Donnerstag, 28. November 2024

"Wir finden Mörder" von Richard Osman


Mörderische Schnitzeljagd, mäßig spannend

"Wir finden Mörder” könnte man wohl am besten mit Begriffen aus der Filmwelt beschreiben. Der Roman ist ein Crossover aus Krimikomödie und Actionthriller, gewürzt mit ein bisschen Spionage-Vibes, wobei ein ultratrockener englischer Humor tatsächlich der rote Faden ist, der das Konglomerat zusammenhält. Wer also keine witzigen Krimis mag, der ist bei Osman definitiv fehl am Platz. Ich persönlich kenne seine “Donnerstagmordclub”-Cosy Crime-Romane nicht, dies war meine erste Begegnung mit dem Autor.

Wir begeben uns mit diesem Buch auf eine mörderische Schnitzeljagd rund um den Erdball. Es gab einige Morde an Influencer:innen auf der ganzen Welt, die bei einer mysteriösen britischen Agentur unter Vertrag waren - und auf Protagonistin Amy, ihres Zeichens Bodyguard, hat es ein Auftragskiller abgesehen. 

Die Figurenkonstellation fand ich mit das Beste an dem Buch - also der ehemalige britische Cop Steve Wheeler, der seiner Schwiegertochter Amy bei der Mörderjagd hilft. Im Schlepptau noch eine Ex-Britin und weltberühmte Schriftstellerin namens Rosie d'Antonio, die für den Glamourfaktor zuständig ist. Während Amy als die toughe “Hau-druff-Frau” mit der schrecklichen Kindheit als Protagonistin wenig greifbar bleibt, ist das mit Steve eine andere Geschichte. Er ist mit Abstand der Sympathieträger in “Wir finden Mörder”. Steve hat dem Londoner Trubel seiner Berufszeiten Adieu gesagt und lebt ein beschauliches Leben im idyllischen Dörfchen Astley in Hampshire. Leider ist seine Frau Debbie vor kurzem verstorben, weswegen ihn eine gewisse Melancholie umgibt. Zum Glück gibt es seinen Kater Trouble, das Pubquiz, seine Freunde, kleinere Detetektivjobs - z.B. das Wiederauffinden verlorener Tiere - sowie die täglichen Telefonate mit Amy, die wie sein Sohn Adam in der Welt herumjettet.

Was den Humor betrifft: Ja, typisch britisch und trocken, wie gesagt, teilweise Richtung Slapstick gehend. Die oft absurden Dialoge haben mich manchmal an Agentenfilm-Parodien wie “Pink Panther” erinnert. Ein Beispiel: “‘Du bist nicht zufällig ein Auftragskiller?’ ‘Mit meiner Arthritis?’” (S. 314) Obwohl der Roman in der Jetztzeit spielt (ca. 2023), haben viele Settings einen 60er-oder 80erJahre-Flair, vor allem dank der exzentrischen Schriftstellerin und Grande Dame Rosie di Antonio. Auch kommt man sich aufgrund der schwerreichen und skrupellosen Geldwäscher (ein astreiner Bösewicht) und Multimillionäre sowie der Jagd um den Erdball mit elitären Privatjets, mit einer Prise “Good Old England” als Kontrastprogramm, vor, wie in einem “James Bond”-Film.

Ein großes Problem des Buches ist mal wieder die Länge. Mit 420 Seiten zwar noch gerade so im Rahmen für einen Krimi, wäre nicht die Spannung mit zunehmender Länge auf der Strecke geblieben. Die Anzahl der Kapitel ist mit 101 auch überdurchschnittlich hoch - die Szenerien, Perspektiven und das Personal wechseln rasend schnell. Viele Namen und Decknamen muss man sich hier merken. Ich hätte mir etwas mehr Plot über die Influencer-Szene gewünscht, das wird aber nur anhand einer Person etwas näher beleuchtet. Stattdessen geht es eben viel um Multimillionäre, Geldwäscher und Personenschützer:innen.

Ein Krimi, der ganz okay ist, der sich für mich aber nur aufgrund der liebenswerten Szenerie rund um Steve (ich sage nur Parkbank) zu lesen gelohnt hat. Ich glaube eher nicht, dass ich die Reihe weiterlesen werde.

Herzlichen Dank an Vorablesen und Ullstein für das Rezensionsexemplar!


Dienstag, 26. November 2024

"Wandern bei Nacht" von John Lewis-Stempel

Die Schönheit der Nacht wiederentdecken

“...rings um uns herum hatte die Erde sich aufgetan und silberne Kaninchen hervorgebracht, die ihre Gesichter in Mondtau wuschen. Ich hätte sie berühren können. Der Farn hatte funktioniert. Ich war unsichtbar.” (John Lewis-Stempel “Wandern bei Nacht”, Aus dem Englischen von Sofia Blind, Dumont Verlag, S. 65)

Andere machen Yoga oder meditieren, um sich zu erden und runter zu kommen. Ich lese zu diesem Zweck ganz einfach die Bücher von John Lewis-Stempel, vor allem, wenn ich gerade keine Zeit und Muße habe, selbst in die Natur zu gehen - oder, wenn es Nacht ist. Denn wie Lewis-Stempel sagt: “Nachts sind die normalen Regeln der Natur außer Kraft. [...] Die Tiere rechnen nicht damit, dass wir Menschen im Dunkeln draußen sind; das ist ihre Zeit, und die Welt gehört noch ganz ihnen.” (S. 14) Nur die Wenigsten wagen sich im Dunkel nach draußen, vor allem nicht auf dem Land, wo die wirklich wahre Dunkelheit herrscht. Denn wir modernen Menschen “haben die Nacht verbannt, schon vor langer Zeit.” (S. 16)

Lewis-Stempel nimmt uns mit auf vier Nachtspaziergänge, die er in seiner heimatlichen englischen Grafschaft Herefordshire unternommen hat. Viermal Nachterlebnisse in vier Lebensräumen (Wald, Fluss, Hügel, Feld) zu allen vier Jahreszeiten. Alles in Begleitung seines Hundes Edith, denn: “ein Mann, der nachts alleine herumläuft, wird als Krimineller betrachtet. Es sei denn, er führt seinen Hund aus.” (S. 18) Ich mag den sehr feinen Humor von Lewis-Stempel und ich mag seine wunderschöne Prosa, von der sich manche Literat:innen eine Scheibe abschneiden können. Ich könnte euch jetzt seitenweise Zitate hier einfügen, um dies zu belegen und muss mich sehr zurückhalten, diese Rezension nicht nur aus Zitaten bestehen zu lassen. Habe ich schon die “Nachtnotizen” erwähnt, die sich an die Schilderungen der Spaziergänge anschließen? Eine Art Tagebuch Lewis-Stempels, in dem er die nächtlichen Beobachtungen zur jeweiligen Jahreszeit festhält. Die Begegnungen mit verschiedenen Tieren (Fledermaus, Fuchs, Eule, bellende Rehe, Igel, etc.) und Gedanken zur nächtlichen Fauna und zum Wetter. Der Autor ist auch Landwirt, was im Buch immer wieder eine Rolle spielt. Wir begleiten ihn also durchaus auch, wenn er um fünf Uhr früh aufsteht, um seine Kühe zum Tuberkulosetest von der Weide zu holen. Wer sich also für den Alltag eines Landwirts interessiert, sollte das Buch auch lesen.

“Wandern bei Nacht” ist ein “Wohlfühlsachbuch” zum Schwelgen und Schwärmen. Durch die poetischen Worte des Autors werden wir Zeug*innen ganz wundersamer Naturschauspiele - ob es der “Mondbogen” (ein nächtlicher Regenbogen) im Winter ist, das “Irrlicht”/”Elfenfeuer” im Frühling oder “foxfire”, das Leuchten mancher Pilzarten in der Finsternis einer Herbstnacht. Typisch für das Schreiben Lewis-Stempels ist die Untermalung seiner Prosa mit Auszügen aus Gedichten berühmter Schriftsteller:innen. Das macht das Ganze fast mehr zu einem literarischen Gesamtkunstwerk als zu einem Sachbuch. Aber auch den “Faktenfreund:innen” wird der Autor mehr als gerecht. Neben dem Faktenwissen im Fließtext gibt es ein ausführliches “Glossar für Nachtwanderungen”, ein Quellenverzeichnis und im Epilog interessante Fakten zum Thema “Lichtverschmutzung” - für die Tiere ist diese leider eine zunehmend große Bedrohung. Dass es auch in Deutschland sogenannte “Lichtschutzgebiete” gibt, war mir z.B. völlig neu.

Lewis-Stempel öffnet mit seinen Büchern unseren Blick für die Schönheit und Magie der Natur. Anhand seiner Nachtwanderungen versetzt er uns in eine Welt, die uns modernen Menschen scheinbar verschlossen scheint. Möglicherweise wird die ein oder andere lesende Person nun selbst dazu animiert, auf eine ganz besondere eigene Entdeckungsreise im Dunkeln zu gehen.

Wunderschön, zum “immer-wieder-Lesen” und perfekt als Geschenk geeignet, auch für Menschen, die scheinbar schon alles besitzen. Alle Sterne des Nachthimmels für dieses Buch!

Herzlichen Dank an Dumont für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch: hier




Donnerstag, 21. November 2024

"Umlaufbahnen" von Samantha Harvey


Entzieht sich einer finalen Einordnung 

“Aber es gibt keine neuen Gedanken. Nur alte, die in neue Momente hineingeboren werden - und in diesen Momenten lautet der Gedanke: Ohne die Erde sind wir alle erledigt. Nicht eine Sekunde würden wir ohne ihre Gnade überleben, wir sind Seefahrer auf dunkler, gefährlicher See, ohne unser Schiff würden wir ertrinken.” (S. 19)

“Orbital” (dt. “Umlaufbahnen) hat dieses Jahr den Booker Prize gewonnen. Durch englischsprachige Booktuber hatte ich den Roman bereits seit dem Frühjahr 2024 auf dem Schirm, wobei durchaus gemischte Reaktionen zu verzeichnen waren. Der Gewinn kam auch für Samantha Harvey laut eigener Aussage überraschend, war doch “James” von Percival Everett der am wahrscheinlichsten gehandelte Gewinner. Warum also “Umlaufbahnen” (aus dem Englischen von Julia Wolf bei @dtv)? Ein handlungsarmer, kurzer Roman über vier Astronaut:innen und zwei Kosmonauten auf einer Mondmission, die sich selbst und den “Blauen Planeten" von außen reflektieren. 

Der eingangs zitierte Satz zeigt schon, dass das Buch für zwei Arten von Lesenden nicht geneigt ist: Für solche, die kein prosaisches Pathos und metaphorische Verkünstelungen mögen und für solche, die Action sprich Handlung in einem Roman brauchen, um ihn genießen zu können. Ich bin eine sehr sprachaffine Leserin, weshalb mich Harvey stellenweise überzeugen konnte. Dennoch: Will ich als Lesende dauernd darauf hingewiesen werden, dass das Leben kurz und ein ganz schönes Nichts angesichts der unendlichen Weiten des Alls und der Ewigkeit ist. Hm, nicht unbedingt. Trotz der schönen Prosa und eindrücklichen Sinnbildlichkeit hat mich die Lektüre leider etwas runtergezogen. 

Dazu kommt der problematische politische Aspekt, der einigen Rezensent:innen sauer aufgeschlossen ist, nämlich die Russland-Problematik. Manche unterstellen Harvey Sympathien für das Putin-Regime, weil hier zwei russische Kosmonauten positiv dargestellt werden, die sich nach ihrer Heimat sehen - und die Ukraine mit keinem Wort erwähnt wird. Ja, schwierig - aber muss man Literatur immer politisch deuten, zumal in einem Roman, in dem es um die Menschheit geht, von einem ganz universellen Standpunkt aus? Es ist einfach ein Fakt, dass Russland eine der beiden großen Raumfahrtnationen ist. Gibt es überhaupt noch sowas wie “l'art pour l'art” und darf man nach dem 24.2.2022 als außenstehende Person - Samantha Harvey ist Engländerin - überhaupt noch etwas über russische Menschen schreiben? Im Roman wird der Konflikt zwischen den russischen Kosmonauten und den amerikanischen, japanischen und europäischen Astronaut:innen ad absurdum geführt, weil es zwischen den Raumfahrenden keine Grenzen und politischen Konflikte gibt, sie ihnen aber z.B. durch getrennte Toiletten von den unterschiedlichen Raumfahrtbehörden aufoktroyiert wurden. “Wenn doch Politik wirklich nur Pantomime wäre”, heißt es an einer Stelle im Roman. Ist dies also ein unpolitisches Manifest und völlig absurd, dass manche der Autorin Gegenteiliges unterstellen?

Die Heimatstädte der sechs Raumfahrenden - Seattle, Osaka, London, Bologna, Moskau und St. Petersburg - sind aus dem All betrachtet plötzlich alle in weite Ferne gerückt. Die geografischen Beschreibungen sind kenntnisreich und interessant, fühlen sich aber oftmals nach “erzählendem Sachbuch” an. Sicherlich lernt man einiges über die alltäglichen Vorgänge im Weltall, ansonsten besteht die Handlung lediglich aus den Reflexionen der Autorin und den Gedanken der sechs Personen im All.

Das Buch ist sehr philosophisch und “deep”, wie man heute sagen würde. Die Gedanken über das Gemälde “Las Meninas” von Velàquez, das Shaun von seiner Frau als Postkarte in den Weltraum mitbekommt, haben mir gut gefallen. Ansonsten war mir der philosophische Diskurs “über Gott und die Welt” ein bisschen zu viel aufgetragen, vor allem auf dem engen Raum dieses kurzen Romans. Die Gedanken an die Raumstation an sich und ihre Enge lösten bei mir öfters klaustrophobische Gefühle aus und ich fragte mich das Gleiche, was sich die Zufallsanruferin fragt: Warum das alles? Die Selbstzweifel, die die Weltraumreisenden zuweilen befallen, sind mehr als nachvollziehbar: “Warum solltest du das tun? Versuchen, an einem Ort zu leben, an dem du nie gedeihen kannst?” (S. 83) An manchen Stellen habe ich einen gewissen Nihilismus herausgelesen und Zweifel gegenüber allem menschlichen Streben. Wie hoch ist der Preis, den wir für den immer größeren Wissenserwerb zahlen?

Es ist mir nach der Lektüre unmöglich zu sagen: Dieses Buch ist gut oder schlecht. Ich kann nur sagen, ich habe mich beim Lesen oft überfordert gefühlt und auf unangenehme Weise überwältigt. Für den “Booker Prize” hätte ich es persönlich nicht ausgewählt. Zu viel Pathos und zu viel Negativität. Wenn man Depressionen hat, sollte man nicht zu diesem Buch greifen. Andererseits kann ich auch nachvollziehen, dass viele den Roman feiern. Es könnte durchaus sein dass das Buch angesichts seiner universellen Thematik die seltene Kraft hat, die nur ganz wenige literarische Werke haben: Es kann nach der Lektüre die Sicht der Lesenden auf die Welt verändern - und hier im wortwörtlichen Sinne die Sicht auf den tatsächlichen Planeten Erde. Es kann ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit unseren Mitmenschen auslösen, denn es ist an uns und uns allen allein, dass wir diesen blauen Planeten so gut es geht schützen. Kann, muss aber nicht, wie man an meiner Leseerfahrung sieht. Schwierig, schwierig.

Herzlichen Dank an dtv für das Rezensionsexemplar!

Nähere Infos zum Buch: hier

Sonntag, 17. November 2024

"Hot Mess" von Sophie White


Über Freundschaft und Metal Health

“Jenseits der dreißig ist die Chance, als Frau neue Freundinnen zu finden, in etwa so hoch wie die, einem Serienmörder zum Opfer zu fallen.” (Hot Mess, S.199)

Als unsere Eltern so um die dreißig waren - egal welcher Generation sie angehören - waren Freundschaften noch selbstverständlich. Man hatte einfach Freunde - sie gingen zu Hause ein  und aus, man hat stundenlang telefoniert und sich gegenseitig unterstützt, wenn Not am Mann (oder an der Frau) war. Heutzutage sind Freund:innen ein weiterer Punkt auf der schier endlosen Work-Life-Balance-Liste in unseren Köpfen. Freundschaften müssen “gepflegt” werden, nichts ist mehr selbstverständlich, wir müssen Zeit in sie investieren. Wir müssen sie in Whats-App-Gruppen kategorisieren und in unterschiedlichen Lebensbereichen “ablegen” wie in einem Ordner. Wenn wir nicht aktiv etwas für die Freundschaft tun, verläuft sie vielleicht im Sande, man verliert sich aus den Augen. Allein einen gemeinsamen Termin für ein Treffen zu finden, erweist sich im vollgepackten Alltag aller oftmals als schier unlösbare Herausforderung. 

In “Hot Mess”, das im Jahr 2023 in und um Dublin herum spielt (also wieder ein Irland-Roman, ich habe dieses Jahr schon viele gerne gelesen), gibt es drei weibliche Charaktere, die auf unterschiedliche Weise mit dem Thema Freundschaft kämpfen. Da wäre zum einen Claire, sie ist Nanny und hat den Verdacht, dass sie in ihrer Freudschafts-Bubble ausgegrenzt wird. Liegt es am unterschiedlichen Werdegang bzw. Bildungsstand bzw. doch an etwas ganz anderem? Als ihre Freundin Aifric (die ich anfangs immer mit Aiofe, der Freundin von Joanne verwechselt habe) sich verlobt, spitzt sich die Situation zu. Dann wäre da also Joanne. Sie ist mit Ende 20 die Erste in ihrem Freundeskreis, die ein Baby bekommt. Dumm nur dass ihre Freundinnen nur wenig Verständnis dafür haben und lieber Party machen und Drogen konsumieren. Bei ihr ist das Thema, wie Mutterschaft die Dynamik in Freundschaften verändert. Last but not least ist da noch Lexi. Sie ist eine Celebrity-Influencerin, die mit ihrer besten Freundin Amanda einen Podcast betreibt. Hier stellt sich die Frage, welchen Einfluss Berühmtheit und Geld auf Freundschaften haben. Auch eine sehr interessante Konstellation.

Allgemein wird bei allen drei Protagonistinnen thematisiert, wie sich Freundschaft im Laufe der Zeit verändert und die Frage gestellt, was Freundschaft überhaupt ist und was sie ausmacht. Ist sie nicht oft mehr mit Tragik und Komplikationen behaftet als die romantische Liebe?

Ich muss sagen, das Buch hat mich positiv überrascht. Ich habe es bis zu einem gewissen Punkt richtig gern gelesen. Der Humor war sehr nuanciert und die Situationskomik niemals überladen und sehr treffend. Ich konnte mich mit einigen Problemen der Protagonistinnen sehr identifizieren - ob es die Struggles einer jungen Mutter kurz nach der Entbindung sind (Joanne) oder das Gefühl des Außenseitertums in einem Freundeskreis (Claire). Lexi ist natürlich als Prominente von ihrer Lebenssituation eher elitär, aber auch bei ihr gab es Aspekte, die einem bekannt vorkamen oder die man zumindest nachempfinden konnte. Leider ist der Roman mit fast 600 (568) Seiten aber dann doch viel zu lang gewesen für meinen Geschmack und den Plot, der an manchen Stellen zu sehr gedehnt wurde.

Ich muss jetzt etwas spoilern, um mit der Rezension abschließend nochmal in die Tiefe gehen zu können. Eine der Protagonistinnen in diesem Buch hat eine psychische Erkrankung (Triggerwarnung). Es ist also ein Roman, der die Themen Freundschaft und Mental Health miteinander verbindet. Bei diesem Buch steht die Triggerwarnung erst ganz am Ende, sowohl in einfacher Form, als auch in Form eines sehr persönlichen Briefes der Autorin an ihre Leser:innen. Ich wünschte, ich hätte dies am Anfang gelesen, denn meine älteste Freundin hatte ebenfalls die Erkrankung, die im Roman geschildert wird. Bei ihr ist es leider nicht gut ausgegangen und ich bin so eine Freundin, die nicht helfen konnte. Allerdings wusste ich auch nichts von ihrer Erkrankung. Deswegen ist es so wichtig, darüber zu sprechen. Natürlich wird man die belastenden Gedanken daran nie wirklich los, aber es tut gut, darüber zu reden. Reden ist immer gut. Und wenn man den “Brief an meine Leser:innen” der Autorin gelesen hat, versteht man sehr gut, welche Relevanz das Thema auch für sie hat. 

Fazit: Ein unheimlich wichtiger Roman über Freundschaft und Mental Health, der nur manchmal an leichte “Chick-lit” erinnert. Übersetzt aus dem irischen Englisch von Alexandra Kranefeld. 

Herzlichen Dank an Pola Stories und Bloggerjury für das Rezensionsexemplar!


Montag, 11. November 2024

"Dino Moms" von Naomi Wood


Moderne Mütter in Ausnahmezuständen

Seien wir doch mal ehrlich: Wir Mütter stehen am Ende der gesellschaftlichen Nahrungskette. Was ziemlich paradox ist, denn Mütter sind die Basis der Gesellschaft, wenn sie ausfallen, gerät auch alles andere ins Wanken. Selbiges gilt leider auch für “arbeitende Mütter”, also solche, die neben dem (unbezahlten) Beruf des Erziehens und Betreuens der eigenen Kinder noch einem “richtigen” Beruf nachgehen, also einem, der Geld einbringt. Sie leisten schier Übermenschliches und werden doch oft in ihren beiden Lebensumfeldern als unzureichend wahrgenommen. Von der Arbeit müssen sie oft verschwinden, weil das Kind krank ist, sind nicht Teil der wichtigen Absprachen, wenn sie fehlen und zu Hause in den Krabbelgruppen sagen ihnen die “Besserwissermütter” wie wichtig es ist, rund um die Uhr für sein Kind da zu sein. Und der Haushalt will auch noch gemacht werden, Zeit mit dem Partner/der Partnerin? Oft nicht vorhanden und laut Instamoms und Frauenzeitschriften doch soooo essenziell für eine gesunde Beziehung. Vor allem aber zerbrechen Mütter oft an den hohen Erwartungen, die sie an sich selbst richten.

In “Dino Moms” geht es, wie der Titel schon nahelegt, um Mütter und zwar die Mütter unserer Zeit. Die neun Geschichten, die hier in einem Buch zusammengefasst sind, handeln von verschiedenen jungen Müttern im Großraum London in unterschiedlichen Stadien ihres Mutterseins: Erstschwangere, Mütter mit einem oder mehreren Kindern und Schwangere, die schon mehrere Schwangerschaften und Fehlgeburten (Triggerwarnung!) hinter sich haben. Alle Geschichten spielen ungefähr zur Zeit der Corona-Pandemie, in einer Geschichte (“Flatten the curve”) geht es explizit um die Zeit des Lockdowns im Jahr 2020. Mit dieser Geschichte konnte ich mich am meisten identifizieren, einfach weil wir alle im selben Boot saßen und die gleichen Probleme hatten. Es war eine surreale, besondere Zeit und ich freue mich, dass ich sie in den letzten Jahren öfter literarisch verarbeitet finde.

Die Geschichten ähneln sich alle, aber nicht nur aufgrund des übergeordneten Themas Mutterschaft und “female rage”. Die meisten hier beschriebenen Frauen stehen an einem Wendepunkt ihres Lebens oder sind mit außergewöhnlichen Ereignissen konfrontiert. Wie die Horrorfilmregisseurin, der aufgrund ihrer eigenen Schwangerschaft ihre Muse abhanden kommt (sie wechselt zu einem männlichen Regisseur). Oder die Frau, deren Exfreund und Vater ihres Kindes - er hat sie verlassen als die Tochter 4 Monate alt war - nun eine andere heiratet und die “Neue” möchte nun die Tochter des Paares als Brautjungfer haben.

In der ersten Geschichte “Leseley in Therapie”, die ich für eine der stärksten halte, geht es um die eingangs beschriebene Zerrissenheit der Mütter angesichts des gesellschaftlichen Diktats, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. Lesley kehrt nach der Elternzeit als Game-Designerin zurück in den Job und muss feststellen, dass sie dort nicht mehr gebraucht wird, während ihr Baby jedes Mal weint, wenn es in die Betreuungseinrichtung gebracht wird. Lesley trifft beim Wiedereinstiegsprogramm der Firma auf ihre ehemals befreundete Arbeitskollegin Irina, die sowohl im Job als auch als Mutter brilliert. Das zieht Selbstzweifel nach sich, wie sie jede “Working Mom" bestens kennen dürfte.

Da ist das Paar, das in einer anderen Story nach den beiden Geburten sein Sexleben mit einem “Homevideo” wieder aufpeppen will (obwohl sie ohnehin einmal die Woche Sex haben…), vergleichsweise uninteressant. Bei einigen Stories hat mir die Pointe gefehlt bzw. ich habe sie nicht verstanden. Während ich mich mit manchen Geschichten und den darin geschilderten Problemfeldern identifizieren konnte, wirkten andere fast schon surreal und grotesk auf mich. Vor allem mit der letzten, titelgebenden Geschichte “Dino Moms” konnte ich überhaupt nichts anfangen. Mütter und ihre Töchter auf einer Dino Farm in einer “Scripted-Reality-Fernsehshow” aber die Dinos sind echt - häh?

Es gab in manchen Stories Passagen, die fand ich richtig gut, aber meist sind die Geschichten an mir vorbeigezogen, ohne einen Aha-Moment in meinem Kopf zu hinterlassen. Natürlich kann bei neun Kurzgeschichten nicht jede gleich gut sein. Dafür sind sie dann in ihrer Zusammensetzung zu heterogen. Ich fand es schade, dass es keine zusammenhängenden Geschichten waren, also dass zum Beispiel am Ende alle Mütter, die in den einzelnen Geschichten vorkommen, aufeinandertreffen. 

Fazit: Alles in allem eine gute Short-Story-Collection, der ein roter Faden abseits des übergeordneten Themas gut zu Gesicht gestanden hätte. Warum das Buch als “Roman” bezeichnet wird, erschließt sich mir nicht. Aus dem Englischen übersetzt von Gesine Schröder.

Herzlichen Dank an Nagel und Kimche / Harper Collins Germany für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch: hier


Mittwoch, 6. November 2024

"Iowa" von Stefanie Sargnagel


[Disclaimer: Ich habe diese Rezension bereits am Abend des 5.11.2024 auf Instagram gepostet]

Ich hoffe “Iowa” ist die letzte Rezension, die ich schreibe, in einer Welt, in der noch nie eine Frau das mächtigste Land der Welt regiert hat bzw. erstmal bald für viele Jahre regiert. Und in einer Welt, in der ca. 47% der Amerikaner:innen in Erwägung ziehen, “Nr. 45” (seinen Namen möchte ich gar nicht mehr nennen) eine zweite Amtszeit im weißen Haus zu geben. Amerika ist eine “divided Nation”, wie viele Beobachter:innen es ausdrücken. 

In dieses geteilte Land, in dem Unmut und Aufbruchsstimmung zugleich herrschen, sind im Jahr 2022 die Wiener Autorin/Künstlerin Stefanie Sargnagel und die Berliner Singer-Songwriterin/Autorin Christiane Rösinger gereist, Erstere um an einem kleinen College (Grinnell) einen Workshop über das kreative Schreiben zu geben. Rösinger als Sargnagels Begleitung und um dort ein bisschen zu performen.

“Iowa” ist 2024 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet. Während sich eine andere Autorin der erfolgreichen Belletristik gefragt hat, warum sie dort nicht gelandet ist, wird sich Stefanie Sargnagel insgeheim, das behaupte ich jetzt mal weil ich es stark vermute, gefragt haben, warum ihr autofiktionaler Reisebericht dort auftaucht. Ich mache das auch, denn das Buch - Roman möchte ich es gar nicht nennen - hat in meinen Augen keinerlei literarische Relevanz. Als humorvoller Reisebericht kann es - da Humor Geschmackssache ist - gerade noch so durchgehen. Wie es sich aber gegen Bücher von hoher literarischer Qualität durchsetzen konnte, die nicht auf der Longlist gelandet sind, ist mir ein Rätsel.

Wenn es denn wirklich ein tiefer Einblick in die Seele Amerikas anhand des Beispiels von Iowa gewesen wäre. Es geht aber leider mehr um die beiden Reisenden als um Land und Leute, obwohl die zwischendurch natürlich auch schon mal vorkommen. Der Schlagabtausch zwischen Stefanie und Christiane - Millenial vs. Boomerin - ist zwar anfangs ganz nett, da sich die Themen (Altern/Ageism, Süchte, Essen, Berlin/Wien, die Vergangenheit und jeweilige ausgeprägte Persönlichkeit der beiden Freundinnen, Feminismus, Körpergewicht, Kinderwunsch/Mutterschaft, Künstlermilieu/Künstlerinnendasein, selten Amerika) aber ständig wiederholen, ziehen sich die endlosen Dialoge der beiden wie Kaugummi, den man nicht unter der Tischplatte rausbekommt, obwohl man kratzt und gleichzeitig zieht. So Sätze wie: “Der Speichelfluss ist angeregt” (S. 205), wenn beschrieben wird, wie sie eine Pizza aufteilen, lassen mich innerlich tatsächlich aufschreien. Sargnagel ist starke Raucherin und greift dauernd zum Glimmstängel, obwohl es auf dem Campus Gelände verboten ist: “Aus Trotz gegen die Schwingungen, die ich wahrnehme, rauche ich noch mehr, schmiere den Teer auf die Poren, rauche mir die Finger gelb [...] Am liebsten würde ich die Marlboro direkt in den Hummus stecken.” (S. 241) Hier wird suggeriert, dass es cool und subversiv wäre, zu rauchen. Auch eine Eigenschaft, die man vielleicht im Buch aus Jugendschutzgründen hätte unterschlagen können. Schließlich ist es keine 1:1-Wiedergabe des Iowa-Aufenthalts, sondern fiktional bearbeitet. Auch die Tatsache, dass Christiane Rösinger in Geschäften Sachen mitgehen lässt, macht sie für mich jetzt nicht grundsympathisch. Das Klauen wird hier ebenfalls als cool dargestellt. Ich bin wahrscheinlich kein Moralapostel, aber ob das wirklich sein muss weiß ich echt nicht.

Die “korrigierenden Fußnoten” von Rösinger sollen witzig rüberkommen, sind aber einfach nur ein weiteres Ärgernis, das den ohnehin schon zähen Lesefluss unterbricht. Und dann immer wieder der “Running Gag", dass Sargnagel behauptet, Rösinger würde sich einen “kleinen Hund” wünschen, obwohl sie in den Fußnoten ständig “kleine-Hunde-Bashing” betreibt, als wäre es 2003. Ja, wir haben es verstanden: kleine Hunde sind keine echten Hunde, sehen aus wie Ratten und sie würde sich höchstens auf einen “halbhohen” einigen können. Nicht.

Was ich noch anmerken möchte: Auch wenn die Autorin Triggerwarnungen erwähnt, bei ihrem eigenen Buch kann ich keine finden, obwohl sie kaum ein unangehmes Thema unangetastet lässt, oft in Form von Nacherzählungen von Pressemeldungen (“Zeitungsberichte werden um die Welt gehen über…” S. 268) und was ihr ein Typ im Darknet alles Traumatisierendes gezeigt hat. 

Sollte die Autorin das jetzt zufällig lesen und über mich denken “dumme Trutschn" oder so, dann sag ich jetzt schon mal sorry: Ich muss “leider” meine ehrliche Meinung sagen, weil sonst glauben mir die Leute nichts mehr. Aber hey, die Deutsche-Buchpreis-Jury fand das Buch supi, Sargnagel wird mit Thomas Bernhard verglichen (ich hör ihn sich schon umdrehen) und ihr Humor wird von “titel, thesen, temperamente” als “mit nichts zu vergleichen” bezeichnet… Ich muss wohl keine Ahnung haben. Also lass ich es jetzt lieber mal darauf beruhen.



Sonntag, 3. November 2024

"Übung" von Rosalind Brown


Großartiger Roman im Stil von Virginia Woolf

“Dann ist es geschafft, sie sitzt mit auf den Knien verschränkten Armen da und lässt den Kopf hängen. Hinter ihr schwimmt ein Haufen Scheibe in der Toilettenschüssel, und dem Geruch nach zu urteilen, befindet er sich nur teilweise unter Wasser. Sie dreht sich langsam um, wirft einen Blick auf die braunen Exkremente und macht sich an den mühsamen Prozess des Wischens.” (Rosalind Brown: “Übung”. Aus dem Englischen von Eva Bonné, Blessing Verlag, S. 200)

Das von mir ausgewählte Zitat drückt, so mein Empfinden, sehr gut den Grundtenor des Romans "Übung” aus. Dass hier beschrieben wird, wie der Darm der Protagonistin entleert wird, ist etwas Besonderes. Die schmutzigsten Sexszenen finden sich zwar in der aktuellen Literatur zu Hauf, aber die Beschreibung der nicht so schönen alltäglichen körperlichen Vorgänge muss man - vor allem in der Belletristik - mit der Lupe suchen. Das Spiel zwischen dem Höchsten und Edelsten, was der Mensch zu vollbringen mag - nämlich Kunst, hier am Beispiel von Shakespeares Sonetten - und dem Niedrigsten - körperlichen Ausscheidungen - wird hier so raffiniert ausgeführt, wie ich es selten anderswo gelesen habe.

Die Handlung des Romans spielt sich an nur einem Tag im späten Januar des Jahres 2009 im frostigen Oxford ab. Die Protagonistin, von der in der dritten Person gesprochen wird, “sie” also, heißt Annabel, ist 21 Jahre alt und studiert Englische Literaturwissenschaft auf Bachelor an der altehrwürdigen Alma Mater. Ihre Aufgabe ist es, bis zum morgigen Montag ein Essay über Shakespeares Sonette zu schreiben. Doch Annabel “prokrastiniert”: Während sie eine wissenschaftliche Abhandlung über die Sonette schreiben soll, macht sie alles andere. Die Sonette sind nur ein Denkanstoß, der sie über sich selbst, ihre Liebesbeziehung zu einem 15 Jahre älteren Arzt sowie vergangene Beziehungen und das Leben im Allgemeinen und Besonderen nachdenken lässt. “Übung” ist somit ein reflexiver Roman, die äußere Handlung besteht lediglich aus den Verrichtungen und den wenigen kurzen Begegnungen der Protagonistin an diesem einen Tag in ihrem Leben.  

Die Protagonistin reflektiert die prosaischen Umstände der Entstehung von Shakespeares Sonetten. Shakespeare, der unter Geldnot und vielleicht mit Hangover in einer schmutzigen Londoner Absteige Literatur am Fließband produzieren musste. Gleichzeitig sinniert sie über die elementarsten Dinge des Lebens nach. Zum Beispiel - es wurde eingangs bereits erwähnt - Körperfunktionen. Während sie auf der Toilette sitzt, denkt sie darüber nach, welchen genauen Weg ihr Urin nimmt. Oder dass sie immer zur gleichen Tageszeit, nämlich nach dem Abendessen im Gemeinschaftssaal, ihren Darm entleeren muss. Sie denkt auch über Sex nach. Sie führt eine lockere Fernbeziehung mit eben jenem 36-jährigen Arzt, die sich noch in der Anfangsphase des gegenseitigen Verzehrens nacheinander befindet. Liebessprache - ist die von Shakespeares lyrischem Ich gegenüber der “darky Lady” und dem “fair boy” so anders als die von Annabel gegenüber ihrem Arzt-Lover am Telefon oder per SMS? Auch Autoerotik bzw. Selbstbefriedigung ist ein Thema, das in einer ausführlichen Masturbationsszene ausgeführt wird.

Es geht aber nicht nur um den Körper, sondern eben auch um den Geist, den Kopf, das Denken. Das “Wie” von Autorschaft - Wie kommen Texte zustande, diese Frage stellt sich: der Text. Autofiktion, Selbstreferentialität, Metafiktion? Alles das. Sowohl der Primärtext als auch der Sekundärtext, den die Protagonistin zu schreiben versucht, haben einen Entstehungsprozess. Und dieser wird immer wieder von der Studentin reflektiert und Rückschlüsse auf das eigene Schreiben gezogen. Schließlich wird die Protagonistin selbst zur Autorin. Es entspinnt sich in ihrem Kopf eine homosexuelle Liebesgeschichte zwischen einem “GELEHRTEN” und einem “VERFÜHRER”, die beide eigentlich “sie sind” (S. 174). Das ist der vielleicht philosophischste Teil des Romans.

Der Roman ist auch eine Verbeugung vor dem Genie Shakespeares, das so übermächtig und groß ist, dass eine schriftliche Annäherung und Deutung ja Zerpflückung seiner Werke vermessen erscheint. Auch Virginia Woolf - so wird es im Nachwort zitiert - war einmal der Meinung dass angesichts von Shakespeares Genie alles weitere Schreiben redundant wäre.
Annabel hat im Sommer, bevor die Handlung beginnt, Virginia Woolf für sich entdeckt und ist von ihrem Schreiben und ihrer Biographie absolut fasziniert. Der Roman “Übung” ist dementsprechend nach dem Vorbild von Virginia Woolfs experimentellen modernistischen Romanen konzipiert. Man denke nur an “Mrs. Dalloway”, ein Roman, der auch an nur einem Tag spielt und mit wenig äußerer Handlung vor allen die Gedanken der Protagonistin beleuchtet.

In “Übung” geht es auch an manchen Stellen um die kleinen Tragödien des Lebens, die einem angesichts der großen Tragödien nichts anhaben sollten. Und dennoch: Welch großer Schmerz steckt in dem abgebrochenen Henkel des Lieblingsbechers, den man fortan nicht mehr richtig wird benutzen können. Kleine Abschiede, die wir mit uns selbst ausmachen, weil sie zu unwichtig und lächerlich wären für die anderen. Zudem: Die kleinen, feinen Nuancen, die unsere Stimmungen in die eine oder andere Richtung ausschlagen lassen - unser seismografisches Selbst.

Es zeugt von großer schriftstellerischer Könnerschaft, das Kleinste und das Allerkleinste, das Alltägliche und das Banale literarisch so auszuarbeiten, dass es unser Interesse weckt, dass wir nicht einknicken vor dem Prosaischen, sondern es wie eine spannende Handlung verfolgen. Dass man sich beim Lesen tatsächlich oft ertappt und zuweilen sogar wie ein/e Voyeuer/in fühlt, das ist wirklich bravourös gemacht. Ich ziehe den Hut vor Rosalind Brown und der meisterhaften Übersetzung von Eva Bonné - 5 Sterne!

Herzlichen Dank an Team Bloggerportal und Blessing Verlag für das Rezensionsexemplar!