck) von Markus Thielemann heißt. Das Buch stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und ist der vielleicht größte Überraschungserfolg des deutschen Literaturjahres 2024. Die Presse hat ihn einen “Anti-Heimatroman” genannt. Aber warum eigentlich “anti”?

Die Handlung beginnt im Herbst 2014 und dreht sich um den jungen Ich-Erzähler Jannes Kohlmeyer, der als Schäfer im Familienbetrieb im Naturpark Südheide in Niedersachsen lebt.
Jannes ist gefangen im Netz seiner eigenen Wurzeln. Obwohl er erst neunzehn Jahre alt ist, ist seine Zukunft schon vorher bestimmt: Er wird wahrscheinlich den Betrieb seiner Eltern und Großeltern übernehmen und Heideschäfer werden. Das Thema der Determination durch die eigene Herkunft ist unterschwellig sehr präsent. “Muss der ja selbst wissen, ob der sich das antut?", sagt sein Großvater, der auch von sich sagt: “Ich war Schäfer von Geburt an, so war das eben.” (S. 104). Aber hat Jannes wirklich eine Wahl? Die Opfer, die eine Entscheidung gegen das elterliche Milieu für Jannes bedeuten würden, sind übermenschlich groß. Haus und Hof müssten aufgegeben werden, ein neues Leben mit anderem Beruf angefangen. So, wie es Jannes’ ältere Schwester gemacht hat. Aber Jannes ist nun mal eben schon ein Schäfer und ein Schäfer in der Stadt? Undenkbar! Jannes mag seinen Beruf auch, das ist es gar nicht. “Erst mal mach ich das jetzt.” (S. 102) sagt er zu der Reporterin, die ihn für die Heideschäfer-Doku interviewt. Die Ruhe in der Natur und bei den Tieren, die Vielseitigkeit und dass man alles in einem eigenen Tempo machen kann, das liebt der junge Mann an seinem anachronistischen Beruf.

Ein zweites großes Thema des Romans ist die NS-Vergangenheit der Heide. Jannes lebt zwar in der Natur, aber auch in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen - und zum Rüstungskonzern Rheinmetall. 
Jannes’ angegriffene Psyche ist ein Sinnbild für die Schrecken der generationalen Traumata, die diese junge Generation (Jannes ist 1995 geboren) verarbeiten muss. “Oma, denkt er da, warum hast du mir diesen Kopf vererbt?” (S. 265) Ich will nicht zuviel verraten, aber vor allem dieser “düstere” Aspekt der Handlung wurde vom Autor auf beeindruckende und sehr ungewöhnliche Weise umgesetzt. Durch die fast schon naturalistische Erzählweise wird eine Atmosphäre erzeugt, die beklemmend und realistisch zugleich ist. Der Naturalismus Thielemanns vermischt sich mit großer Metaphorik und heraus kommt ein literarisches Kunstwerk. Der böse Wolf, der die Herden bedroht - ist er nur ein Sinnbild oder real? Nur durch die Lektüre werden es die Lesenden herausfinden - oder am Ende gar nicht?

Ein Roman, der trotz der schweren Thematik ungeahnte Wellen der Begeisterung in meinem Inneren geschlagen hat. Ich habe mich selbst komplett vergessen bei der Lektüre. War in Jannes’ Zimmer (wo ich den Staub unter dem Klebestreifen zur Kenntnis genommen habe), bei den Schnucken und Hunden, habe Heidekraut gerochen und den Sturm an Halloween gespürt, habe Schneeflocken im Januar leise rieseln sehen und die komischen Geräusche der Drohne vom Filmteam gehört, die Bedrohung durch den Wolf gesprüt. Und dann wollte ich unbedingt ein Hanuta mit “Herr der Ringe”-Stickern aus der Alufolie wickeln und mit Jannes auf der Parkbank sitzen, während sein Vater Anfang der 2000er Jahre in Jannes’ Erinnerung seine Begeisterung für die Werke von Tolkien und Peter Jackson auspackt.

Dieser Roman ist so viel mehr als die Summe seiner Teile, aber ich möchte trotzdem nochmal festhalten, was ich alles hier drin gefunden habe: Einen Coming-of-Age-Roman eines Angehörigen der frühen Generation Z (ich hoffe, das ist richtig), der - ungewöhnlich für das Genre - komplett ohne Liebesgeschichte und erotische Szenen auskommt. Wir wissen nicht mal etwas über die sexuelle Orientierung von Jannes. Darin eingewoben sind die Themen: Heimat, Herkunft und soziale Verantwortung, Familie und Freundschaft, NS-Vergangenheit und deren Aufarbeitung, regionale Literatur- und Wirtschaftsgeschichte, mentale Gesundheit, Landwirtschaft und deren Sonderform in einer besonderen Landschaft - Heideschäfertum als Kulturform und Touristenmagnet. Umweltschutz und Tierschutz. Und letztlich: Die Schönheit und Unbarmherzigkeit der Natur.

Stundenlang könnte ich noch über dieses wunderbare Buch reden und ich bin mir sicher, Literaturwissenschaftler*innen werden es in der Zukunft mit Sicherheit zum Gegenstand ihrer Arbeiten machen. Unbedingt lesenswert.

Herzlichen Dank an C.H.Beck für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch gibt es hier

Samstag, 12. Oktober 2024

"Das geheime Leben der Eule" von John Lewis-Stempel


Der Engländer John Lewis-Stempel (geb. 1967) ist zurecht einer der renommiertesten “Natur-Schriftsteller” unserer Zeit. Er lebt als Landwirt und Autor in England und Frankreich und teilt seine preisgekrönten Naturbeobachtungen seit Jahren mit einer immer weiter wachsenden Fangemeinde. 

In “Das geheime Leben der Eule” (übersetzt von Sofia Blind) wendet sich der Autor eben jener ornithologischen Spezies zu, die die Menschen schon seit Jahrtausenden fasziniert. Eulen zu begegnen ist nicht einfach, denn die meisten Arten leben und jagen, während wir Menschen schlafen. John Lewis-Stempel aber leitet sein Buch mit “Old Brown” ein, einer Eule, die auf seinem Land lebt: “Der Waldkauz im Drei-Morgen-Wald gleitet manchmal über meinen Kopf hinweg, wenn er seine Abendrunde dreht. [...] Wenn er im Dunkeln über mich hinwegfliegt, ist er nur ein Hauch, eine unsichtbare Präsenz.” (S. 11)

Eulen haben etwas Mystisches an sich - wahrscheinlich weil sie so wenig greifbar für den Menschen sind, sich seiner Anwesenheit entziehen. Nicht umsonst galten Eulen in vielen Kulturen als Todesboten, aber auch als Symbole von Weisheit, wie es der Autor im Kapitel “Eulen und Menschen” ausführt.

Mit sehr viel Bewunderung und Respekt berichtet Lewis-Stempel über die “Strigidae”, die größeren Eulenarten und die “Tytonidae”, die kleineren Arten. Nacheinander werden die unterschiedlichen, in Europa heimischen Eulen, in kurzen Kapiteln vorgestellt: Schleiereule - Waldkauz - Schneeeule - Steinkauz - Sumpfohreule - Waldohreule - Uhu. Die seltenen Arten werden nur in einem kurzen Abschnitt erwähnt: Zwergohreule - Sperbereule - Raufußkauz. Wir lernen etwas darüber, wie diese Eulen jagen, nisten, leben und wie ihr Bestand ist. Auch eine kulturgeschichtliche Einordnung der einzelnen Arten nimmt er vor.

Obwohl hier - wie es sich für ein gutes Sachbuch gehört - viel Sachwissen vermittelt wird, kommt das niemals dröge oder verkopft rüber. Lewis-Stempel lebt und liebt sein Sujet, man könnte ihm stundenlang “zuhören”.

Der Engländer John Lewis-Stempel (geb. 1967) ist zurecht einer der renommiertesten “Natur-Schriftsteller” unserer Zeit. Er lebt als Landwirt und Autor in England und Frankreich und teilt seine preisgekrönten Naturbeobachtungen seit Jahren mit einer immer weiter wachsenden Fangemeinde. 

In “Das geheime Leben der Eule” (übersetzt von Sofia Blind) wendet sich der Autor eben jener ornithologischen Spezies zu, die die Menschen schon seit Jahrtausenden fasziniert. Eulen zu begegnen ist nicht einfach, denn die meisten Arten leben und jagen, während wir Menschen schlafen. John Lewis-Stempel aber leitet sein Buch mit “Old Brown” ein, einer Eule, die auf seinem Land lebt: “Der Waldkauz im Drei-Morgen-Wald gleitet manchmal über meinen Kopf hinweg, wenn er seine Abendrunde dreht. [...] Wenn er im Dunkeln über mich hinwegfliegt, ist er nur ein Hauch, eine unsichtbare Präsenz.” (S. 11)

Eulen haben etwas Mystisches an sich - wahrscheinlich weil sie so wenig greifbar für den Menschen sind, sich seiner Anwesenheit entziehen. Nicht umsonst galten Eulen in vielen Kulturen als Todesboten, aber auch als Symbole von Weisheit, wie es der Autor im Kapitel “Eulen und Menschen” ausführt.

Mit sehr viel Bewunderung und Respekt berichtet Lewis-Stempel über die “Strigidae”, die größeren Eulenarten und die “Tytonidae”, die kleineren Arten. Nacheinander werden die unterschiedlichen, in Europa heimischen Eulen, in kurzen Kapiteln vorgestellt: Schleiereule - Waldkauz - Schneeeule - Steinkauz - Sumpfohreule - Waldohreule - Uhu. Die seltenen Arten werden nur in einem kurzen Abschnitt erwähnt: Zwergohreule - Sperbereule - Raufußkauz. Wir lernen etwas darüber, wie diese Eulen jagen, nisten, leben und wie ihr Bestand ist. Auch eine kulturgeschichtliche Einordnung der einzelnen Arten nimmt er vor.

Obwohl hier - wie es sich für ein gutes Sachbuch gehört - viel Sachwissen vermittelt wird, kommt das niemals dröge oder verkopft rüber. Lewis-Stempel lebt und liebt sein Sujet, man könnte ihm stundenlang “zuhören”.

Ganz toll für Literaturliebhaber*innen sind die Gedichte, die sich zwischen den Kapiteln befinden und manchmal auch den sachlichen Text unterbrechen. In ihnen haben Dichtende wie Charles Baudelaire, Alfred Tennyson, Edward Lear, u.a., ihre Faszination für die Eule in unsterbliche Verse gebannt. Abseits von Gedichten haben Schriftsteller*innen schon seit jeher Eulen in ihre Texte aufgenommen, um ihnen eine mystische Komponente zu verleihen. Selbst Shakespeare nutzte die Eule, um symbolhaft auf Unheil oder unheimliche Vorgänge zu verweisen.

Die Bücher von John Lewis-Stempel zu lesen ist Entschleunigung pur. Ich liebe Literatur bzw. literarische Fiktion, aber meist hat sie Menschen zum Thema. In diesem und den anderen Büchern von Lewis-Stempel stehen aber die Tiere und die Natur im Mittelpunkt. Wie befreiend ist es, zuweilen etwas zu lesen, was einfach nichts mit dem Menschlichen zu tun hat. 

Wer “Nature Writing” liebt, der kommt an Lewis-Stempel nicht vorbei. Herausragendes Sachbuch für Eulen-Liebhaber:innen.


Dienstag, 8. Oktober 2024

"Missouri" von Christine Wunnicke


“Die Kugeln klickten. Douglas kratzte seine verschorfte Schläfe. Bisweilen blickten sie einander an und konnten dann lange nicht mehr damit aufhören. Es war sehr still, nur die kleinen Tiere der Dunkelheit scharrten und knisterten im Gras. Es gab wenig Luft zum Atmen, in jener Nacht am Missouri.” (S. 99)

Wenn jemand “queerer Western” schreit, dann löse ich sofort ein Ticket. “Missouri” von Christine Wunnicke ist so einer. Die Erzählung ist bereits um die dreißig Jahre alt und war in leicht veränderter Form ein Teil von Wunnickes Roman “Fortsecues Fabrik” von 1998. Der unabhängige Albino-Verlag hat die Erzählung unter dem Titel “Missouri” im Jahr 2020 neu aufgelegt.

Das Buch beschäftigt sich mit der Frage, wie unter den unwahrscheinlichsten aller Umstände Liebe entstehen kann zwischen zwei Menschen. Noch dazu zwischen zwei Männern in einer Zeit, in der diese Liebe pejorativ “Sodomie” genannt wurde und in vielen Teilen der Welt sogar strafbar war. Und dann noch dazu in einem fast rechtsfreien Raum, der sich seine eigenen Gesetze macht - zwischen einem Täter und seinem Opfer. Täter, das ist der Entführer Joshua Jenkyns, mütterlicherseits Omaha-Native, väterlicherseits Schotte. Er ist Bandit von Berufs wegen, ein richtiger Wildwest-Schurke. Jung und gut aussehend. Als er mit sechs Jahren seinen ersten Mann erschießt - eine der drastischsten Szenen dieses Buches, die sich ins Gedächtnis einbrennt - fällt ihm das erste Mal ein Buch in die Hände: Die Gedichte von Lord Byron. Fortan wird sein brutales Leben immer wieder von der Suche nach Poesie unterbrochen. Und Byron ist vergessen, als ihm die Lyrik des Dichters Douglas Fortsecue von ein paar Engländern nahegebracht wird. Joshua trägt sie von da an allezeit in seinen Satteltaschen und in seinem Herzen. Und wie es der Zufall - oder der schriftstellerinnenische Wille - will, fährt ihm und seiner verbrecherischen Entourage die Kutsche mit ebendiesem Fortsecue vor den Colt. Der Dichter und sein Bruder sind aus England geflohen, wollen Land kaufen in der Neuen Welt. Doch was sind schon Besitz und Geld, wenn man die Liebe eines Banditen gewinnen kann?

Das Buch geht sehr vertieft in die Charakterisierung der beiden Protagonisten und sowas mag ich immer sehr. Wie kamen sie zu dem Punkt im Wilden Westen der 1840er Jahre, wo sie buchstäblich übereinander herfallen und von da an einander verfallen sind? Der dekadente Dichter, der sich die Haare färbt und der schöne Gesetzlose, der von Läusen geplagt wird - ein ungleiches Paar. Auch Humor ist ein großes Thema, wobei einem das Lachen an den meisten Stellen definitiv im Halse stecken bleibt. 

Ich habe die Liebe der beiden wirklich gespürt und war traurig, dass diese Erzählung kein Roman war und so abrupt enden musste. Das was ich gelesen habe war grandios, denn Christine Wunnicke kann Sprache und sie kann erzählen - das hat sie schon mehr als einmal bewiesen. Ein wunderbares kleines Büchlein und für Fans von “Brokeback Mountain” ein Must-read. Tatsächlich könnte ich mir die Geschichte auch wunderbar als Film vorstellen.

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Sonntag, 6. Oktober 2024

"Der andere Mozart" von Eveline Hasler


“Der einsam in seiner Wohnung Lebende komponiert ‘Die Zauberflöte’. Die Musik wächst ihm zu: Bäume aus ausserirdischen Gärten, ihre Zweige biegen sich ihm entgegen. Klänge lassen sich wie reife Früchte pflücken…Dem Einsamen erfüllen sie die innere Leere, Mozart wird zu seiner Musik. (S. 159)

Mozart - Ein absolutes Genie, ein ziemlicher Freak und trotz all seiner überlieferten Briefe ein Mysterium. Da liegt es doch nahe, dass uns ein Buch mit dem Titel “Der andere Mozart” eine neue, unbekanntere, ja tatsächlich “andere” Seite des Genies offenbaren würde.

In “Der andere Mozart” werden Episoden aus dem Leben Mozarts erzählt. Im Großen und Ganzen chronologisch, die relativ kurzen Kapitel sind einzelnen Themenkomplexen oder Personen aus Mozarts Leben gewidmet. Das alles geschieht mit einer gewissen auktorialen Distanz, mit der die Erzählinstanz über die bewegte Biographie des wahrscheinlich berühmtesten Musikers in der Geschichte der Menschheit berichtet. Oft lässt sie ihn selbst durch seine überlieferten Briefe zu Wort kommen (“Hören wir, was Mozart seinem Vater nach Salzburg darüber berichtet:”, S. 46). Gelegentlich aber wird Mozarts Partei ergriffen, zum Beispiel wenn es um die elterlichen Vorbehalte bezüglich der Eheschließung von Konstanze und Mozart geht (“Hat das Mädchen in einem Laden geklaut? Prostituiert es sich? Ach wo!”, S. 48).

In “Der andere Mozart” geht es vor allem darum, unter welchem finanziellen Druck das Genie arbeiten musste. Ständig ging es in Mozarts Leben um das liebe Geld und um Existenzängste. Eine Oper war zwar dem künstlerischen Ruhm förderlich, brachte aber nicht besonders viel Geld ein. Also musste er u.a. reichen Damen Musikunterricht geben und Gönner bzw. Kreditgeber finden, um seinen Lebensstandard zu halten. Auch der Familie seiner Frau, den Webers, war Mozarts unsichere Einkommenssituation ein Dorn im Auge. Dies führte u.a. dazu, dass er die Weber-Tochter Aloisia nicht heiraten durfte und deren Schwester Konstanze nur unter großen Vorbehalten. Wie wir alle wissen, Mozart starb letztlich mit nur 35 Jahren in prekären Verhältnissen, verscharrt in einem Wiener Armengrab.

“Der andere Mozart” hat im Untertitel “Eine Novelle”, was ich etwas irreführend finde. Denn für eine Novelle ist das Thema doch ein wenig zu biographisch allumfassend, es wird sich nicht auf ein erzählerisches Ereignis im Leben Mozarts konzentriert. Zwar nimmt Mozarts Begegnung mit dem Schweizer “Riesen” Thut einen gewissen Raum ein, alleiniger Inhalt des Buches ist sie aber bei weitem nicht. Der Riese von über 1m 30cm, der vorgeführt wird als Kuriosität und Mozart, sie entdecken Gemeinsamkeiten. Zwei Riesen - der eine an Körpergröße, der andere an Genie? 

Letztlich ist “Der andere Mozart” eine kurze biographische Abhandlung in Erzählform, bei der wir allerlei Interessantes erfahren (sofern wir natürlich keine Mozart-Experten sind). Über Mozarts Persönlichkeit lernen wir viel durch seine eigenen Worte. Letztlich hätte ich mir aber noch mehr schriftstellerische Interpretation gewünscht - so stark vom überlieferten Mozartbild weicht Haslers Mozart nicht ab. Er hätte ruhig noch etwas mehr “anders” sein können.

Was unbedingt erwähnt werden muss: Die Autorin Eveline Hasler hat das Buch im Jahr 2023 geschrieben. In diesem Jahr wurde sie neunzig Jahre alt. Meiner Meinung nach ist das ein Verdienst, vor dem jeder, der das Buch zur Kenntnis nimmt, seinen Hut ziehen muss. Wie viele 90jährige sind schon bekannt, die Bücher schreiben und noch dazu solche, für die ein gewisses Rechercheaufkommen notwendig wird? Von daher muss das Buch unbedingt unter Berücksichtigung des Alters seiner Verfasserin bewertet werden.

Ein schönes kleines Büchlein für Mozart-Interessierte, das einem mal wieder in Erinnerung ruft, dass auch Genies auf ihrem Gebiet oftmals nicht von ihrer Kunst leben können. Lesenswert, aber nicht so “anders” wie erhofft.

Herzlichen Dank an Harper Collins Germany und Nagel & Kimche für das Rezensionsexemplar!

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Donnerstag, 3. Oktober 2024

"Intermezzo" von Sally Rooney


Die Schönheit des Lebens sehen, trotz allem

“In diesem Moment erschöpfter Zufriedenheit, ihre Hand auf dem weißen Leinentischtuch ruhend, Ivans Fingerspitzen, die sie berühren, die Kerze, an der langsam ein Wachsfaden herabtropft, der glänzende Klavierdeckel, hat Margaret das Gefühl, dass sie die wundersame Schönheit des Lebens selbst erkennt, das nur einmal gelebt werden kann und dann für immer vergangen ist, die Blüte einer perfekten und vergänglichen Blume, die niemals wiedererlangt werden kann.” (S. 199)

Sally Rooney hat sich als Autorin weiterentwickelt - und zwar sehr. So ist zumindest meine Meinung, denn ihren ersten Roman - “Gespräche mit Freunden” - mochte ich überhaupt nicht. Die beiden nachfolgenden Bücher habe ich trotz des sich aufbauenden Hypes komplett ignoriert. Und jetzt, fünf Jahre nach meiner ersten Leseerfahrung, habe ich mich dazu entschlossen, wieder zu Sally Rooney zurückzukehren. “Intermezzo” hat mich einfach angesprochen, trotz meiner Rooney-Skepsis: Das Schach-Thema, der Titel, das Cover und letztlich die Aussicht, dass es nicht in erster Linie um ein Liebespaar gehen würde, sondern um zwei Brüder - das alles hat mich davon überzeugt zuzugreifen. Und ich sage jetzt schon mal: Ich habe es diesmal nicht bereut.

“Intermezzo” ist das perfekte Buch für die “melancholische” Jahreszeit. Beginnend im Oktober und Ende Dezember endend, spielt sich die Handlung vor allem in Innenräumen und im Inneren der Personen ab. Ein reflexives, nachdenklich machendes Buch, in dem die in Dublin lebenden irisch-slowenischen Brüder Ivan und Peter Koubek den Verlust ihres Vaters betrauern, der im Frühherbst an Krebs verstarb. Und dabei denken sie über ihre Zukunft, aber vor allem über ihre Vergangenheit und Gegenwart nach. Ivan ist gerade mit dem Studium fertig, er verdient sich was nebenher in einem It-Job, seine Leidenschaft gilt aber vor allem dem Schachspiel, in dem er zunehmend Erfolge aufweisen kann. Bei einem Turnier in der Provinz lernt er Margaret kennen, die Leiterin eines Kulturzentrums und verliebt sich in sie. Peter ist Jurist und als Rechtsberater tätig. Er steht mitten im Leben - und ist doch ziemlich verloren darin. Außerdem steht er zwischen zwei Frauen, der jungen Naomi und seiner Ex-Freundin Sylvia - und kämpft mit seinen Süchten…

Man kann von Sally Rooney halten, was man will. Aber sie ist eine brillante Chronistin unserer Zeit, die “Marcel Proust” unserer Tage. Was sie hier in ihren Figuren zum Ausdruck bringt, ist nichts weniger, als das Lebensgefühl der Generationen Y und Z. Die Handlung spielt im ausgehenden Pandemie-Jahr 2021, Ivan ist 1999 geboren und damit “Generation Z”, sein älterer Bruder Peter Jahrgang 1989, was ihn zum “Millennial” oder zum Angehörigen der “Generation Y" macht. Das Lebensgefühl dieser beiden Generationen zeichnet sich aus, durch eine scheinbar unendliche Vielfalt an Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten. Dies geht einher mit einer Wehmut, all die verpassten Möglichkeiten betreffend und außerdem mit einem Gefühl der Orientierungslosigkeit. Darüberhinaus geht es in diesem Roman auch viel darum, wie stark unser Alter uns definiert und determiniert. Allein durch das Geburtsjahr in unserem Ausweis werden wir in eine “Lebensphase-Schublade” gesteckt, aus der wir bestenfalls nicht ausbrechen sollten, weil sonst allerlei Probleme auf uns zukommen. Durch ihre Beziehung mit 14 Jahren Altersunterschied und der Besonderheit, dass die Frau die ältere ist, tun Ivan und Margaret genau das: Sie brechen aus den gesellschaftlichen Erwartungen an sie aus und müssen mit den Konsequenzen leben. Sally Rooney versteht es brillant den Schmerz zu schildern, der uns ereilt wenn wir erkennen, dass unsere Wünsche für uns nicht mit denen unseres Umfelds und unserer Gesellschaft zusammenpassen. Dass das Thema Liebe auch in Form der Liebe zwischen einem Menschen und einem Tier daherkommt, fand ich sehr schön und überraschend. Die innige Beziehung zwischen Ivan und seinem Hund, der nach dem Tod des Vaters herrenlos wird, hat mich sehr berührt und dem Roman nochmal eine andere Komponente verliehen.

Lasst uns über die Sprache sprechen, die in “Intermezzo” verwendet wird, denn hier kommt meines Erachtens schon eine gewisse Wortmagie zum Vorschein. Sally Rooneys enigmatische und gleichsam energische Prosa zu lesen, ist, wie mit der Hand über ein Stück Samt zu gleiten. Hier gibt es keine direkte Rede, keine Anführungszeichen, die den Fluss der Wörter einschränken. Sie sind nicht nötig, da man immer weiß, wer gerade denkt und wer spricht. 

Ich mag ihre Beobachtungsgabe in “Intermezzo”. Ich mag es, wenn Literatur es schafft die Alltäglichkeit des Daseins in Sprache zu bannen. Wenn Großes gesagt wird und auch das Kleine und Allerkleinste festgehalten wird: “Im Schneidersitz auf dem Boden neben ihm. Die Knöchelsocken mit dem Streifen. Sylvia kommt mit einem Tablett mit Tee aus der Küche zurück. Ringelblumenmuster.” (S. 446). “Intermezzo” ist letztlich ein philosophischer Roman über die kleinen Dinge, die das Leben und seine Flüchtigkeit ausmachen. Im besten Fall regt er uns dazu an, nicht allzu sehr in Melancholie und Tristesse angesichts dieser Tatsache zu verfallen, sondern genauer hinzuschauen auf die Kleinigkeiten, die uns glücklich machen - weil sie uns daran erinnern, dass wir am Leben sind. 

Ein brillantes Gesellschaftsportrait einer verlorenen Zeit, die gerade versucht - wie wir alle - das Beste draus zu machen. 

Aus dem Englischen übersetzt von Zoë Beck.

Herzlichen Dank an Ullstein und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!