Montag, 28. Dezember 2020

"Die Bagage" von Monika Helfer


Intimer Blick ins Familienalbum

Monika Helfer erzählt in "Die Bagage" nichts weniger als die Geschichte ihrer Existenz, die sie wie jeder andere Mensch auch ihren Ahnen zu verdanken hat. Dafür blickt sie - durch die literarische Brille der Erzählerin (die aber mit der Autorin gleichzusetzen ist) quasi ins orale Erinnerungsalbum ihrer Herkunftsfamilie. Dieses setzt sich aus Geschichten zusammen, die ihr ihre hochbetagte Tante Kathe kurz vor ihrem Tod erzählte. Sie fügt die Geschichten in "Die Bagage" zu einem Ganzen zusammen. Sie erzählt, wie sie es erzählt bekommen hat, versucht aber die Lücken in der Überlieferung, also die Ereignisse, die Kathe nur indirekt mitbekommen hat, mit ihrer eigenen Vorstellungskraft zu schließen, sie literarisch zu verfeinern. Und doch bleiben bei ihr am Ende noch Fragen offen, wie zum Beispiel: "Warum haben sich meine Leute immer absichtlich abgesondert? Warum?"

Die Geschichte beginnt kurz vor der Zeugung der Großmutter der Erzählerin im Spätsommer 1914, irgendwo in einem kleinen Dorf in Österreich. Kennt man die Biografie der Autorin, kann man sich das Dorf und das Bundesland erschließen, für die Geschichte aber ist der Name des Ortes nicht relevant. Es könnte jedes kleine österreichische Dorf sein und die Familie jede arme Familie im Jahr 1914, ist es aber nicht. Es geht um die Familie Moosbrugger, vor allem um die Mutter, die schöne Maria, ihren Mann Josef und die zunächst vier gemeinsamen Kinder: Hermann, Katharina, Lorenz und Walter. Josef wird im September 1914 in den 1. Weltkrieg eingezogen. Der Bürgermeister soll "ein Auge" auf die Familie haben, während der Vater im Krieg ist. Als er Maria auf einen Markt in die nächst größere Stadt mitnimmt, lernt diese dort den Deutschen Georg kennen. Sie verliebt sich in ihn und er in sie, aber es bleibt eine kurze, nicht lebbare Liebe. Josef darf gelegentlich für kurze Zeit auf Heimaturlaub. Bei einem dieser Urlaube wird Grete gezeugt. Die Gerüchte über Maria und den Deutschen erreichen auch Josef und dieser hegt einen schlimmen Verdacht….

Gut gefallen hat mir, dass Monika Helfer ihre Figuren nicht nur als arm und von Geburt an determiniert darstellt, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut, die menschliche Bedürfnisse, ganz eigene Vorstellungen vom Glück und Träume haben. Dass diese meist an der Realität scheitern, ist die Tragik des Menschseins und das strahlt diese Geschichte für mich aus. Dennoch ist sie nicht fatalistisch und die Figuren bemitleiden sich nicht selbst (bis auf den Bürgermeister vielleicht).

Die große Frage des Romans ist im Grunde auch die nach der eigenen Verortung in der Genealogie einer Familie. An einer Stelle fragt sich die Erzählerin nämlich, wo "die Bagage" denn enden würde und ob sie selbst überhaupt noch dazugehöre bzw. ihre Familie, ihre Kinder und ihr Mann. Zieht sich ein roter Faden durch die Geschichte einer Familie, deren Teil man für alle Zeiten bleibt oder muss man sich selbst als eigene Bagage begreifen und seine selbst gegründete Familie als von der Vergangenheit unabhängig begreifen?

Obwohl Helfer ihre Figuren sehr profiliert darstellt und man sich ein genaues Bild der unterschiedlichen Charaktere machen kann, bleibt zwischen den Figuren und dem Leser eine gewisse Distanz. Es ist als würde man das Fotoalbum einer anderen Familie ansehen, nicht der eigenen. Man findet vieles interessant, hat Fragen, aber das Interesse bleibt oberflächlich und man hat das dumpfe Gefühl, dass einen diese intime Geschichte einer anderen Familie doch eigentlich nichts angeht. Dennoch möchte ich sagen, dass "Die Bagage" ein sehr fein gezeichnetes Zeitgemälde der bäuerlichen Lebenswelt des frühen 19. Jahrhunderts ist, rustikal erzählt und mit einem gewissen spröden Charme.

(Das Buch ist ursprünglich bei Hanser erschienen. Ich habe mir die Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg gekauft, weil ich das Cover schöner finde.)

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Montag, 21. Dezember 2020

"Lacroix und die stille Nacht von Montmarte" von Alex Lépic

 

Sozialkritischer Weihnachtskrimi voller Paris-Flair

[Kurzrezension]

Weiße Weihnachten in Paris gab es seit Jahren nicht mehr, aber diesmal scheint sich das Wunder anzubahnen. Commissaire Lacroix darf dieses Jahr in der Vorweihnachtszeit durch ein verschneites Paris stapfen und zwar in aller Ruhe, denn die Aufklärung eines Mordes steht momentan nicht auf seiner Tagesordnung. Dennoch macht sich beim modernen "Maigret", wie ihn die Presse - und zunehmend auch sein Umfeld - augenzwinkernd nennt, ein gewisses Unbehagen breit, als die gerade eben erst aufgebaute Weihnachtsdekoration in Form von Lichterketten im Stadtteil Montmartre geklaut wird. Eigentlich kein Fall für einen Kriminalpolizisten und dennoch: Lacroix möchte wissen, was dahintersteckt und begibt sich zu Ermittlungen ins alte Pariser Künstlerviertel "auf dem Berg". Dort wird er mit einigen mysteriösen Fällen von Vandalismus konfrontiert, die vermutlich einen konsumkritischen Hintergrund haben. Als aber ein Lebewesen Schaden nimmt wird Lacroix klar: Hier geht es um deutlich mehr, als um die Kommerzialisierung des Künstlerviertels Montmarte....

Es ist ein kluger dritter Lacroix-Krimi, den Alex Lépic alias Alexander Oetker (wie wir seit diesem Jahr wissen) hier geschrieben hat. Er ist sehr gesellschaftskritisch und beherbergt u.a. den famosen und so wahren Satz: "Die sozialen Medien sind die Guillotine unserer Zeit." Außerdem befasst er sich mit dem leider immer etwas randständigen Thema "mental health". Barmherzigkeit, Mitleid und die Kraft der Vergebung sind ebenfalls Schlagworte, die mir zur Handlung einfallen. Also alles sehr "weihnachtliche" Themen, wenn man so will. Ein schöner, sehr atmosphärischer Weihnachtskrimi, der allerdings nicht ganz so spannend war wie der erste Lacroix-Roman, den ich gelesen habe. Die wunderschöne Ausstattung durch den Kampa-Verlag ist wie immer eine Augenweide.

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Donnerstag, 17. Dezember 2020

"Tödliche Gemälde" von Konrad Bernheimer

 

Mon dieu, was soll ich dazu sagen?

(Vorsicht: Spoiler)

Man nehme: Einen "Krimi", der in großen Teilen aus der Sicht des Mörders erzählt wird - ungewöhnlich, kann aber funktionieren, Betonung liegt auf "kann". Dieser Mörder, John Blumenstein aka Jonas Blume, ist ein ziemlicher Sadist und gleichzeitig ein Ästhet. Er liebt als Kunsthändler die schönen Künste, vor allem die bildende Kunst und natürlich das Savoir Vivre der Franzosen. Er ist Kosmopolit und in den Metropolen der Welt zu Hause. Vor allem die Kunststädte Paris und London beehrt er abwechselnd mit seiner Anwesenheit. Man gebe dem Mann eine schwere Kindheit mit frühverstorbener Mutter und als kindliches Hobby Tierquälerei. Nun füge man noch eine Prise Bruderhass und Zwillingsmotivik hinzu, die in Schwarzweiß-Denken eingetunkt wird - Voilà: guter vs. böser Zwilling. Der eine (Martin Blume) ist der "spießige", verklemmte Bulle, der andere, Jonas alias John, der dandyhafte, weltgewadte Killer. Nun sollte man aber nicht so sein und dem literarischen Gericht auch noch etwas Würze in Form von einer ordentlichen Prise Sex hinzufügen, denn der sellt ja bekanntlich. Vor allem das weibliche Geschlecht ist in diesem Buch höchst promiskuitiv und denkt eigentlich - neben Geld und ein bisschen an Kunst, die wiederum Geld generiert - an nichts anderes als an die “schönste Nebensache der Welt,” gerne auch mit einer ausgeprägten SM-Komponente. John benutzt die Frauen: Sie bringen ihm Prestige, großzüge Innenstadtwohnungen in den begehrtesten Städten der Welt, millionenschwere Kunst, sonstigen Reichtum und manchmal geben sie sogar hervorragende Mordopfer für ihn ab. Im letzten Fall muss dann aber echt schon alles stimmen, vor allem die Ähnlichkeit mit einer auf einem berühmten Kunstwerk abgebildeten Figur. John Blumenstein liebt nämlich kunstvolle Inszenierungen bzw. das realitätsgetreue Nachstellen von Bildern, auf denen jemand ermordet und/oder verstümmelt bzw. gefoltert wird. Das ist sozusagen sein mörderischer Zeitvertreib, wenn er mal nicht gerade vom Londoner Luxusmasseur durchgeknetet wird, Millionen mit Kunstdeals verdient, Agententätigkeiten nachgeht, Metropolenhopping macht oder in einem Sternerestaurant die teuersten Weine und exklusivsten Gerichte der Welt verkostet. Letzteres wird im Buch ausführlichst beschrieben und zelebriert, da kann sich der Gault Millau eine Scheibe davon abschneiden.

Ich schreibe nicht gerne eine negative Rezension, aber dieses Buch ist leider eine Zumutung für mich gewesen. Die absurde, hanebüchene Handlung kombiniert mit der lächerlich-eindimensionalen Figurenzeichnung und den Dialogen auf dem Niveau humorvoller Fernsehkrimis (die im Kontrast zum elitären Thema stehen) suchen wirklich ihresgleichen. Vom Frauenbild, das hier vermittelt wird, mal ganz zu schweigen. Die Frauen in diesem Roman sind - wie schon gesagt - dauer-wollüstig und werden auch immer wieder als unwissend dargestellt, während die Männer mit intellektueller Potenz bestückt sind und den unterwürfigen Weibchen die Welt erklären müssen. Die Opfer des Mörders, bei dem alles von Anfang an fast reibungslos verläuft, begeben sich geradezu bereitwillig in ihr Schicksal. Eine solche Naivität ist für mich beispiellos gewesen und leider auch immer wieder ein Quell unfreiwilliger Komik, die aber wahrscheinlich nicht intendiert war. Die versprochene spannende Krimi-Handlung war nicht mal ansatzweise auszumachen. Logische Fehler und realitätsferne Vorgänge und Abläufe kommen erschwerend hinzu. Von dem Ende, das geradezu abstrus und einfach nur ärgerlich war, will ich gar nicht erst anfangen.

Dass der Autor etwas von Kunsthandel, Kunstgeschichte und kulinarischen Genüssen versteht, ist unbestritten und spiegelt sich in seinem Buch wieder. Literarisches Schreiben gehört meines Erachtens nach aber nicht zu seinen Fähigkeiten. Dennoch wurde das Buch verlegt und zwar in hochwertigster Ausstattung - Ich frage mich nur: Warum? So mancher "Groschenroman" ist deutlich besser - und wenigstens sein Geld wert.

Herzlichen Dank an den LangenMüllerVerlag und Lovelybooks für Leserunde und Rezensionsexemplar!

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Sonntag, 13. Dezember 2020

"Die Krone der Schöpfung" von Lola Randl

 

Bestandsaufnahme der "ersten Welle"

Selten liest man einen Roman, in dem so viele Aspekte des Erzählten mit der eigenen Lebensrealität der jüngeren Vergangenheit übereinstimmen. Bei diesem Roman ist dies der Fall, denn er wurde nicht nur im Jahr 2020 geschrieben und veröffentlicht, er behandelt auch noch das Thema, das dieses Jahr wie kein anderes geprägt hat: Die Corona-Pandemie.

Die Filmregisseurin und Schriftstellerin Lola Randl versucht sich in “Die Krone der Schöpfung” an einer Bestandsaufnahme des Beginns der Pandemie, ihrer Ausbreitung in Europa sowie der ganzen “ersten Welle”. Im Buch gibt die Erzählerin, die wohl in vielen Punkten mit der Autorin gleichzusetzen ist, ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Virus wieder. Dabei konnte ich mich als Leserin teilweise sehr gut mit ihren nüchtern-ironischen Schilderungen identifizieren. Sie beschreibt, was wir alle im Frühjahr 2020 erlebt haben: Das Einbrechen des Virus in unser Leben, was es (oder: er) mit uns und unserer Umwelt gemacht hat und wie wir dieser neuen Situation am Anfang begegnet sind. Ob es das Nähen von Stoffmasken ist, der Hamsterkauf von Toilettenpapier, das überall ausverkaufte Desinfektionsgel: Die Pandemie ist ein Gleichmacher und wir sitzen alle im selben Boot. Ich habe mich zurückversetzt gefühlt in diese unsichere Zeit, in der Corona noch ganz frisch und wir alle davon noch unbeleckt waren. Die mediale Berichterstattung wird auch von der Erzählerin reflektiert: Ob es die bedrückenden Nachrichten der vielen Toten aus Italien waren oder auch die Omnipräsenz eines gewissen “Chefvirologen”, dem die ganze Aufmerksamkeit eigentlich eher unangenehm war bzw. ist.

Strukturell ist dieser “Roman” eher eine Sammlung von kurzen Kolumnen, die jede für sich einen Mikroaspekt der Pandemie aufgreifen. Einerseits referiert die Erzählerin über biologische und gesellschaftspolitische Fakten, die im Zusammenhang mit Viren bzw. speziell mit Sars Covid-19 irgendwie von Interesse sind. Andererseits geht es eben um die persönlichen Erfahrungen der Autorin (die in einem gewissen Maße fiktionalisiert sind, in welchem, weiß wohl nur sie selbst bzw. ihr Umfeld), die dem neuen Eindringling - aka Virus - in ihr Leben zu trotzen versucht. Ihr nicht ganz konventioneller Alltag führt dabei zu einigen amüsanten Situationen und Verwicklungen. Die selbstironische Art der Erzählerin und ihre eigene Unzulänglichkeit, die sie immer wieder erwähnt, machen sie für mich sympathisch. Man denke nur ihre Fleischgelüste, während sie sich vor dem Liebhaber als moralisch überlegene Vegetarierin geriert. Oder an ihre persönlichen Versagensmomente in puncto Erziehung. Zusätzlich gibt es noch eine grotesk-surreale Komponente des Buches. Die Erzählerin braucht Geld (damit der Boden in ihrem renovierten Haus verlegt werden kann) und schreibt deshalb am Drehbuch für eine Zombieserie, das sie einem Internetgiganten verkaufen will. Diese Passagen waren für mich sehr gewöhnungsbedürftig.

Randls Roman muss sich sicher auch Kritik gefallen lassen. Das Erzählte ist oft diffus, viele Themen werden angerissen um sie dann ebenso abrupt wieder fallen zu lassen. Der rote Faden zerfranst in viele Fädchen. Zudem steht derjenige, der Lola Randls ersten Roman “Der große Garten” nicht gelesen hat, vor vielen Fragen: Was hat es mit dem Liebhaber auf sich, wer sind die anderen Dörfler oder zugezogenen Städter, von denen sie spricht und warum ist sie überhaupt mit ihrer Familie in das abgelegene Dorf in der Uckermark gezogen? Der Vorgängerroman beantwortet wohl diese Fragen. Der Epilog am Schluss bleibt philosophisch-vage. Stattdessen hätte ich mir ein ausführliches Nachwort gewünscht mit den genauen Angaben, in welchem Monat des Jahres 2020 das Buch abgeschlossen wurde und wie der Status Quo der Pandemie zu dieser Zeit war.

Obwohl ich Randls trockenen Humor sehr gerne mochte und es wichtig und richtig finde, dass diese ersten Monate der Corona-Pandemie für die Nachwelt festgehalten wurden, kann ich aufgrund der genannten “Probleme” diese sehr spezielle Lektüre nicht jedem uneingeschränkt empfehlen. 

Herzlichen Dank an die Leserunde bei Lovelybooks sowie Matthes & Seitz Berlin für das Rezensionsexmplar!

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Montag, 7. Dezember 2020

"Wisting und der Atem der Angst" von Jørn Lier Horst

 

Unprätentiöse Hochspannung, Teil 3

Nachdem ich bereits die ersten beiden Teile (Link zur Rezension von Teil 1, Teil 2)der Cold-Cases-Reihe um William Wisting begeistert gelesen habe, musste ich natürlich sofort bei Erscheinen den dritten Teil dieser Reihe lesen. Auch diesmal bekommen es Kriminalkommissar Wisting und Stillers Osloer Einheit ungelöster Kriminalfälle mit einem “Cold Case” zu tun, der sich allerdings sehr schnell als “hot” entpuppt. Der zweifache Frauenmörder und Sadist Tom Kerr will einen dritten Mord gestehen und die Ermittlungseinheit zum Grab des Opfers führen. Allerdings kann er bei der Begehung entkommen. Nun stellt sich den Ermittlern die Frage, ob er bei seinen Morden einen Komplizen hatte und ob ihm dieser “Andere” zu seiner Flucht verhelfen konnte.

Auch Wistings Tochter Line ist als Journalistin wieder mit von der Partie. Sie will eine Dokumentation über den Fall Tom Kerr drehen. Dass Line ihren Vater so eng bei seiner Arbeit begleitet, führt immer wieder zu Gewissenskonflikten, schließlich darf Wisting die laufenden Ermittlungen nur gefiltert an die Medien weitergeben. Doch auch Line verfolgt ihren eigenen Plan und nimmt dabei so manches Risiko in Kauf. Es geht in diesem Band damit auch sehr viel um das Verhältnis zwischen Polizei und Medien, eine Zusammenarbeit, die nicht immer für beide Seiten eine Win-Win-Situation darstellt.

Die Handlung ist dieses Mal auch wieder sehr spannend, vor allem durch die unmittelbare Bedrohung durch den flüchtigen Täter und seinen unbekannten Komplizen. Es gibt viele überraschende Wendungen und kurz vor Ende wird es so nervenaufreibend, dass ich teilweise versucht war an meinen Fingernägeln zu kauen.

Ich mag mehrere Aspekte an den Krimis von Jørn Lier Horst. Zum einen die unaufgeregte Erzählweise, mit der ganz subtil Spannung erzeugt wird. Lier Horst ist kein effekthaschender Erzähler, obwohl es natürlich um krasse Verbrechen und Täter geht. Der Autor erzählt das Wesentliche, ohne es unnötig auszuschmücken. Auch das mag ich. Außerdem weiß er tatsächlich als ehemaliger Kriminalkommissar über die Abläufe einer Ermittlung genauestens Bescheid. Im Nachwort geht er - ungewöhnlich für ihn - nochmal auf “das Böse” ein und die Menschen, die es verkörpern. Dabei verweist er auch auf seine eigene berufliche Vergangenheit als Ermittler.

Lier Horsts Figuren sind absolut lebensecht, das Private bildet einen Rahmen für die Geschehnisse, steht aber niemals im Vordergrund. Ich bin so gespannt, wie sich die Figuren noch entwickeln werden, Wisting hat jedenfalls noch einige Jahr bis zur Pensionierung. Dennoch sieht vor allem seine Tochter die Zeichen des Alterns an ihrem Vater. Zum Glück ist bereits jetzt klar, dass ein vierter Band der Reihe im Frühjahr 2021 auf Deutsch erscheinen wird. Ich kann es kaum erwarten!

Herzlichen Dank an den PIPER Verlag und netgalley für das Rezensionsexemplar!

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Samstag, 5. Dezember 2020

"Stille Nacht in der Provence" von Cay Rademacher

 

Creepy Christmas in der Provence

Weihnachtskrimis lese ich in der Vorweihnachtszeit immer ganz gerne, vor allem weil in ihnen - im Gegensatz zur Realität - meistens Schnee liegt. So auch in "Stille Nacht in der Provence" von Cay Rademacher (mein erstes Buch von ihm).

Zur Handlung: Die Hamburger Andreas Kantor, Gymnasiallehrer für Französisch und Englisch und seine Frau Nicole, Journalistin, beide um die Fünfzig, wollen Weihnachten in der Provence verbringen. Ein Kollege von Andreas stellt Ihnen dafür sein Ferienhaus in Miramas-le-Vieux in der Nähe von Marseilles zur Verfügung.

Miramas-le-Vieux ist ein kleines mittelalterliches Dörfchen, das nur wenige Einwohner hat. Die meisten wohnen im angrenzenden neuen Ort Miramas. Dennoch gibt es ein paar "Einheimische" wie die Santonniere Milène Tanguy, die Santons fertigt, kleine provenzalische Tonfiguren, sowie deren Mann René. Auch ein Hotel-Restaurant gibt es hier, Inhaberin ist die Witwe Valéria. Ihr Neffe Dennis, ein Heimatforscher, hilft ihr gelegentlich aus. Dann wäre da noch der zwielichtige Polizist Zulesi, der einzige Ordnungshüter von Miramas-le-Vieux. Das war's auch schon im Wesentlichen, das Personal dieses Romans ist so überschaubar wie der Handlungsort im Winter - von daher passt es. Im Sommer ist Miramas-le-Vieux nämlich ein gut besuchter Touristenort, im Winter hingegen wie ausgestorben. Perfekte Voraussetzungen also für die Krimihandlung, die sich nun entfaltet: Andreas findet in einem vom Schnee eingedrückten Gewölbekeller neben seinem Ferienhaus einen Sarg mit Leiche, die kurz darauf verschwindet. Die deutschen Touristen werden von den Einheimischen zunächst kritisch beäugt, aber als dann bekannt wird, was Andreas Kantor vermeintlich gefunden hat, beginnt die Situation zunehmend prekär zu werden: Wer ist der Tote im Gewölbe und wer hat ihn dorthin geschafft?

Wenn man von einigen wenigen abgenutzten Metaphern (Schnee wie Puderzucker, Füße schwer wie Blei, etc.) einmal absieht, konnte mich der Krimi - auch sprachlich - durchaus überzeugen. Dem Autor gelingt es formidabel, eine Atmosphäre zu erzeugen, die ganz schön beklemmend und bedrohlich daherkommt. Eine richtige Thriller-Atmo also. Andreas, der Protagonist des Romans, gerät ja in viele bedrohliche Situationen und man weiß nie, ob sie mit einem Kaffeeklatsch oder mit dem Mord an ihm enden werden.

In der französischen Region Provence-Alpes-Côte d'Azur ist Schnee - noch dazu solche Mengen, wie sie im Buch beschrieben werden und dann auch noch um die Weihnachtszeit - eine absolute Ausnahme. Daß der Autor um Kunstgriff "eingeschneit, ergo sind die Personen am Schauplatz des Geschehens gefangen und von der Außenwelt isoliert" gegriffen hat, finde ich aber schon in Ordnung. Überhaupt hat mir das Setting, dieser mittelalterliche provenzalische Ort, sehr gut gefallen. Vom Spannungsaufbau und auch was die Auflösung betrifft ein sehr solider “Cosy” Krimi, den ich weiterempfehlen kann.

Herzlichen Dank an den Dumont Verlag und netgalley für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

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Mittwoch, 2. Dezember 2020

"Ungezähmt" von Glennon Doyle

 

“Werde, die du bist” 2.0 - ohne neue Erkenntnisse!

Schon die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm schrieb gegen Ende des 19. Jahrhunderts: "Werde, die du bist". Dass Frauen sich emanzipieren und ein von gesellschaftlichen Zwängen losgelöstes, selbstbestimmtes Leben führen sollen, ist wahrlich kein neuer Gedanke. Was also ist neu an "Ungezähmt", der autobiografischen Lebensbeichte von Glennon Doyle? Warum wird das Buch von so vielen (prominenten) Frauen als weibliches "Must-read" in den Himmel gelobt? Ich wollte es wissen und deshalb habe ich es gelesen, denn sonst mache ich um "Selbsthilfe-Ratgeber" eigentlich einen weiten Bogen.
Dass die US-amerikanische Autorin, christliche Bloggerin und Mutter von drei Kindern mit 40 Jahren ihren untreuen Ehemann verlassen hat und seitdem mit der Frau ihres Lebens glücklich und zufrieden lebt, ist schön und auch gut so. Aber muss man daraus ein Manifest weiblicher Selbstfindung erschaffen? Klar, auch Männer sollten rosa Duschgelflaschen benutzen dürfen und sich deswegen nicht weniger männlich vorkommen. Und auch Frauen dürfen wild und gefährlich sein und nach Nordpolexpedition riechen. Aber ist das nicht Makulatur? Braucht es dafür ein Buch?

Glennon Doyle steht im Zentrum dieses Buches. Es ist ihre Geschichte, die sie in kurzen Kapiteln erzählt. Sie war süchtig - nach Anerkennung, Alkohol, Drogen und Abhängigkeit. Sie war bulimisch seit ihrer frühen Jugend. Aber dann wurde sie schwanger und trocken und hat nur noch für ihre Familie gelebt. Und erst nach ihrer Scheidung hat sie quasi auf ihr inneres Selbst gehört und zu selbigem gefunden. Es geht ihr darum, auf die innere Stimme und damit in erster Linie auf das eigene Ich zu hören. Eine Diktatur des Selbst könnte man sagen. Man soll außerdem lernen den Schmerz des Lebens zu ertragen, um dem wahren Dasein zu begegnen. Sie spricht vom "Großen Schmerz", den es auszuhalten gilt und in dem sich alle treffen. Alles ein wenig pathetisch, in belehrendem Tonfall und vor allem nicht so wirklich neu. Sagte nicht bereits Lord Byron im frühen 19. Jahrhundert: "Der wesentliche Sinn des Lebens ist Gefühl. Zu fühlen, daß wir sind, und sei es durch den Schmerz. Es ist die ›sehnsuchtsvolle Leere‹, die uns dazu treibt, zu spielen – zu kämpfen – zu reisen – zum leidenschaftlichen Tun." Auch die Weisheit, sich selbst treu zu bleiben und nicht dem Druck von außen nachzugeben, finden wir bereits bei Shakespeare: "This abvove all: To thine own self be true." (Hamlet)

Das Buch ist sehr amerikanisch, nicht nur weil Selbsthilferatgeber einen ziemlich amerikanische "Erfindung" sind. Es geht oft um Therapien, Religiosität und Fremdwahrnehmung. Doppelmoral und reaktionäre Rollenzuschreibungen gibt es auch in unserem vermeintlich liberalen Europa. Dennoch: AmerikanerInnen werden anders sozialisiert. Wenn bereits in der Highschool ein "Homecoming-Court" aus den zehn beliebtesten SchülerInnen gewählt wird, dann wird natürlich einem Klassenbewusstsein Tür und Tor geöffnet, in dessen Denkmustern man nach dem eigenen Beliebtheitsgrad, der sich aus dem Grad der Angepasstheit speist, beurteilt wird - passt man ins Schema der Gesellschaft oder eben nicht. Doyle kritisiert immerhin die amerikanische Mentalität, immer der Beste sein zu wollen, an mehreren Stellen. 

Dennoch: Auch nach der Lektüre verstehe ich den Hype um dieses Buch 0,0. Es wird einfach nichts Neues geboten. Doyle verstrickt sich außerdem oft in Widersprüche: Einerseits sagt sie, sie ist ein Mensch, der keine Freunde hat, nur um im nächsten Abschnitt zu sagen dass sie mit dieser und jener Freundin über dies und jenes gesprochen hat. Außerdem meine ich eine gewisse Beliebigkeit in ihren Aussagen zu erkennen. Irgendwie ist alles ein großes Mischmasch: Selbstfindung, Süchte, Co-Parenting, Social Media, Lebensbeichte, Coming-Out, Geschlechterrollen, Erziehungsfragen, Black Lives Matter, Küchenpsychologie, Religiosität, Selbstdarstellung, Selbstliebe, Amerikanismen, Politik, Wohltätigkeit… Mir fehlte einfach der rote Faden, eine gewisse Stringenz, an der man sich entlanghangeln kann.

Dieses Buch mag ja ein Befreiungsschlag für die Autorin gewesen sein, aber was Adele & Co. hier Bereicherndes herauslesen, erschließt sich mir leider nicht.

Herzlichen Dank an rowohlt und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

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