Sonntag, 29. September 2024

"Der verschwundene Buchladen" von Evie Woods

Wie kann ich “Der verschwundene Buchladen” von Evie Woods (aus dem Englischen übersetzt von Ivonne Senn für Adrian & Wimmelbuchverlag), ein Buch, das gerade die Bestsellerliste emporklettert und mit einem wunderschönen Cover und originellem Farbschnitt optisch ins Auge fällt, am besten beschreiben? Es ist ein Buch über Bücher, Geschichten (auch Lebensgeschichten) und die Magie von Büchern, Manuskripten und Buchhandlungen. Dabei sind ein historischer Roman (Handlung 1921-1923) und ein Gegenwartsroman, der sich 100 Jahre später abspielt (also in unser eigenen Zeit angesiedelt ist) kunstvoll ineinander verschränkt. Das Buch wird abwechselnd aus der Perspektive von drei Personen erzählt: Opaline Carlilse in der Vergangenheit, Martha und Henry in der Gegenwart. Dreh- und Angelpunkt der Handlung auf beiden Zeitebenen ist ein Buchladen in der fiktiven Ha'penny Lane in Dublin, der mal verschwunden ist und mal nicht. Damit ist der Roman tief in der Tradition des Magischen Realismus verankert. Denn der Buchladen und die von ihm ausgehende Magie sind der einzige “Fantasy-Aspekt” in diesem Roman.

Wer jetzt so wie ich vor der Lektüre denkt, das klingt alles ziemlich cosy und gemütlich, ein Wohlfühlbuch für Bibliophile, den muss ich leider teilweise enttäuschen. In diesem Buch finden wir zwar Bücher und Geschichten an jeder Ecke, aber leider auch und vor allem psychische und physische Gewalt, Gaslighting, toxische Männlichkeit, Sucht, etc. Richtig heavy Triggertopics, die ich aufgrund des Klappentextes nicht erwartet hätte. 

Die Engländerin Opaline flieht vor ihrem 20 Jahre älteren Bruder Lyndon, der sie in eine Zwangsehe stecken möchte. Sie hat von ihrem Vater eine Leidenschaft für Bücher vererbt bekommen und möchte Buchhändlerin werden. In Paris trifft sie Sylvia Beach, die historische Gründerin von “Shakespeare & Company” und heuert dort als Aushilfe an. Doch das wird nicht ihre letzte Station bleiben. Ihr Lieblingsbuch “Sturmhöhe” von Emily Brontë ist dabei eine Art Talisman für sie. Martha aus Irland hat die toxische Beziehung zu ihrem gewalttätigen Ehemann Shane hinter sich gelassen und fängt in der Ha'penny Lane in Dublin als Gesellschafterin der älteren Dame Madame Bowden an. Sie hat, was Bücher betrifft, eine negative Vergangenheit, doch in letzter Zeit scheinen sie Bücher und Geschichten quasi zu rufen. Vor allem der Bestseller “Normale Menschen” von Sally Rooney springt ihr ins Auge. Und dann wäre da noch Henry, Doktorand am Trinity College und Experte für alte Manuskripte. Er leidet unter seinem alkoholkranken Vater, der ihm schon seit seiner Kindheit das Leben schwer macht. Henry hat einen Buchladen entdeckt, der dann plötzlich nicht mehr da war - in der Ha'penny Lane...

Kann ein Buch gleichzeitig gut und schlecht bzw. literarisch und trivial sein, so wie Schrödingers Katze gleichzeitig tot und lebendig ist? Ja, das geht, “Der verschwundene Buchladen” ist so ein Buch. Es ist kitschig wie nur irgendwas, melodramatisch wie eine Seifenoper bzw. "Der Graf von Monte Christo” (der im Buch übrigens auch mal vorkommt) und unrealistisch bis in die kleinsten Verästelungen der Bäume, die in Marthas Zimmer wachsen. Hier werden seltene Manuskripte mal so nebenbei gefunden - und zwar genau die, die man gesucht hat. (Frauen-) Schicksale, die sich über die Zeiten spiegeln und dass alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt, ist jetzt auch nicht gerade eine brandneue literarische Erfindung.

Gleichzeitig ist der Roman aber spannend wie ein Krimi, ein herrlicher Schmöker, den man nicht aus der Hand legen möchte, geschrieben von einer klugen und sehr belesenen Autorin. Es kommt sehr selten vor, dass ein Buch an einer Stelle genervtes Augenrollen verursacht und im nächsten Moment die Wehmut des bevorstehenden Trennungsschmerzes, wenn ich es gleich aus der Hand legen muss, um meinen alltäglichen Verrichtungen nachzugehen. Letztes hat dann aber überwogen und in der Rückschau sind auch die positiven Gefühle, die ich beim Lesen hatte, in der Mehrheit. Der Farbschnitt mit der Hausfassade, hat mir beim Lesen tatsächlich Freude bereitet - ich muss definitiv offener gegenüber solchem Schnickschnack werden. 

Die bezaubernde Hintergrundgeschichte um den verschwundenen Buchladen ist tatsächlich originell und entschädigt für viele unglaubwürdige Momente der Handlung. 

Ich hoffe ihr wisst jetzt, auf was ihr euch bei diesem Buch einlassen würdet und wenn ihr es tut, wünsche ich euch ein angenehmes Leseerlebnis, bei dem ihr wahrscheinlich das ein oder andere Auge zudrücken müsst.

Herzlichen Dank an Adrian & Wimmelbuchverlag sowie buchcontact für das Rezensionsexemplar!




Donnerstag, 26. September 2024

"Lückenbüßer" von Volker Klüpfel und Michael Kobr (= Kluftinger 13)

Pilze, Politik und Giveaways

Lieber Klufti aka Interims-Polizeipräsident, Leiter des “K1 Kempten”, Opa, Vater, Sohn, Ehemann (“Butzele”) und Intimfeind von Dr. Langhammer! Ich hätte mir ja niemals gedacht, dass ich mal so ein großer Fan von dir werde, dass ich die Bücher, in denen du die Hauptfigur bist, gleich zum Erscheinungstermin inhalieren und sogar weiterempfehlen würde. Und das in diesem #Bookstagram, wo die meisten jetzt solche spannenden, aber halt auch zwischendrin durchaus albernen bzw. “humorvollen” Regionalkrimis eher nicht so goutieren, gell. So ein “Commitment” meinerseits kann mich Follower kosten, ich hoffe dessen bist du dir bewusst. Ich muss zugeben, als mir ein ehemaliger Klassenkamerad bei einem Klassentreffen vor über 10 Jahren über seine Leidenschaft für deine Bücher erzählte, habe ich als Literaturwissenschaftlerin ja auch erstmal innerlich die Nase gerümpft. Aber dann war ich, als ich es selbst probiert habe, “hooked” wie man heute sagt und was du natürlich sofort nicht oder falsch verstehen würdest - englische Ausdrücke magst du ja nicht so, gell? Jedenfalls habe ich jeden einzelnen Fall gelesen.

Und jetzt sind wir schon beim dreizehnten angelangt. Eine Terroreinsatzübung am Berg, bei dem ein eurem Team bislang unbekannter uniformierter Kollege umkommt. Und genau dort um den Tatort herum hast du ganz schön viele Steinpilze entdeckt und nach Hause geschleppt. Ich kann Markus und Yumiko übrigens verstehen, dass sie der Maxima die nicht geben wollten, wir jungen Eltern sind ein bisschen übervorsichtig - nimm es ihnen nicht krumm. Es war überhaupt viel Persönliches in diesem Buch, dessen Hauptthema die zwei großen P's waren: Pilze und Politik. Zu Letzterer hast du dich überreden lassen: Als Lückenbüßer bei der Altusrieder Gemeinderatswahl. Eigentlich wolltest du ja gar nicht gewählt werden - und dann hat dich doch der Ehrgeiz gepackt. Und den Langhammer auch, er war wie immer in Bestform. Die Sprüche auf den Wahlplakaten sind eigentlich schon für sich genommen 5 Sterne wert. Aber den Cliffhanger ganz am Ende, den nehm ich deinen Autoren ein bissle krumm…

Sollen wir jetzt wieder 2 Jahre warten, bis wir wissen, wie es weitergeht? So wie damals bei der Maxima? Aber du, was den Fall betrifft - so richtig warm geworden bin ich damit nicht. Ein unsympathisches Opfer, dazu noch Querdenker und Corona-Leugner, der mit den Rechten abgehangen ist. Die Thematik war echt ein bisschen zäh, fast wie die Seitan-Entenbrust, auf der du rumgekaut hast. (Wobei, die war ja eigentlich ganz lecker, oder?) Aber wenn ich da an so Fälle denke wie “Grimmbart” oder “Funkenmord”, dann werd’ ich schon ein bisschen wehmütig. Sind deine besten Zeiten wirklich schon vorbei? Ich mein du kannst ja nix dafür, wer ermordet wird und in welchen Kreisen sich der bewegt. Und wie komplex das Ganze daherkommt (diesmal nicht so), kannst du ja auch nicht beeinflussen, du bist ja nur die ausführende Gewalt. Aber sag den Herrn Klüpfel und Kobr bitte bei nächster Gelegenheit, dass sie in den 14ten Fall mehr Würze ohne Geschmackstärker (die Erika benutzt ihn ja auch nimmer, gell) reinbringen sollen, bitteschön. Also wenn's geht. Und keine Rechtsradikalen (von denen gibt es gerade in der Realität eh schon genug). Ansonsten war es schon wie immer ganz unterhaltsam und auch oft lustig. Die Brotdosen-Szene: Ganz großes Kino. Und deine Erfahrungen mit Social Media waren auch mal wieder peinlich deluxe.

Und weil wir uns schon so lange kennen, will ich in der Rezension, die ich noch schreiben muss, auch gnädig sein. Aber nur wenn du mir so ein “Giveaway” vom Langhammer besorgst. Also einen Eiskratzer zum Beispiel (“Heute schon an morgen denken”). Du weißt ja: Eine Hand wäscht die andere. Von daher: Lest es oder lasst es bleiben. Oder um dich zu zitieren: “Und jetzt lasst mir meinen Frieden, ich muss endlich was schaffen, Himmel[*pieeeep*]saubande, hundsverreckte!” (S. 145)

Herzlichen Dank an Ullstein für das Rezensionsexemplar!


Montag, 23. September 2024

"Die Kunst der Hexerei" von Iris Panhans


Magie und Hexerei für Anfänger:innen

Wer glaubt, das Thema “Hexe” im 21. Jahrhundert sei esoterischer “New-Age-Blödsinn” oder eine Fantasievorstellung “frustrierter Katzenfrauen”, der sollte jetzt bitte nicht weiterlesen oder hat es ohnehin nicht getan. Allen anderen: Welcome and blessed be! Die nachfolgenden Worte sind eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Sachbuch von Iris Panhans aka. “Vollmondfüchsin” mit dem Titel “Die Kunst der Hexerei. Entdecke deine magischen Kräfte”, erschienen bei Nymphenburger.

In diesem Ratgeber nimmt uns die sympathische Autorin, die durch ihre YouTube-Videos erstmals an die Öffentlichkeit trat, mit auf eine Reise. Es ist eine Reise, an deren Ziel wir Lesende im Idealfall unsere eigenen magischen Kräfte entdeckt haben oder zumindest wissen, ob das denn für uns überhaupt infrage kommt. Und vor allem: in welcher Form. Denn es gibt verschiedene Aspekte und Herangehensweisen an das Thema Hexerei: vieles ist möglich, nichts muss. Oder wie Panhans es formuliert: “Magie ist ein Geschenk, das jede Person erhalten hat, und du wirst deinen Weg finden.” (S. 45) Wichtig ist der Autorin dabei auch immer, sich von falschen Vorstellungen zum Thema Magie zu lösen: Sie hat nichts mit Blitzen zu tun, die aus Zauberstäben kommen. Oder mit Hexen, die auf Besen reiten. Magie ist eine Kraft, die uns selbst innewohnt und die wir auch selbst entdecken müssen. Es geht in diesem Ratgeber oftmals darum, Energien - von Menschen, Tieren, Dingen, Orten - wahrzunehmen und damit in irgendeiner Form umzugehen. Zum Beispiel gehört die Reinigung und Neutralisation von Energien zu den wichtigsten Ritualen einer Hexe. Jeder Mensch hat positive und negative Energien in sich selbst, es ist wichtig, an den eigenen “Schatten” zu arbeiten (siehe Kapitel “Schattenarbeit”) um ein emotionales Gleichgewicht zu erlangen. Hexerei ist oft nicht viel mehr als der Versuch, sich selbst näher zu kommen. Ein immens wichtiger Punkt, der auch im Buch betont wird: Eine moderne Hexe verleugnet niemals wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern arbeitet mit ihnen. 

Panhans geht wirklich sehr strukturiert an ihr Thema heran, was es den Lesenden sehr leicht macht, ihr zu folgen. Das Buch ist aufgeteilt in folgende Kapitel: 1. Der Alltag einer modernen Hexe 2. Die Grundlagen 3. Zauber und Rituale 4. Praxis. Hier findet man sich schnell zurecht und kann auch gezielt nur einzelne Kapitel nachlesen, je nachdem, für welchen Themenbereich man sich gerade interessiert. Die Autorin betont auch in den einzelnen Kapiteln, dass die Themenkomplexe weitaus umfangreicher sind, als sie sie hier ausführen kann. Manche würden sogar eigene Bücher füllen können. Aber dieses Buch ist eine Einführung in die moderne Hexerei und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Panhans beschreibt die ganzen Dinge und Utensilien, die eine Hexe benötigt wie feuerfeste Schale, Schnur, Kerzen, Kräuter, Fläschchen, Notizbuch, etc. Dabei macht sie deutlich, dass man die Dinge keinesfalls neu und teuer in einschlägigen Shops kaufen muss. Vieles ist bereits im Haushalt vorhanden, kaum etwas muss wirklich angeschafft werden. Eine sehr wichtige Botschaft, gerade für junge Anfänger:innen: “Sei kreativ, arbeite mit dem, was du hast, und spar dir so dein Geld.” (S. 97) Wenig Geld sollte einen jedenfalls nicht von seinem Vorhaben abbringen, eine Hexe zu werden. Auch sollte man sich nicht von den perfekten Altären und Hexenzimmern der Internet-Community blenden lassen. 

Im Praxisteil erläutert die Autorin, wie wir selbst Rituale durchführen können und zu welchem Zweck. Für fast jeden interessant dürften die verschiedenen Rituale der Hausreinigung sein, die teilweise schon mit sehr wenig Utensilien machbar sind. 

Die Gestaltung dieses Ratgebers ist wirklich sehr ansprechend. Wunderschöne Fotos und Zeichnungen, von denen 25 von der Autorin selbst stammen, lockern den Text auf und illustrieren ihn auf passende Weise. 

Der Stern, den ich aber leider abziehen muss, hat nichts mit dem Inhalt zu tun. Bei einem Ratgeber wie diesem, den man auch nach der ersten Lektüre - ähnlich wie ein Kochbuch - sicher öfter aus dem Regal ziehen wird, hätte ich mir ein Hardcover gewünscht. Auch das Din-A4-Format sowie der stolze Preis von 25 Euro hätten meines Erachtens für ein Hardcover gesprochen. Das Gute an der Broschur ist zwar das Lesezeichen mit der wunderschönen Vollmondfüchsin, das man aus der Klappe herausschneiden und selbst mit einem Band gestalten kann. Dies hätte man allerdings im Fall eines Hardcovers auch beilegen können. Wie auch immer, das ist wirklich der einzige Kritikpunkt, den ich an diesem wunderbaren Buch für Einsteriger:innen ins Thema Hexerei und Magie habe. Große Empfehlung für alle an diesem Thema Interessierten.

Herzlichen Dank an Nymphenburger/Kosmos Verlag und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!




Samstag, 21. September 2024

"I'm a Fan" von Sheena Patel


Mein Haus. Mein Auto. Meine Familie. Während wir früher noch mühsam Fotos aus dem Geldbeutel ziehen mussten, um Einzelpersonen oder kleinen Gruppen unser vermeintlich perfektes Leben zu präsentieren, können wir heute im Internet gefühlt der ganzen Welt zeigen, was wir sind oder gerne sein wollen. Ich finde Bücher, die die “Social-Media-Selbstdarstellungsmaschinerie” unter die Lupe nehmen, schon sehr interessant. Vom Debütroman “I'm a Fan” von Sheena Patel habe ich mir also rein von der Kurzbeschreibung einiges erhofft. Hier geht es nämlich um eine Frau (eine namenlose Ich-Erzählerin) aus London, die die Frau (“Woman i am obsessed with) im Internet “stalkt”, mit der der Mann (“Man I want to be with”), mit dem sie gerne zusammen wäre, eine Affäre hat. Klingt kompliziert? Ist auch so. Das Buch ist sehr, sehr anstrengend. Und das liegt nicht nur an der winzigen Schriftgröße, die hier im englischen Original gewählt wurde. Der Roman ist ein scheinbar endloser innerer Monolog, in kurze Textpassagen zerstückelt. Und diese Texte, die an kleine Essays, Kolumnen, Blog- oder Tagebucheinträge sowie Captions erinnern, enthalten eine endlose Litanei über die “Nicht-Beziehung” der Protagonistin zu dem Mann, mit dem sie gerne zusammen wäre. 

Dieser Mann ist so toxisch, dass er fast schon wie eine Karikatur eines notorischen Fremdgehers rüberkommt. Er lässt die Ich-Erzählerin an der langen Leine, hat sporadisch S*x mit ihr und nebenbei hat er eben noch andere Frauen wie die “woman I am obsessed with”. Diese präsentiert ihr Luxusleben im Netz. Und wird eben von der Ich-Erzählerin dabei beobachtet.

Puh, ich habe selten ein Buch gelesen, das mich so genervt hat wie dieses. Diese Prosa ist so dermaßen anstrengend, wie ich selten eine gelesen habe. Man will einfach zu der Ich-Erzählerin sagen: Gute Frau, es reicht jetzt. Lass diesen Mann ziehen und alles was mit ihm zusammenhängt, lösche bitte all deine Social Media Apps und kauf dir einen Hund (und leihe dir nicht nur einen aus, um die Schwester der “woman I am obsessed with” zu stalken). 

 Wie so oft bei “schlechten” Büchern ist es auch hier so, dass sowohl die Vorschusslorbeeren (National Book Awards 2023 und nominiert für den Women's Prize for Fiction) sowie der Anfang des Buches, vielversprechend waren. Ich mochte den Beginn des Romans, wo sich die Ich-Erzählerin langsam in das Leben der Affäre ihres Love Interests einschleicht. Stark fand ich die Szene, wo sie zu einer Verkaufspräsention von Luxuswaren, die die Frau auf ihrer Website vertreibt, geht und die Dinge taxiert, die dort feilgeboten werden. Die Ich-Erzählerin reflektiert dabei sowohl Klassenunterschiede als auch ihre eigene Identität als Einwandererkind der zweiten Generation in England.

Ich hätte mir gern noch mehr beißende Gesellschaftkritk gewünscht, die unsere moderne Selbstdarstellungskultur entlarvt. Stattdessen geht es fast ausschließlich um die toxische Beziehung zu dem bewunderten “A-Loch-Typen”, um den S*x, den sie sich mit ihm wünscht bzw. hat und um die langweilige Beziehung, die sie mit ihrem Boyfriend führt, den sie ihrerseits betrügt. Es gibt hier - Spoiler - keinerlei Entwicklung der Ich-Erzählerin, denn sie wird an ihrer ungesunden Obsession bis zum Schluss festhalten.

Kein gutes Buch. Keine Empfehlung. I am not a Fan. Habt ihr das Buch gelesen und fandet es vielleicht sogar gut? Hab ich irgendwas nicht gerafft? Habe ich die gesellschaftspolitische Brisanz dieses Romans nicht erkannt?

Falls ihr euch selbst ein Bild machen wollt und nicht gerne auf Englisch lest, das Buch ist auch auf Deutsch erschienen bei hanser blau.


Mittwoch, 18. September 2024

"Der längste Schlaf" von Melanie Raabe


Ein Traum von einem Roman

“Ich muss was machen. Werfe einen Blick nach draußen. Die Dunkelheit fällt herab wie ein schwerer Vorhang, dieser Tag hat seine Vorstellung gespielt. Doch für mich ist er noch nicht vorbei.” (S. 237)

Der Tod, der für uns nicht (da) ist, solange wir sind - um es mal (pseudo) philosophisch auszudrücken - hat, so sagt man im Volksmund, einen "Bruder". Kein Zustand während unseres existenziellen Daseins kommt dem Tod näher als der Schlaf. Im Schlaf, diesem todesähnlichen Etwas, verbringen wir ein Drittel unseres Lebens. Doch während der Tod die Auslöschung unseres Bewusstseins darstellt, fördert der Schlaf das Unterbewusstsein zutage, indem er uns träumen lässt. Doch was ist, wenn die Traumreste plötzlich anfangen, unser Leben zu bestimmen? Wenn - wie es bei Calderon heißt - “das Leben ein Traum” wird?

Die Protagonistin von Melanie Raabes neuem Roman “Der längste Schlaf”, Prof. Dr. Mara Lux ist ein Widerspruch in sich: Sie hat sich als Neurowissenschaftlerin den Schlaf als Forschungsgebiet auserkoren und leidet selbst an Insomnia - Schlaflosigkeit. Was diese hervorgerufen hat, möchte ich hier nicht spoilern, denn es ist einer der “Antriebsmotoren” des Plots. 

Mit 10 Jahren hat Mara durch einen Autounfall an ihrem Geburtstag beide Eltern verloren - das Trauma sitzt tief. Dennoch konnte sie sich eine erfolgreiche Karriere als Neurowissenschaftlerin an der Universität (King's College London) aufbauen. Zu Ihrem Herkunftsland Deutschland, das sie mit 19 Jahren verlassen hat, um sich in London niederzulassen, hat sie fast alle Brücken abgebrochen. Einzig zu ihrer besten Freundin Roxi aus Frankfurt, mit der sie in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist, hat sie dort noch Kontakt. Eines Tages erhält sie eine Email von einem Notar aus Deutschland - ein alter, ihr völlig unbekannter Mann hat Mara ein Herrenhaus in einem kleinen Ort namens Limmerfeldt vermacht. Mara reist nach Deutschland, und die Reise zu ihrem unverhofft Erbe wird für sie eine Reise zu sich selbst…

Das "unheimliche Herrenhaus-Motiv” und ich, wir sind gute Freunde. Spätestens seit “Jane Eyre” ist das mein liebster Trope in Kriminal- und Spannungsromanen. Raabe hat das Motiv meisterhaft in ihrem Roman umgesetzt - das Haus ist unheimlich und anziehend zugleich sowie ein starkes Symbol für das Traumhafte bzw. Unterbewusste, das sich in diesem Buch einen Weg in die Realität zu bahnen versucht. Symbolik und Metaphorik finden wir überall in der  märchenhaften Topographie von Limmerfeldt, seinen Fachwerkhäusern und verwinkelten Straßen, aber auch seinen Menschen und Tieren. Hier steckt noch so viel mehr drin, als einem beim ersten Lesen bewusst wird - davon bin ich überzeugt. Die sehr klare, ungekünstelte Prosa bildet einen wunderbaren Kontrast zur oft irrationalen Handlung. Zudem merkt man, dass sich Melanie Raabe eingehend mit der Sekundärliteratur zum Themenkomplex Schlaf und Traum beschäftigt hat.

Wer dieses Buch liest, sollte wissen, dass man es mit einem Pageturner zu tun bekommt, der einen nachts nicht gut einschlafen lässt, weil man immer weiterlesen möchte. Ein gekonnter, intelligent geplotteter Mix aus literarischem Roman, Mysterythriller und dem Genre “magischer Realismus” - ein Buch also, auf das man sich komplett “einlassen” muss, um es genießen zu können. Und wenn man es ausgelesen hat, schließt sich förmlich ein Kreis zwischen der schlaflosen Protagonistin und uns Lesenden: Wir können uns wieder dem Schlaf hingeben und hoffen, dass wir aus diesem traumhaften Buch mit dem wunderschönen Cover nur gute und keine Albträume mitgenommen haben, denn gerade das Ende bzw die Auflösung könnte sich für manch sensible Person als Trigger erweisen. Trotz dieses kleinen Wermutstropfens möchte ich aber eine 99,99%ige Leseempfehlung für dieses großartige Buch aussprechen.

Herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar an den Btb-Verlag und Vorablesen.de!

Montag, 16. September 2024

"Western Lane" von Chetna Maroo


Wir sahen einander an, und der Sonnenuntergang in der Western Lane färbte die Schmierflecken an den Wänden orange und pink. Auf dem Jahrmarkt versuchte das todtraurige Pferd den Kopf zu heben.” (S. 175)

In “Western Lane” von Chetna Maroo (übersetzt aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann für Luchterhand), der 2023 auf der Shortlist des renommierten Booker Prize stand, geht es um das Thema Sport als Methode der Trauerverarbeitung. Ist es uns möglich, seelische Prozesse durch körperliche Bewegung zu unterstützen, Trauer zu unterdrücken oder ihre Verarbeitung zu beschleunigen?

Die drei Schwestern Gopi (11), Khush (13) und Mona (15) haben ihre Mutter verloren. Zusammen mit ihrem Vater, der im Buch nur Pa genannt wird, leben sie in einer - wenn ich mich nicht täusche - ungenannten Stadt England (in der Nähe von London). Eines Tages ermuntert der Vater seine drei Kinder dazu, sich mehr zu bewegen und sie beginnen mit dem Squash-Training in der Western Lane. Gopi, die Ich-Erzählerin des Romans, lernt dort Ged (13) kennen, sie trainieren zusammen und freunden sich an. Doch dann droht sich die Familiensituation erneut zu verändern, außerdem wird Gopi immer besser im Squash…

Gopis Familie sind Jains, sie gehören also einer indischen religiösen Minderheit an, die zum Beispiel Vegetarismus/Veganismus propagiert bzw. die Nichtverletzung von Lebewesen und die Welt in Geistiges und Ungeistiges einteilt. Das Geistige sind die unterschiedlichen Seelen, das Ungeistige wird in 5 Kategorien unterteilt: Bewegung, Ruhe, Raum, Stoff und Zeit (Quelle: Wikipedia). Die Vorstellungen der Jains ziehen sich durch den Roman. So wird die vegetarische Ernährung vor allem am fast täglichen Lieblingsgericht des Vaters - Linsen Dal mit Reis - illustriert. Das Pferd auf dem Jahrmarkt wird als jämmerliche und einsame Kreatur von Gopi sehr bedauert - im Jainismus haben auch Tiere eine Seele. Die Verletzung des Vaters durch Gopi während des Squash ist eine große Sache. Die Seele der Mutter wird oft thematisiert, Gopi sieht ihr wohl am ähnlichsten. Was das Ungeistige betrifft, so sind die Themen Bewegung und Ruhe im Hauptthema des Romans - dem Squash-Sport - präsent, der sehr kräftezehrend ist, gerade auch für Heranwachsende.

Obwohl Squash ein sehr lauter Sport ist, ist dieses Buch vor allem eins: leise. Irgendwie verleiht es ein warmes Gefühl, diesen Roman zu lesen. Das mag an der innigen Interaktion der Schwestern oder der zarten Annäherung von Gopi und Ged liegen. Sprache und Erzählstruktur stechen nicht heraus, allerdings macht das Buch dies mit seiner warmherzigen Story und der starken Ich-Erzählerin einigermaßen wett. Ein sehr guter Roman also, der meines Erachtens aber nicht auf der Shortlist des “Booker Prize” hätte stehen müssen. Dafür ist er etwas zu gefällig, zu wenig spröde und zu sehr ganz eindeutig Debütroman. Es mag aber sicher Lesende geben, die für sich das Hervorragende in diesem meines Erachtens sehr guten literarischen Roman finden werden. Auf jeden Fall ist er sehr lesenswert für alle, die leise und warmherzige Coming-of-Age-Geschichten mögen und die das Thema Trauer (Tod der Mutter in ihren frühen Vierzigern) nicht scheuen.

Herzlichen Dank an Luchterhand und Team Bloggerportal für das Rezensionsexemplar!




Freitag, 13. September 2024

"Ein klarer Tag" von Carys Davies


“Ich hätte niemals so viele Schüsseln Milchsuppe von ihm annehmen dürfen. So viel Wärme und so viel heißen Leberpudding. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er mir sein Bett überlässt oder dass er mir Socken und eine Mütze strickt und meinen Mantel ausbessert. Ich hätte ihn nicht ermuntern sollen, mir stundenlang seine eigenartige und komplizierte Sprache beizubringen.” (S. 167)

Wenn man als Leser:in in ein Buch “hineingehen” könnte - völlig inkognito, also ohne die Charaktere zu stören oder die Handlung zu unterbrechen - dann würde ich in “Ein klarer Tag” von Carys Davies (Original “Clear”, für Luchterhand aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné) gehen wollen. Ich würde mich auf der fast einsamen kleinen schottischen Insel umsehen, die salzige Seeluft einatmen und dann beobachten, wie Ivar strickt und spinnt, mit seiner alten Stute Pegi spricht und den Geistlichen John Ferguson gesund pflegt.

Ivar und John sind zwei, die sich die Gesellschaft des jeweils anderen nicht ausgesucht haben und dennoch für mehrere Wochen auf einem einsamen Eiland in der schottischen Nordsee - knapp vor Unst, der nördlichsten Shetland-Insel, koexistieren müssen. Der Roman ist ein historischer, denn er spielt im Jahr 1843. Die Autorin erklärt in einem Nachwort den komplexen geschichtlichen Hintergrund, der mit der Gründung der schottischen Freikirche und der Vertreibung von ganzen Dorfgemeinschaften durch geldgierige Großgrundbesitzer zu tun hat. Ivar ist der, der als einziger verbliebener menschlicher Bewohner von der Insel vertrieben werden soll. Im Auftrag des Besitzers der Insel hat der freikirchliche Pfarrer John Ferguson diesen Auftrag angenommen, um sich und seine Frau Mary weiterhin durchbringen zu können.
Ich will nicht zu viel von der Handlung verraten, aber wer “Brokeback Mountain” von Annie Proulx mochte oder “Die Tage des Wals” von Elizabeth O'Connor, der wird “Ein klarer Tag” lieben.

In diesem Roman spielt das Thema Sprache eine große Rolle. Die altertümliche Inselsprache, die Ivar spricht, ist höchst differenziert und hat für die unterschiedlichsten Zustände und Ereignisse ein eigenes spezielles Wort (siehe Glossar am Ende). Sie ist der bereits 1845 ausgestorbenen Sprache “Norn” nachgebildet, die auf den nördlichsten schottischen Inseln gesprochen wurde. Hier bezeichnen zum Beispiel die Wörter “skump”, “gyolm”, “dunk”, “syora”, “mirkabrod”, “blura” - und andere mehr - unterschiedliche Formen von Nebel. Besonders loben sollte man an dieser Stelle die Übersetzerin Eva Bonné, die eine besonders schwierige Aufgabe hatte und sie perfekt umgesetzt hat. 

John, dessen Muttersprache Englisch ist und der gut Schottisch kann, ist fasziniert davon und versucht sich die Sprache anzueignen. Schließlich nähern sich die beiden so unterschiedlichen Männer - der eine ein eremtischer Naturmensch, der andere ein gebildeter Priester - über die Sprache an. Aber auch der nonverbalen Kommunikation als ureigenem Ausdrucksmedium des Menschen wird in Roman eine Bühne verliehen. Wo Sprache nicht weiterhilft, kommen Blicke, Gesten und körperliche Bewegungen zum Einsatz. Auch dem Tanz ist die wahrscheinlich berührendste Stelle des Romans gewidmet.

Dies ist ein so rohes, so ursprüngliches und wahrhaftiges Leseerlebnis voller echter Emotionalität. Künstlerisch, ohne artifiziell zu sein. Poetisch, ohne jemals kitschig zu werden.
Ungefiltert und trotzdem randvoll mit natürlicher Schönheit, mit der es uns blendet wie das helle Licht eines klaren Tages, das sich für immer in unser Gedächtnis einbrennt. Eines der schönsten, besten Bücher, die ich jemals gelesen habe.

Herzlichen Dank an das Bloggerportal und an den Luchterhand Verlag für das Rezensionsexemplar!


Mittwoch, 11. September 2024

"Jesolo" von Tanja Raich

“Mit dem Kredit haben wir uns verpflichtet. Mit deinem Haus schlagen wir Wurzeln. Mit diesem Kind führen wir genau dieses Leben, das hier alle führen. Wir werden immer hierbleiben. [...] Keine Großstadt. Kein Madrid. Kein Haus am Meer. Keines dieser Luftschlösser.” (S. 124)

Ich liebe es, Bücher am Ort ihres Geschehens zu lesen. Man bekommt einfach ein anderes Gefühl beim Lesen für die Örtlichkeit - es erzeugt quasi ein dreidimensionales Leseerlebnis. Als ich dies hier schreibe sind wir im Urlaub in Jesolo an der italienischen Adria und da ich “Jesolo” von Tanja Raich schon länger im Regal stehen hatte, habe ich die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und “Jesolo” in meiner blauen Ikea-Reisetasche nach Jesolo geschleppt.

Aber in diesem Buch spielt nur das erste Kapitel, das hier Kapitel “0” heißt, wirklich in Jesolo. Die allermeiste Zeit spielt es in einem 1000-Einwohner-Dorf in Österreich (glaube ich, die Autorin stammt aus Südtirol, wohnt aber in Wien), in dem die 35-jährige Ich-Erzählerin Andrea (Andi) mit ihrem Lebenspartner Georg lebt, der aus diesem Dorf stammt. Nach dem Urlaub in Jesolo ist sie schwanger und sie wollen die Einliegerwohnung in Georgs Elternhaus renovieren und dort einziehen. Also Georg will das, Andrea fügt sich mehr oder weniger in ihr Schicksal. Denn eigentlich hatte sie andere Pläne. Sie ist Grafikerin und Malerin, träumte von einer Ausstellung ihrer Bilder, war engagiert im Job…Aber die biologische Uhr tickt und Georg will ein geregeltes Leben als Familie führen…Und irgendwann muss der Mensch sich entscheiden - zwischen einem konventionellen Lebensstil und etwas komplett anderem…

In “Jesolo” geht es um die Gedanken einer Frau während der “Rushhour des Lebens”, also der Zeit, in der unser Lebenszug in feste Gleise einfährt, die man nicht mehr so leicht verlassen oder verschieben kann. Es ist eine Tatsache, dass unser Leben ab einem bestimmten Zeitpunkt - für viele Menschen ist dieser zwischen 30 und 40 gekommen - in seinen Grundzügen “entschieden” ist. Man ist in einer festen Partnerschaft, hat ein Zuhause, die Kinderfrage ist geklärt, der Job ist sicher. Wenn es nach dem Durchschnittsmenschen geht. Natürlich gibt es immer noch “unkonventionellere” Lebensentwürfe, aber in einem kleinen Dorf wie dem von Andrea und Georg, sind sie schlichtweg nicht gefragt.

Dieser Roman hat mich mit seiner intensiven Erzählweise überzeugt. Die Protagonistin spricht ihren Lebenspartner Georg qua Du-Anrede direkt an. Besonders fesselnd sind die Gedanken der Ich-Erzählerin, wenn sie sich verschiedene Szenarien ausdenkt. Was als nächstes passieren - ob positiv oder negativ - könnte, was überhaupt in der Zukunft passiert. Damit illustriert die Autorin auf geschickte Weise unsere ausdifferenzierte moderne Welt voller Möglichkeiten. Zu viel Potenzialität ist da draußen, die die Protagonistin in eine Schockstarre fallen lässt. Das befreundete Paar, das zur Ich-Erzählerin und ihrem Partner sagt, dass sie doch mal woanders hin sollten als immer nur nach Jesolo ins selbe Hotel ist ein Sinnbild für dieses moderne Denken, dass man möglichst viel erleben muss, um mithalten zu können - die Diktatur der Potenzialität.

Ein wirklich guter Roman über die Dilemmata einer Lebenszeit, in der man so viel und so viel Wichtiges entscheiden muss, dass es einem über den Kopf zu wachsen droht. Empfehlung!

Montag, 9. September 2024

"Mein Mann" von Maud Ventura


Amour fou mit dem eigenen Mann

Achtung Ironie! Für viele Frauen in einer heteronormativen Ehe ist der eigene Mann nach einiger Zeit mit einem Möbelstück gleichzusetzen: Es ist gut, dass er da ist, ist immer genau an seinem Platz (auf dem Sofa, der Toilette oder vor dem PC), aber er fällt auch nicht mehr groß auf. Er ist wie ein bequemer alter Sessel, in den man sich manchmal fallen lässt, der aber auch oft im Weg rumsteht und gelegentlich abgestaubt werden muss. Kurzum: Er erfüllt seinen Zweck. Was aber nicht heißen muss, dass die Frau beim letzten Familienbesuch im Möbelhaus die anderen, neuen Sessel mit dem aufregenden floralen Muster nicht zumindest aus dem Augenwinkel ein wenig abgecheckt hätte.

Nicht so ergeht es der vierzigjährigen namenlosen Ich-Erzählerin aus “Mein Mann” von Maud Ventura, aus dem Französischen von Michaela Meßner. Die Englischlehrerin und Übersetzerin ist von ihrem Mann so besessen, dass sie am liebsten rund um die Uhr mit ihm zusammensein würde. Selbst ihre beiden Kinder (7 und 9) liebt sie nicht so wie sie ihn liebt, ihren Mann. Dieser Roman ist unglaublich raffiniert erzählt. Die Ich-Erzählerin macht uns Lesende zu Kompliz:innen, zu Mittäter:innen ihrer ungesunden Obsession, die sie Liebe nennt. Durch die Entscheidung, ihren Mann stets nur als “mein Mann” zu bezeichnen, raubt sie ihm jede Identität und Individualität. Er wird zur Persona, zum Jedermann, zur Projektionsfläche für die Vorstellungen der Lesenden. Der Roman einer Entmenschlichung? Auf gewisse Weise schon. 

Es geht hier um die Dynamiken, wie sie in einer Ehe und unter Paaren vorkommen. Um Rollenverteilung und die kleinen Enttäuschungen, die man sich im Laufe der Partnerschaft zugefügt hat. Um die enttäuschten Erwartungen, die man der anderen Person gegenüber nie artikuliert hat
Die Beziehung der Ich-Erzählerin und ihres Mannes wird von ihr unter ein Brennglas gelegt. Sie seziert seine Liebe zu ihr, möchte ganz genau wissen, wie sehr ihr ihr Mann noch zugeneigt ist. Und dafür ist ihr jedes Mittel recht.

Besonders spannend fand ich die Tatsache, dass die Ich-Erzählerin Synästhetin ist und zum Beispiel die Wochentage mit bestimmten Farben assoziiert. So ist der Montag blau, der Dienstag schwarz, der Mittwoch orange, etc. Und diesen Farben werden bestimmte Eigenschaften zugesprochen, die auch mit den jeweiligen Tagen assoziiert werden. 

Das Paradoxe an meiner Leseerfahrung: Selten habe ich eine so große Distanz zu einer Protagonistin empfunden - ich konnte mich null mit ihr identifizieren - und gleichzeitig das Buch genossen. Normalerweise möchte ich Protagonist:innen sympathisch finden und etwas von mir in ihren wiederfinden. Aber dieses Mal war es regelrecht angenehm und kathartisch dieses nicht zu tun.

Spoiler: Das Buch war für mich wirklich ein ungewöhnliches Leseerlebnis, die Obsession der Protagonistin konsequent, bis zu dem Punkt, wo sie zum ersten Mal fremdgeht. Ja, zum ersten Mal, denn am Ende wird sie zweimal in einer Woche mit zwei verschiedenen anderen Männern schlafen. Natürlich kennen wir dieses Motiv von Maud Venturas Schriftstellerkolleginnen wie z.B. Leïla Slimani und Maria Pourchet. Dennoch dachte ich, dass dieses Buch hier anders ist, weil eben alle Aufmerksamkeit der Protagonistin auf ihren eigenen Mann gerichtet ist. Dass die Autorin aus diesem hervorragend originellen Konzept ausbricht, fand ich sehr schade, zumal das erst im letzten Drittel des Romans passiert (eigentlich ist Donnerstag ihr “Fremdgehtag”).

Bis auf diesen Wermutstropfen fand ich den Roman allerdings erfrischend anders und absolut lesenswert. 


Mittwoch, 4. September 2024

"Die Gräfin" von Irma Nelles


Kurzes Kammerspiel im Wattenmeer 

“Am Horizont glitzerte Südfall im nassen Watt wie ein Kleinod auf Silberpapier. Je näher sie kamen, desto besser waren der dunkelgraue Schlick der Halligkante und die Wasserfarben zwischen vor Hitze ausgetrockneten Salzwiesen zu erkennen; und überall der dichte Teppich mit abwechselnd hellem, dann dunkleren, rosarot oder violett blühendem Strandflieder”. (S. 61)

“Die Gräfin” von Irma Nelles ist mit 169 Seiten wahrlich kein langes Lesevergnügen. Aber dafür ein umso intensiveres. Wie man schon an dem obigen Zitat erkennen kann, schreibt hier eine Person, die hier verwurzelt und der das Watt seit frühester Kindheit in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Autorin wurde 1946 auf Nordstrand geboren und ist auch dort aufgewachsen. Irma Nelles’ kondensierte Prosa atmet die Flora und Fauna dieses einmaligen Landstrichs, der so eigenwillig und abgelegen ist wie die Geschichte, die uns in “Die Gräfin” erzählt wird und die sich so wohl nur hier abgespielt haben könnte.

Die Handlung spielt an 6 Tagen im Spätsommer auf der Hallig Südfall und der angrenzenden Insel Nordstrand im Wattenmeer. Der zweite Weltkrieg liegt in seinen letzten Atemzügen und man munkelt bereits, dass der Krieg für die Deutschen verloren ist. Für die pazifistische Gräfin Diana von Reventlow-Criminil, die tatsächlich existiert hat (Lebensdaten 1863-1953), ist dies eine gute Nachricht. Die alleinstehende und freiheitsliebende Adelige lebt bereits seit 34 Jahren auf Südfall. Auf dem einzigen Anwesen des Eilandes leben mit ihr nur ihr Angestellter Maschmann, ein kauziger Nordfriese um die fünfzig und Meta, eine junge Frau, die sie nach dem Tod von deren Eltern als “Kostkind” aufnahm und die der alten Damen nun den Haushalt führt. Dieses ruhige Leben in der Einsamkeit des Meeres wird jäh unterbrochen, als der englische Kampfpilot John Philip Gunter auf dem Eiland abstürzt. Die Gräfin handelt sofort und lässt den verletzten Mann von Maschmann in ihr Zuhause schaffen, wo sie und Meta ihn gesund pflegen. Dies muss aber unter höchster Geheimhaltung geschehen, dann einen Feind zu unterstützen galt als Hochverrat. Doch der Aufenthalt des Bruchpiloten löst nicht nur Angstgefühle aus, im Gegenteil…

Generell habe ich immer eine große Scheu vor Romanen, die während des zweiten Weltkriegs in Deutschland spielen, da mich das Ganze doch immer sehr mitnimmt. Bei diesem Werk ist die Zeitgeschichte nur wie durch einen Schleier präsent. Die Gräfin verhilft - so wird es angedeutet - zahlreichen Menschen zur Flucht, verfügt sie doch durch ihren adeligen kosmopolitischen Stammbaum (sie ist halbe Schottin, ihr Bruder hat eine Engländerin geheiratet) durch zahlreiche Kontakte in alle Welt. Auch der Nordstrander Inselarzt Braack, der sich um den Verletzten kümmert, äußert oftmals in der Dorfkneipe seinen Unmut über das Naziregime.

Würden nicht die traurigen Schlagworte des zweiten Weltkriegs bzw des dritten Reiches wie Gestapo etc. durch die Handlung geistern und würde es sich statt eines Kampfpiloten um einen schiffbrüchigen Marineoffizier handeln, so könnte man meinen, ein Werk des 19. Jahrhunderts vor sich zu haben. Die Personen und ihre abgeschiedene Lebensweise mitten im Meer wirken wie aus der Zeit gefallen. Und stellenweise könnte man wirklich denken es mit einer Novelle von Theodor Storm und bei der Gräfin mit einer von Fontanes starken Frauenfiguren zu tun zu haben. Die Kennzeichen der klassischen Novelle kann man jedenfalls allemal abhaken: Eine “unerhörte Begebenheit” (Absturz der Piloten), eine überschaubare Anzahl an handelnden Figuren und die klassische Struktur. Als Leitmotiv würde ich das Flugzeug bezeichnen. Ich mochte die chronologisch-lineare Erzählweise sehr, da sie einen erholsamen Kontrast zum heute modernen “chaotischen” Erzählen darstellt. Vielleicht sollte noch darauf hingewiesen werden, dass Maschmann, den ich als Figur sofort ins Herz geschlossen habe, meist Plattdeutsch spricht und dass das für Unkundige schwer zu lesen ist.

Während ich sonst immer schnell dabei bin, Längen, Redundanzen und eine überambitionierte Seitenzahl in Romanen zu kritisieren, muss ich hier tatsächlich sagen, dass mir das Buch zu schnell vorbei ging. Kaum hatte man sich an die Charaktere gewöhnt und eine Beziehung zu ihnen aufgebaut, haben sie einen auch schon wieder verlassen. Dieses Gefühl der Wehmut, die sich angesichts des abrupten Endes einstellt, spricht aber für das Buch. Die Geschichte der Hallig-Gräfin ist so absonderlich und interessant, dass ich gerne noch viel mehr Lesezeit in diese Figur investiert hätte.

“Die Gräfin” ist ein melancholisches Buch über die Unbarmherzigkeit der Zeit und die Unmöglichkeit, seiner eigenen Chronologie zu entkommen. Für alle, die gern ruhigere Bücher mit einem überschaubaren Personal lesen und sich für das Leben auf einer Hallig interessieren, ist dieser Roman der leisen Töne genau die richtige Lektüre.

Herzlichen Dank an den Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar!

Link zum Buch: Die Gräfin