Dienstag, 30. Juni 2020
"Das schwarze Band" von Alex Beer
Historischer Politthriller der Extraklasse
“Regeln lenken den weisen Mann. Der Dummkopf befolgt sie.” Dieses Zitat des wunderbaren Oscar Wilde ist dem Buch vorangestellt. Ja, ja, die lieben Regeln. August Emmerich ist zwar Kriminalkommissar beim Dezernat “Leib und Leben” in Wien, aber an polizeiliche Vorschriften oder Regeln im eigentlichen Sinne hält er sich nicht allzu gerne. Schon gar nicht wenn sie ihm “von oben herab” aufoktroyiert werden von irgendwelchen Anzugträgern ( “Lackaffen”).
Als er den neu gewählten Bundeskanzler und ehemaligen Polizeipräsidenten Schober in dessen Anwesenheit persönlich beleidigt, ziehen seine Vorgesetzten die Reißleine. Ihre Meinung: Emmerich müsse diszipliniert und für 10 Tage in der Schwarzenbergkaserne weggesperrt werden. Erst nach erfolgreicher Absolvierung des polizeiinternen “Bennimmkursus’” darf er wieder “auf der Straße” ermitteln, schafft er es nicht, droht ihm ewiger Innendienst. Und das, wo gerade ein brutaler Mord an zwei Nackttänzerinnen in der Brigittenau auf dem Ermittlungsplan steht. Ferdinand Winter, ehemals Freiherr von Winter, ist nun auf sich allein gestellt und muss, um die Ermittlungen nicht an den ungeliebten Kollegen Peter Brühl zu verlieren, alleine in die gnadenlos undurchsichtige Wiener Unterwelt abtauchen.
Nicht nur der Wiener Hochsommer 1921 ist heiß. Das chaotische Wien der Nachkriegszeit und jungen Republik Österreich ist ein mehr als heißes Pflaster. Aufgrund der zunehmenden Inflation und des Devisenhandels werden die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer. Und jeder versucht sein Glück in dieser Stadt. Hier geht es um Alles oder Nichts, Himmel oder Hölle. Wunderbar spielt Alex Beer die Paradies/Höllen/Sündenpfuhl-Thematik auf ihrer metaphorischen Klaviatur. Das drückend warme Wetter untermauert das Gefühl des Lesers, an einem unerträglich heißen, höllischen Ort gelandet zu sein. Unerbittlich zeigt sich der “Moloch Wien” im Juli 1921 also von seiner besonders unangenehmen, diabolischen Seite.
Der vierte Band in der “August-Emmerich-Reihe” ist durch und durch politisch, ein historischer Politthriller allererster Güte. Der ursprüngliche Mordfall an zwei Freudenhaus-Mädchen zieht weite Kreise und die Parallelhandlung rund um Emmerich in der Kaserne ist auch nicht ohne Belang für das große Ganze, wie sich zunehmend zeigt. Die Autorin bringt ganz viele gesellschaftliche Brennpunkte und politische Brandherde der jungen Republik Österreich in ihrem feurigen Plot zusammen. Inhaltlich ist die Übervorteilung des Devisen besitzenden Geldadels, der den “echten” Adel in Österreich seit dem Adelsaufhebungsgesetz inoffiziell abgelöst hat, nur eine der sozialen Ungereimtheiten, die im Roman angesprochen werden. Das titelgebende “schwarze Band” fungiert dabei als Falkenmotiv und zieht die Erzählstränge am Ende zusammen.
Damit wären wir auch schon bei unserem “Antihelden-Ermittler”. Was August Emmerich angelangt, so macht er sich keine Illusionen über die gesellschaftlichen Zustände. Aus seiner Perspektive ist “das Leben, dieses elende Verräterschwein”, eine ungerechte Ausweglosigkeit. Um die Vergangenheit des ehemaligen Waisenkindes Emmerich besser zu verstehen, sollte man wohl die Vorgänger-Bände gelesen haben (auch ich werde und will das unbedingt nachholen). Es geht in diesem Band um seine private Situation als alleinerziehender Stiefvater dreier Kinder, der über seine Herkunft nur spekulieren kann. Schon lange habe ich keine literarische Figur mehr so “echt” und attraktiv gefunden wie Emmerich. Seine Figur ist einmal mehr Beweis dafür, dass Frauen glaubwürdige und anziehende männliche Protagonisten schreiben können.
Wenn es nicht so furchtbar kitschig klingen würde, würde ich sagen: Ich bin wie atemlos durch die Seiten geflogen. Aber irgendwie beschreibt es mein Leseerlebnis am besten. Ich war an einer Stelle richtig erschrocken, als ich plötzlich bei der Hälfte des Buches angekommen war.
Das Buch endet mit einem sehr fiesen Cliffhanger und ich kann nur hoffen, dass Alex Beer in der nächsten Zeit ganz viel Zeit zum Schreiben findet! Top - unbedingt lesen!
Herzlichen Dank an das Bloggerportal von Randomhouse, das mich auch mit diesem Rezensionsexmplar unterstützt hat!
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Freitag, 26. Juni 2020
"Ich bleibe hier" von Marco Balzano
Intensiv, beklemmend, wahrhaftig
Südtirol zur Zeit des italienischen Faschismus und des Zweiten Weltkriegs, ist ein histo-topografischer Bereich, mit dem ich mich noch nie zuvor beschäftigt habe. "Ich bleibe hier" von Marco Balzano hat diesen Umstand zum Glück geändert, denn die Geschichte zum berühmten Kirchturm im Reschensee mit den menschlichen Schicksalen dahinter, ist es mehr als wert, erzählt zu werden.
Die Ich-Erzählerin Trina erzählt ihrer Tochter Marcia die Geschichte ihres Lebens, dessen geografischer Mittelpunkt Graun im Vinschgau, Südtirol, war. Eines Lebens, das geprägt war von den politischen Interessen der Faschisten, der Nationalsozialisten und später der Politik der Nachkriegsjahre. Mussolinis Schergen wollten die Dörfer im Dreiländereck Italien-Österreich-Schweiz italianisieren und kappten den einheimischen Tirolern ihren Zugang zu Arbeit und freier Bildung. Mit der Machtergreifung der Nazis entzweiten die "Heim ins Reich"-Parolen und falschen Versprechen des NS-Regimes die Bevölkerung. Die Familie der Erzählerin Trina gehört zu den "Dableibern" - bis auf Tochter Marica, die nach Deutschland verschleppt wird. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem Kriegseintritt Italiens gibt es Pläne, im Gebiet von Graun und Reschen einen Staudamm zu bauen, dessen "Opfer" die Dörfer selbst werden - und natürlich ihre Bewohner. Doch dann müssen Trina und ihr Mann vor den Nazis fliehen und später dann ihr Haus verlassen zugunsten des Stausees.
Trotz des schwierigen, ernsten Themas, erzählt Marco Balzano die Geschichte mit einer bestechenden Leichtigkeit und einnehmenden Natürlichkeit. Die Wahl des Briefes als Erzählmedium und die Tatsache, dass es eine bestimmte Adressatin gibt, an die die Geschichte gerichtet ist - nämlich Trinas Tochter - verleiht dem Ganzen eine sehr persönliche Komponente. Niemals wirkt das Geschriebene artifiziell und immer wie eine wahrhaftige Lebensgeschichte einer Betroffenen. Das Leben in der deutschsprachigen Enklave, die von allen Seiten bedroht und eingeschüchtert wird, wird anschaulich dargestellt, die Atmosphäre im kleinen Südtiroler Bergdorf ist beklemmend. Vor allem die Flucht von Trina und Erich hat mich tief bedrückt und beeindruckt. Krieg ist einfach unglaublich schlimm für die betroffenen Menschen und das wird in "Ich bleibe hier" mehr als deutlich.
Lange hat mich kein Buch mehr derart emotional berührt und aufgewühlt. Eine absolute Leseempfehlung!
Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag und netgalley.de für das Rezensionsexemplar!
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Mittwoch, 24. Juni 2020
"Der Fall Alice im Wunderland" von Guillermo Martínez
Zwei Mathematiker im Wunderland - Metatextualität und dunkle Geheimnisse
Während ich "Die Oxford-Morde" mit anerkennendem, aber auch etwas distanziertem Interesse gelesen habe, hat mich dieser zweite Oxford-Kriminalroman aus der Feder von Guillermo Martínez vollends überzeugen und begeistern können. “Der Fall Alice im Wunderland” ist erstmals im Jahr 2019 erschienen, im Gegensatz zum Vorgängerband, der bereits 2003 publiziert wurde. Man merkt, dass sich der Autor in dieser Zeit literarisch extrem weiterentwickelt hat.
Die Handlung des Romans ist im Jahr 1994 angesiedelt. Für den Ich-Erzähler, der mit seinem Autor den Anfangsbuchstaben des Vornamens (G.) teilt, beginnt sein zweites Studienjahr in Oxford. Nachdem er und Logik-Professor Seldom im vorigen Jahr die "Oxford-Morde" lösten, sollte es für den Doktoranden nun etwas ruhiger zugehen. Seldom aber nimmt den Argentinier mit zu einer Sitzung der Lewis-Carroll-Bruderschaft, einem Verein von Wissenschaftlern, die sich der Erforschung von Leben und Werk des Erfinders von "Alice im Wunderland" verschrieben haben. Eine junge Doktorandin soll eine Entdeckung gemacht haben, die die Tagebücher Lewis Carrolls betrifft, die sie bei der Sitzung vorstellen möchte. Leider kommt es nicht dazu und der der Bruderschaft angehörende Seldom und sein Austauschstudent müssen mal wieder kriminalistisch denken, um einem tödlichen Rätsel auf die Spur zu kommen.
Mir ging es wie dem namenlosen Ich-Erzähler: Ich wusste kaum etwas über die Biographie von Lewis Carroll, schon gar nicht, dass er Mathematiker in Oxford war und eigentlich Charles Lutwidge Dodgson hieß. Umso mehr überrascht haben mich die ganzen Fakten und Enthüllungen, die im Roman über ihn gemacht werden. Martínez hält sich wohl an die tatsächlichen Forschungsergebnisse, die über Carroll existieren bzw. an Debatten über gewisse Vorlieben des viktorianischen Schriftstellers, die umstritten sind. Fiktiv ist die Bruderschaft und ihre Mitglieder, auch Oxford ist keine 1:1-Abbildung der realen Universitätsstadt, wie der Autor im Nachwort schreibt.
Wir haben es mit einem klassischen Krimi à la Arthur Conan Doyle zu tun. Seldom gelangt mithilfe seiner intellektuellen Betätigung (als Professor für Logik/Mathematik) zu Schlüssen, von denen ihn einer zur Aufklärung der rätselhaften Mordserie führt. Unterstützt von seinem Doktoranden G., der ihm assistiert und ihm gelegentlich die notwendigen Denkanstöße verleiht, bzw. ihm manchmal sogar einen gedanklichen Schritt voraus ist. Das Paar erinnert schon etwas an das berühmteste Ermittlerpaar der Krimiliteratur: Sherlock Holmes und Dr. Watson. Petersen, der eigentliche Kriminalpolizist, ist mal wieder der, der bei der Aufklärung des Verbrechens den Kürzeren zieht und staunend mit ansehen darf, wie die Mathematiker den komplexen Fall lösen - ganz wie Inspector Lestrade bei Conan Doyle. Im Gegensatz zum ersten Band ist, wie in einem Agatha-Christie-Krimi, ein geschlossener Personenkreis beteiligt, aus dem jeder der Täter sein könnte. Das macht diesmal besonders Spaß, zumal die “Verdächtigen” alle verschrobene Wissenschaftler (leider wird nicht bei allen klar, aus welcher Disziplin sie stammen) sind, die alle Bücher über Lewis-Carroll geschrieben haben und sich locker den “Fall Alice im Wunderland” ausgedacht haben könnten.
Ich liebe Krimis, die sich mit verschollenen Dokumenten, dunklen Geheimnissen und literarischen Vorlagen befassen. “Der Fall Alice im Wunderland” hat mich in dieser Hinsicht komplett überzeugt, denn hier strotz alles vor Metafiktionalität und literarischen Referenzen.
Das Buch ist wunderbar geplotted worden und viel gefälliger geschrieben als der erste Teil, der mathematisch und philosophisch "abgehobener" daherkommt.
Fazit: Ein wunderbar konstruierter literarischer Metakrimi, der den Leser auf viele spannende Irrwege “ins Wunderland” führt und gleichzeitig wunderbar unterhält.
Herzlichen Dank an die bloggerjury bzw. den Eichborn Verlag für das Rezensionsexemplar!
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Montag, 22. Juni 2020
"Unter den Linden 6" von Ann-Sophie Kaiser
Humboldt’sche Ideale
Die Berliner Alma Mater, die wir heute unter dem Namen Humboldt-Universität kennen, hieß Anfang des 20. Jahrhunderts noch Friedrich-Wilhelms-Universität "Unter den Linden". Zu dieser Zeit spielt der Debütroman von Ann-Sophie Kaiser "Unter den Linden 6" (die heutige Adresse der Universität). Die Autorin verknüpft in ihrem Roman die Schicksale dreier Frauen, die für ihr Menschenrecht auf Bildung hart kämpfen müssen. Dabei wählt sie für ihre Darstellung eine historische Figur aus, die Physikerin Lise Meitner (1878-1968) und zwei fiktive Frauen: Hedwig (eine privilegierte Tochter eines Industriellen und später Studentin) und Anni (ein Dienstmädchen, das nach Bildung und Wissen strebt). Alle drei Hauptfiguren, aus deren Sicht abwechselnd erzählt wird, werden von fiktiven und historischen (Otto Hahn, Max Planck, etc.) Nebenfiguren flankiert - eine gängige Praxis in historischen Romanen.
Die erzählte Zeit umfasst die Jahre 1907 bis 1915. Es sind Jahre des Aufbruchs für die deutschen Frauen - im Laufe dieser Jahre dürfen sie sich erstmals als Studentinnen immatrikulieren (davor war nur Gasthörerschaft mit Ausnahmeregelung erlaubt), Studentinnenverbindungen gründen und wissenschaftliche Stellen an den Unis anstreben. Trotz allem werden ihnen von vielen rückständig denkenden Männern nach wie vor Steine in den Weg gelegt, ihre wissenschaftliche Arbeit weniger anerkannt. Frau sein war ein Handicap in der Wissenschaft (und ist es leider oft noch heutzutage). Von all diesen Entwicklungen erzählt die Autorin in ihrem gut zu lesenden historischen Roman.
Die Geschichte von Lise (Meitner) war für mich mit Abstand die spannendste. Immerhin hat sie bahnbrechende Erfolge auf ihrem Forschungsgebiet zu verzeichnen und war die erste deutsche Professorin. Auch kommt sie im Roman sehr sympathisch, zurückhaltend und freundlich rüber. Leider wurden ihre Erfolge nicht so anerkannt, wie die ihrer männlichen Kollegen.
Hedwig war mir als Figur weniger sympathisch, ich kann gar nicht sagen, woran es genau liegt. Sie ist kämpferisch, ehrgeizig und hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, aber irgendwie hat sie mich nicht so mitreißen und überzeugen können als literarische Figur.
Bei Anni hätte ich mir gerne mehr Auseinandersetzung mit der Lektüre gewünscht. Es wird zwar gesagt, dass sie gerne Romane liest und in ihrer Geschichte werden auch zeitgenössische Autoren genannt (Thomas Mann, Alfred Döblin, Hermann Hesse, etc.), aber so richtig lesen bzw. über das Gelesene reflektieren sehen wir sie nicht. Während die Studieninhalte von Lise (Physik) und Helene (Geschichte) auch inhaltlich im Roman zum Tragen kommen, wird Annis Leidenschaft für die Literatur nur oberflächlich vermittelt. Das fand ich etwas schade.
Nichtsdestotrotz hat Ann-Sophie Kaiser hier einen sehr lesenswerten Roman mit einem wichtigen Thema geschrieben. Die Geschichte weiblicher Bildung und die erstmalige Öffnung der Universitäten für Frauen zum Inhalt eines belletristischen Werkes zu machen, ist aller Ehren wert. Ein gut recherchierter historischer Debütroman, mit ganz kleinen Abzügen in der B-Note. Das ausführliche Nachwort der Autorin ist ebenfalls sehr informativ.
Herzlichen Dank an den Ullstein Verlag sowie netgalley für das Rezensionsexemplar!
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Donnerstag, 18. Juni 2020
"Fräulein Gold. Schatten und Licht" von Anne Stern
Sozialkritischer Histo-Krimi mit Berliner Schnauze
Historische Hebammenromane gibt es ja zuhauf, ist doch die Hebamme eine archetypische weibliche Figur in der Literatur: Der erste Mensch, mit dem ein neuer Mensch Kontakt hat - die “Auf-die-Welt-Holerin” schlechthin. Muss man also unbedingt den “zigten” Hebammenroman lesen, gar noch eine Reihe? Man muss nicht, aber wenn man “Fräulein Gold” nicht gelesen hat, entgeht einem zumindest sehr viel historisches Berliner Flair der 1920er Jahre.
Der Roman spielt im Frühsommer des Jahres 1922 in Berlin. Der Krieg ist seit wenigen Jahren vorbei, aber seine Verletzungen sind überall sichtbar. Viele Menschen leben in Armut in der jungen Republik, sind physisch oder psychisch versehrt. Das rigide Moralkonstrukt des Wilhelminischen Kaiserreichs lebt noch in vielen Köpfen weiter. Dass Schwangerschaft und Geburt als natürliche Vorgänge behandelt werden, dafür kämpft die junge, fortschrittlich denkende Hebamme Hulda Gold. Als ledige Frau von 26 Jahren wird sie von der Gesellschaft bereits als "spätes Mädchen" abgestempelt. Ihre Beziehung zum Cafébesitzer Felix Winter ging vor Jahren in die Brüche. Seitdem schlägt sie sich als “Fräulein” alleine durch, denn auch ihre Familie ist quasi nicht mehr vorhanden.
Hulda ist eine vielschichtige, sympathische Protagonistin mit viel Potenzial und einigen Ecken und Kanten. Sie ist empathisch, hat aber auch eine schwierige Vergangenheit und einen ungefestigten Charakter. Ich kann mir sehr gut vorstellen, ihre Geschichte, die als Trilogie angelegt ist, noch über zwei weitere Bände zu verfolgen. Ihr Gegenpart, Kommissar Karl North, ist ebenfalls kein eindimensionaler Charakter. Er ist ein sehr verletzlicher Mensch, der sich durch eigene Kraft aus einer niedrigen Herkunft heraus eine Beamtenexistenz aufgebaut hat.
Auch die anderen Figuren sind sehr schön ausgearbeitet worden. Wir bekommen sogar die Sicht von "Nebenfiguren" wie der Hausmeisterin, der Pensionswirtin, etc., präsentiert, was dem erzählerischen Konstrukt zusätzliches Leben einhaucht.
Die Autorin ist sehr gut darin, Zwischentöne durch ihre dichte, atmosphärische Prosa lebendig werden zu lassen. Für mich wirkt der Roman manchmal wie eine historische Milieustudie: Die Berliner Welt der "einfachen Leute" wird überaus anschaulich beschrieben und auch die gesellschaftlichen Randbereiche dieser Welt der Ottonormalbürger (Nervenheilanstalt, Künstler und Nachtleben, Prostituierte, Straßenkinder, kriminelle Unterwelt, etc.) werden aufgefangen.
Mir persönlich waren es inhaltlich dann aber doch etwas zu viel Düsternis und eine Anhäufung von schlimmen, tragischen Schicksalen. Hin und wieder hätte ich mir ein wenig mehr Leichtigkeit gewünscht. Fast jede handelnde Figur hat eine tragische Vergangenheit im Gepäck, fast alle kommen aus dysfunktionalen Familien. Selbst der Zeitungsverkäufer, der alles etwas aufzulockern schien, kommt später mit einer weniger schönen Story um die Ecke. Ich sehe schon den Sinn dahinter, die Autorin will sozialkritisch das Elend der kleinen Leute damals spürbar machen, aber heutzutage muss man fast schon eine “Triggerwarnung” an dieses Buch heften. Mit Not und Elend wird nicht gespart und Themen wie Suizid, Euthanasie, psychische Krankheiten, Missbrauch, Abtreibung, etc., sind so geballt wie hier für manche Leser in einem Unterhaltungsroman sicher nur schwer zu ertragen.
Meine Kritik an der Krimihandlung ist, dass sie stark von Zufällen bestimmt wird. Hulda ist immer genau dort, wo ihr Informationen zugeführt werden, die zur Aufklärung des Verbrechens führen. Natürlich gelangt sie auch durch Eigeninitiative an Infos, aber die Zufälle sind doch in der Überzahl. Hier ist Berlin dann tatsächlich ein sehr kleines Dorf.
Was mir sehr gefallen hat, ist, dass Huldas Kiez erzählerisch sehr schön “abgegangen” wird. Durch die Karte in der vorderen Klappe können wir als Leser ihren Radius mitverfolgen und die Topographie Berlins besser kennenlernen.
Trotz der vielen düsteren Stellen habe ich den Roman insgesamt sehr gerne gelesen. Er ist ein stimmiger, atmosphärischer Auftakt zu einer historischen Krimi-Trilogie.
Fun fact: Ich habe schon lange (wenn überhaupt) keinen Roman mehr gelesen, in dem so viel geraucht wird wie in diesem hier.
Herzlichen Dank an den Rowohlt Verlag sowie vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!
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Dienstag, 16. Juni 2020
"Die Oxford-Morde" von Guillermo Martínez
Enigmatisch, empirisch, elitär
Da ich Universitätsromane sehr mag und auch klassische Krimis, hat "Die Oxford-Morde" mein Interesse geweckt. Der Kriminalroman erschien im Original bereits im Jahr 2003 und 2006 auch als Übersetzung im Eichborn-Verlag unter dem Titel "Die Pythagoras-Morde". 2008 wurde er als "Die Oxford-Morde" für Hollywood verfilmt. Er stammt von Guillermo Martínez, einem argentinischen Mathematiker, der in Oxford studierte und ist damit zum Teil autobiographischen Einflüssen geschuldet. Im Roman geht es eben auch um einen jungen argentinischen Mathematikstudenten (der namenlose Ich-Erzähler), der für einige Zeit nach Oxford geht. Die Handlung und die Morde, die passieren, sind rein fiktiv.
Der Roman ist ein typischer Vertreter des Genres Universitätsroman, engl. "campus novel", denn er spielt in der bekanntesten Universitätsstadt der Welt: Oxford. Es geht um Wissenschaft - hier ist es hauptsächlich die Mathematik - und die beiden Hauptfiguren sind dementsprechend ein Professor und ein Doktorand, wir bekommen aber auch Einblicke ins nicht-akademische Milieu der Stadt. Der echte ermittelnde Polizist Petersen ist eher eine Nebenfigur, der die Denkweise von Oxfords geistiger Elite eher kurios anmutet. Seldom und der Doktorand sind sozusagen wissenschaftliche Berater der Polizei.
Die renommierte englische "Times" schrieb zum Erscheinen des Originals, dass der Krimi selbst für Leser "mit wenig Sinn für Mathematik ein Hochgenuss" sei. Ich persönlich kann jedenfalls nicht behaupten, dass ich alle wissenschaftlichen Gedankengänge der Protagonisten nachvollziehen konnte bzw. mit brennendem Interesse verfolgt habe. Theoreme und Axiome sowie abstrakte Probleme der Logik sind gedanklich einfach nicht meine Welt. Es gibt einige Stellen, an denen über solche mathematischen Gedankenspiele philosophiert wird. Oftmals liest sich der Krimi deshalb wie Auszüge aus einer eklektizistischen Überblicksvorlesung über mathematische Hypothesen. Auf ca. 200 Seiten werden viele Themen angeschnitten, aber nur eine geistige Bewegung wird etwas näher beleuchtet und die führt dann auch zum Schlüssel des Verbrechens.
Die Handlung - es passieren im Umfeld Arthur Seldoms Morde, die mit kryptischen Symbolen versehen sind - erinnert an die Robert-Langdon-Romane von Dan Brown. Wer hier allerdings einen actiongeladenen Symbolismus-Thriller erwartet, ist fehl am Platz. Eine rasante Schnitzeljagd findet nicht wirklich statt - nach jedem Mord erfolgt erstmal ein ausgiebiges "Brainstorming" des unfreiwilligen Ermittler-Duos. Sie gehen an den Fall wie an ein mathematisches Problem heran und versuchen den Mörder mit ihrer empirischen Denkweise zu überführen. Zum Ende hin schlägt die Handlung Kapriolen. Es gibt eine überraschende Wendung nach der nächsten und man fragt sich: wer ist jetzt hier der Mörder?
Ich fand diesen Roman interessant und relativ kurzweilig und kann ihn für Leser von Büchern, die im Universitätsmilieu spielen, empfehlen und auch solchen, die sich gerne mit abstrakten Denkmustern beschäftigen und klassische Krimis bevorzugen.
Fazit: Ein intellektueller Whodunit, gelegentlich etwas verkopft, aber durchaus gut konstruiert und mit einer überraschenden Auflösung.
Herzlichen Dank an die bloggerjury von Bastei Lübbe und eichborn für das Rezensionsexemplar!
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Montag, 15. Juni 2020
"Bretonische Spezialitäten" von Jean-Luc Bannalec
“Klassentreffen” der “Breizer”-Kommissare
Auch wenn ich noch nicht alle Fälle von Georges Dupin gelesen habe, so waren es doch einige und daher kenne ich die Geschichte rund um den Pariser Kommissar, der in der Bretagne lebt und arbeitet, gut.
Diesmal ermittelt Dupin wieder einmal außerhalb seines gewohnten Einsatzortes Concarneau, nämlich in und um Saint-Malo. Diese bretonische Stadt an der Smaragdküste rühmt sich für ihre Eigenständigkeit und ihre große Geschichte, die vor allem mit den Korsaren (vom König protegierte Piraten) zusammenhängt. Aber sie hat auch eine große kulinarische Tradition, was im vorliegenden Fall eine wichtige Rolle spielt.
Während Dupin eigentlich in Saint-Malo weilt, um ein inter-bretonisches Polizeiseminar zu besuchen, passiert prompt am ersten Tag seines Aufenthalts ein Mord - und das an einem öffentlichen Ort zur hellsten Tageszeit. Dupin wird indirekt Zeuge des Geschehens am Mord einer bekannten einheimischen Gastronomin - durch ihre eigene Schwester. Statt sich also in einem langweiligen Seminar berieseln zu lassen, heißt es für Dupin aktive Zusammenarbeit mit den Kommissaren aus anderen bretonischen Regionen - das “Brit-Team” wird gegründet, um den Fall aufzuklären.
Wie immer sind die Kapitel nach den Tagen der Ermittlungen gegliedert, was ich sehr angenehm finde. Es wird linear erzählt und es gibt keine Längen, Rückblenden, Perspektivwechsel oder ähnliches. Da diese erzählerischen Kapriolen in Krimis immer häufiger vorkommen, bin ich mal froh, dass es hier nicht so ist.
Der Austausch mit seinen Kollegen Nolwenn und Riwal, die ihn - diesmal nur telefonisch - über bretonische Eigenartigen briefen, ist immer wieder herrlich. Riwal, der ein “Säugetierproblem” hat, kann sein ausgeprägtes Fakten- und Geschichtswissen anwenden und Nolwenn warnt ihn vor den gefährlichen Eigenheiten der eigensinnigen “Malouiniser”.
Wie immer lernen wir auch in diesem Band ganz viel über die Bretagne, ihre kulinarischen und geografischen Eigenschaften und Besonderheiten. Bannalec schafft es, uns die Gegend rund um die Smaragdküste so schmackhaft zu machen, dass man sofort seinen Urlaub in der Bretagne buchen möchte.
Die Krimi-Handlung ist sehr spannend und das obwohl wir die Täterin des ersten Mordes ja von Anfang an kennen und Dupin mit seinen Kollegen anfangs ja quasi nur Motivsuche betreibt. Es macht einfach Spaß, dem “Brit-Team” bei seinen Ermittlungen zuzusehen.
Rundherum ein echter Sommerkrimi-Genuss!
Herzlichen Dank an Kiepenheuer&Witsch sowie netgalley für das Rezensionsexemplar!
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Samstag, 13. Juni 2020
"Das Buch der gelöschten Wörter. Der erste Federstrich" von Mary E. Garner
Wohlfühl-Fantasy für Literaturliebhaber
Lange habe ich keine Fantasy gelesen. Mich hat einfach kaum etwas aus diesem Genre angesprochen in letzter Zeit. Das Buch von Mary E. Garner hat mich aus meiner Fantasy-Leseflaute aber definitiv herausgeholt!
Zugegeben, die Fantasy-Idee, via Portale in die Klassiker der Weltliteratur einzudringen, ist keine neue. Wer zum Beispiel die “Thursday-Next-Romane von Jasper Fforde gelesen hat, weiß wovon ich rede. Nun hat sich auch die deutsche Autorin Mirjam Müntefering unter dem Pseudonym Mary E. Garner an diese Storyline herangewagt und eine Fantasy-Triologie vorgelegt, deren erster Band "Das Buch der gelöschten Wörter - Der erste Federstrich" ist.
Für alle LiebhaberInnen ist es eine mehr als verlockende Vorstellung, in die fiktive Welt eines Buches einzudringen und die berühmten Protagonisten und Figuren dieser Werke persönlich kennenzulernen. Wer möchte nicht mal ein Pläuschchen mit Hamlet über den Sinn des Lebens halten oder den “echten” Mr. Darcy aus “Stolz und Vorurteil” kennenlernen? Auch der Protagonistin aus Mary E. Garners Trilogie, Hope Turner, haben es die Romane von Jane Austen und besonders der letztgenannte angetan. Dass sie aber tatsächlich einmal durch die Gärten und Räume des berühmten Herrenhauses wandeln wird, hätte sich die 42-jährige Angestellte einer Londoner Online-Dating-Agentur in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können... Mehr möchte ich über die Handlung gar nicht verraten - sie ist hochkomplex und das Fantasy-Gerüst, dass sich Mary E. Garner ausgedacht hat, steckt voller Metafiktion und literarischer Anspielungen. Es regt dazu an, sich die genannten Klassiker selbst einmal wieder zu Gemüte zu führen - oder sie sogar zum ersten Mal zur Hand zu nehmen. Allein aufgrund der Belesenheit und des Einfallsreichtums der Autorin, habe ich dieses Buch sehr genossen. Der augenzwinkernde Humor, den die Autorin bei der Vorstellung der literarischen Figuren an den Tag legt, ist einfach toll. Auch wenn die Handlung im ersten Band nur langsam Fahrt aufnimmt, ist es ein großes Vergnügen, zusammen mit Hope Turner die Buchwelt und ihre Möglichkeiten zu erforschen. Die Figuren werden eingeführt und am Ende wird die Welt, die sich der Leser langsam erschlossen hat, wieder aus den Fugen geworfen. Dieser Cliffhanger ist so aufregend, dass ich sehr froh bin, dass der zweite Band schon fertig geschrieben wurde und bereits Ende Juni erscheint. Sonst wäre es wirklich eine lange “Lesefolter”, die man da durchstehen müsste.
Ein paar Fehler sind durchs Lektorat gerutscht: So werden die Figuren aus Theaterstücken im Buch regelmäßig "Dramafiguren" genannt, obwohl der korrekte Plural "Dramenfiguren" lautet. Auch die "Tweethosen" (erstmals S. 227) sind mir negativ aufgefallen, es sei denn sie rühren nicht von einem Stoff namens "Tweed" her, sondern von einem Internet-Kurznachrichtendienst. Aber: wir alle machen Fehler, von daher: für die nächste Auflage sollte man vielleicht etwas genauer hinschauen.
Alles in allem ist dieser erste Teil der Fantasy-Trilogie von Mary E. Garner ein großes Lesevergnügen für alle, die gerne in literarische Welten eintauchen und die Weltliteratur und ihre Figuren und Settings auch mal aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachten möchten.
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Sonntag, 7. Juni 2020
"Hamish Macbeth hat ein Date mit dem Tod" von M. C. Beaton
Das beste an diesem Buch ist das Cover
Mir ist bewusst, dass dieser Cosy-Krimi hier absolut “vintage” ist. Er erschien bereits 1993 unter dem Titel “Death of a Greedy Woman”. Zeitgenössisch ist der Fakt, dass es hier um eine Partneragentur für Gutsituierte geht - Anfang der 1990er gab es noch kein Internetdating und weitreichende Partnersuche lief noch über Zeitungsinserate und eben solche Agenturen ab. Der Anfang klang auch durchaus vielversprechend. Das Herrenhaus von Priscillas Vater - des Dorfpolizisten Hamish Macbeths “Love Interest”, also Priscilla, nicht der Vater - ist zum Zeitpunkt der Handlung ein Hotel und soll eine Partneragentur aus London mit ihrer Chefin Maria Worth (“blaublütig und tweedbetont”) für ein Wochenende beherbergen. Als Gäste der Agentur sind acht “hochkarätige Singles mit Niveau” (vier Männer, vier Frauen) geladen, die sich gerne verlieben, verloben und wenn es geht natürlich verheiraten möchten. Zum Leidwesen von Maria taucht am ersten Tag die Teilhaberin der Agentur, Peta Gore, auf, die sie am liebsten nur auf dem Papier und nicht im echten Leben sehen würde. Im Gegenteil, sie möchte sie aus der Firma rauswerfen und sie ausbezahlen, aber Peta denkt nicht daran: sie will auch einen Mann, wozu ist man schließlich Teilhaberin einer Partneragentur? Leider ist die Frau alles andere als ansprechend und liebenswert: sie frisst statt zu essen - und das im ganz großen Stil. Auch sonst läuft Marias “Matchmaking” nicht nach Plan: die Pärchen, die sie füreinander ausgesucht hatte, suchen sich andere PartnerInnen, Petas attraktive Nichte funkt dazwischen und das Unheil nimmt seinen Lauf…
Mir ist durchaus klar, dass ich bei M.C. Beaton keinen anspruchsvollen und mega spannenden Ermittlerkrimi erwarten kann, aber was sie hier gemacht hat, erschließt sich mir leider überhaupt nicht. Das Buch wirkt wie am Reißbrett entworfen und ist um einiges grotesker, als ich es von dieser Autorin, die für ihre überzeichneten Figuren durchaus bekannt ist, gewohnt bin - und das will was heißen! Dass meistens alle Verdächtigen einen absoluten Hass auf das Mordopfer hegen und es gerne los wären, ist auch in anderen M.C.Beaton-Krimis so. Aber hier wird es sowas von auf die Spitze getrieben. Die Handlung besteht fast nur aus Mobbing-Allianzen gegen die verfressene Peta. Das Thema “Singles auf Partnersuche” ist nur ein kaum ausgearbeitetes erzählerisches Konstrukt, im Mittelpunkt steht Peta und ihr hemmungsloses Verhalten.
Außerdem agiert ihr ansonsten immer recht angenehmer Ermittler, Dorfpolizist Hamish, überhaupt nicht wie sonst in manchen Situationen. Er entwickelt Sympathien für Verdächtige, die total fehl am Platz sind und auch sonst ist er mir in diesem Buch gar nicht geheuer (Ich beziehe mich vor allem auf die Szene mit dem Koch). Dazu kommt, dass die Erklärung für den Mord, die Tat an sich und das Motiv des Täters einfach unglaubwürdig, grotesk und lächerlich sind - selbst für einen Cosy-Krimi, der Anfang der 1990er geschrieben wurde. Die Tat wird außerdem so früh aufgeklärt, dass der geneigte Leser noch auf eine spannende Wendung hofft, die es in diesem Krimi leider nicht gibt. Stattdessen gibt es am Ende nur noch Geplänkel, Geplauder und gähnende, sinnfreie Leere.
Zwei Sterne, weil ich das Cover witzig finde und die Zitate berühmter Schriftsteller an den Kapitelanfängen mag.
Das Buch durfte ich im Rahmen einer Lesejury-Leserunde (Bastei Lübbe) vorab lesen. Herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar.
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Mittwoch, 3. Juni 2020
"Mord in Sunset Hall" von Leonie Swann
Leonie Swann ist Expertin für Krimis, die aus der Tierperspektive ein Verbrechen beleuchten. Ob Schafe, Papageien oder Flöhe - sie versteht was von ihrem Metier. Diesmal ist als tierische "Ermittlerin" eine Schildkröte mit von der Partie - allerdings nur als Sidekick bzw. erzählerisches Maskottchen. Ein Tier-Krimi im eigentlichen Sinne ist “Mord in Sunset Hall” also nicht.
Hettie, die Schildkröte, ist immer genau da, wo die "Großfüße" - ihrem gemächlichen Schildkrötentempo durchaus angepasst - schalten und walten. Diese großen Füße gehören den Seniorinnen und Senioren aus dem Umfeld von "Sunset Hall" und dem angrenzenden Dorf "Ducks End".
Die Ü-70erin Agnes hat ihr großes Landhaus "Sunset Hall" zur Senioren-WG umfunktioniert.
Anstatt alleine oder in einem Heim vor sich hin zu leben, teilt sie sich ihr Anwesen mit anderen gleichaltrigen Damen (der Yogafreundin Edwina, der blinden Bernadette und der Gartenliebhaberin Lilith) - ganz “Golden-Girls”-mäßig, nur eben in England und mit männlichen Mitbewohnern (Winston & der Marshall). Als plötzlich eine ihrer Mitbewohnerinnen ermordet aufgefunden wird, steht den betagten “Sunset Hall-Bewohnern” der Sinn nicht mehr nach beschaulichem Seniorenalltag, sondern nach Mörderjagd, denn der Bekannten- und Freundeskreis von Agnes wird zunehmend dezimiert. Und dann kommt auch noch “die Neue” ins Haus, die mondäne Charlie mit ihrem Hund Brexit.
Jedes Kapitel ist nach einer kulinarischen Köstlichkeit benannt, die darin eine gewisse Rolle spielt. Auch sonst hat der Roman hat alles, was das Herz von Cosy-Crime-LiebhaberInnen höher schlagen lässt. Neben dem wundervollen Setting gespickt mit Versatzstücken aus der Lebenswelt von englischen Country-Senioren (Cremehütchen, Sherry, Kaffeetreff, 5-Uhr-Tee, Gartenpflege, "Kirchenintrigen", verabscheuungswürdige Seniorenheime, Beerdigungen und Treppenliftmonteure), wühlte die Autorin tief in der Krimi-Motivkiste und hat einiges zu Tage gefördert, was in jeden guten Spannungsroman - oder zumindest jeden zweiten - gehört: dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit, Zwillinge (evil!), illegaler Waffen- und Drogenbesitz, Identitätsverwirrung, Cold-Case-Vermisstenfälle, Entführung, und und und. Viel Witz und ein extrem trockener, zuweilen auch schwarzer Humor runden das herrliche Cosy-Krimi-Erlebnis ab.
Aber: Das Buch hat auch ernste Seiten und gegen Ende sogar Elemente eines viktorianischen Schauerromans. Leonie Swann wirft denkbar existenzielle Fragen in den Raum, die man sich gerade am Ende eines Lebens vermehrt stellt: Was habe ich tatsächlich erlebt und kann ich meinen Erinnerungen trauen? Wieviel ist Fiktion, wie viel ist bzw. war Wirklichkeit? Das ganze Leben besteht aus Geschichten, so in etwa heißt es im Text. Diese philosophische Komponente des Romans hat mir sehr gut gefallen und war für mich die Sahne auf der Kirschtorte bei der Kaffeestunde.
Herzlichen Dank an den Goldmann Verlag (via Bloggerportal Randomhouse) für das Rezensionsexemplar!
Nähere Infos zum Buch: hier
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