Es gibt zwei Gründe warum ich “Treibgut” von Adrienne Brodeur (aus dem Englischen von Karen Witthuhn, erschienen bei Kindler) gelesen habe: Zum einen wurde in der Leseprobe einer der Protagonisten des Romans vorgestellt und zwar am genauen Geburtstag meiner 8-jährigen Tochter (Tag/Monat/Jahr). Zum anderen spielt der Roman in Cape Cod und an diesem einzigartigen Fleckchen Erde durfte ich vor ca. 10 Jahren einen wundervollen Urlaub verbringen.
Was Adrienne Brodeur wirklich meisterhaft macht in diesem Roman, ist, die Stimmung eines Jahres, das Lebensgefühl der USA und teilweise der ganzen Welt im Jahr 2016 festzuhalten. Ein Jahr, in dem die Menschheit zwischen Aufbruchsstimmung und Zukunftsangst hin- und her changierte. Ein Jahr, in dem viele die Hoffnung hatten, dass eine Frau zum ersten Mal an der Spitze der freien Welt stehen und viele männlich gemachte Konflikte auslöschen würde. Vielleicht auch der Glaube, dass der Klimawandel noch zu stoppen sei. Heute, aus der Perspektive des Jahres 2024 wissen wir: Es ist leider nicht dazu gekommen. Und heuer im November wird wieder ein (sehr) alter weißer Mann (ein schlimmer und ein weniger schlimmer) US-Präsident. Damit sind alle Hoffnungen auf Progressivität, auf Fortschritt in der amerikanischen Gesellschaft, bereits 2016 im Keim erstickt worden. Mit diesem Wissen hat Brodeur ihren Roman konzipiert.
Der Makrokosmos wird im Mikrokosmos widergespiegelt: Die unruhige Situation in der Familie Gardner ist ein Sinnbild für die Lage der Nation und der Welt. Der Patriarch und Meeresbiologe mit Spezialgebiet Wale, Adam Gardner, Ph.D. aus Cape Cod, steht kurz vor der Verrentung und seinem 70. Geburtstag am 18. August - die Feier ist das Ereignis, auf das die ganze Handlung zusteuert. Adam kämpft mit Depressionen und lässt sein ganzes Leben Revue passieren. Ein Leben, in dem er bahnbrechende Erfolge auf dem Gebiet der Meeresbiologie einstreichen konnte, aber privat auch mehrere Rückschläge. Der schlimmste Schicksalsschlag war der Verlust seiner Frau mit 30 Jahren, nur wenige Stunden nach der Geburt seiner Tochter Abby. Er musste sie und deren dreieinhalb Jahre älteren Bruder Ken allein großziehen, zwei weitere Ehen sind gescheitert. Adam hadert mit seiner eigenen Vergänglichkeit: “Das war das ultimative Paradox des Menschseins: die Sehnsucht nach Vitalität in einer Welt, die der Verwesung unterlag.” (S. 395)
Die nächste Generation der Familie hingegen befindet sich in einer Art angespannten Aufbruchsstimmung: Die erfolgreiche Künstlerin Abby Gardner ist mit 38 Jahren zum ersten Mal schwanger - von ihrem verheirateten Jugendfreund David, einem Wahlkampfhelfer von Hillary Clinton. Ken wiederum befindet sich in einer Ehekrise mit Jenny, der besten Freundin von Abby, mit der er zwei zwölfjährige Zwillingstöchter hat. Der finanziell erfolgreiche Immobilienunternehmer, der für die Republikaner in den Kongress einziehen möchte, kämpft vor allem gegen seine eigene Psyche und die Traumata der Vergangenheit…Und dann wäre da noch Steph, ebenfalls 38 und gerade von ihrem Sohn Jonah entbunden. Die in einer glücklichen Beziehung mit ihrer Partnerin Toni lebende Polizistin erfährt, dass sie Adam Gardners uneheliche Tochter ist und möchte jetzt ihre eigenen Wurzeln kennenlernen. Doch wie viel Aufregung verträgt das fragile familiäre Konstrukt der Gardners? Kommt es zur Jubiläums-Eskalation?
Da es sich bei “Treibgut” um einen klassischen Familienroman handelt, in dem die Innensicht der verschiedenen Familienmitglieder erzählt wird, hat sich Brodeur für die multiperspektivische Erzählweise entschieden. Die Kapitel sind jeweils abwechselnd aus der Sicht von Adam, Abby, Ken, Jenny und Steph erzählt. Die Handlung beginnt im April 2016 und endet im Oktober.
Natürlich könnte man bei diesem Roman kritisch einwenden, dass die Figurenzeichnung leicht ins Klischeehafte abdriftet: Der Patriarch ist der “verträumte” Wissenschaftler bzw. Meeresbiologe. Meeresbiologe ist für mich so ein klassischer “Roman-Beruf”, ich glaube wenn es in Wirklichkeit viele Meeresbiologen gäbe wie in der Literatur, dann wäre dieser Berufszweig ziemlich “überschwemmt”, oder? Und dann die jüngere Generation: Die lesbische Polizistin aus der irisch-katholischen Arbeiterfamilie, die feministische Künstler-Tochter vs. der republikanische Immobilienmogul-Bruder, der mit der anderen (ehemaligen) Künstlerin/Feministin verheiratet ist, die jetzt im goldenen Käfig als Hausfrau und Politikergattin lebt. Schon leicht schematisch für meine Begriffe, aber gut, vielleicht wurde hier bereits an eine Verfilmung gedacht und dafür passen all diese Charaktere perfekt.
Da die Garners in Cape Cod direkt an der Küste leben, Abby für ihre Kunst Treibgut sammelt und Adam eben Meeresbiologe ist, ist die ganze Stimmung dieses Romans sehr maritim. Biodiversität, Nachhaltigkeit, Umwelt-, Tier- und Klimaschutz sind Themen, die immer wieder zwischen den auf die familiäre Situation bezogenen Plot-Elementen hervorleuchten, ohne dass es aufdringlich erscheint. Wer also Romane mit ökologischem Bewusstsein mag, die am Meer spielen und in denen es allerlei maritime Metaphorik gibt, ist hier genau richtig.
Dieser Familienroman ist mit Sicherheit kein literarisches ”must read”-Meisterwerk, aber er ist auch keinesfalls seicht oder gar schlecht. Sicher versetzt er einen total zurück ins Jahr 2016 und das ist für meine Begriffe schon mal eine sehr lobenswerte Leistung.
Herzlichen Dank an den Kindler (Rowohlt) Verlag und Vorablesen für das Rezensionsexemplar!