Lieblingsautoren

Montag, 11. November 2024

"Dino Moms" von Naomi Wood


Moderne Mütter in Ausnahmezuständen

Seien wir doch mal ehrlich: Wir Mütter stehen am Ende der gesellschaftlichen Nahrungskette. Was ziemlich paradox ist, denn Mütter sind die Basis der Gesellschaft, wenn sie ausfallen, gerät auch alles andere ins Wanken. Selbiges gilt leider auch für “arbeitende Mütter”, also solche, die neben dem (unbezahlten) Beruf des Erziehens und Betreuens der eigenen Kinder noch einem “richtigen” Beruf nachgehen, also einem, der Geld einbringt. Sie leisten schier Übermenschliches und werden doch oft in ihren beiden Lebensumfeldern als unzureichend wahrgenommen. Von der Arbeit müssen sie oft verschwinden, weil das Kind krank ist, sind nicht Teil der wichtigen Absprachen, wenn sie fehlen und zu Hause in den Krabbelgruppen sagen ihnen die “Besserwissermütter” wie wichtig es ist, rund um die Uhr für sein Kind da zu sein. Und der Haushalt will auch noch gemacht werden, Zeit mit dem Partner/der Partnerin? Oft nicht vorhanden und laut Instamoms und Frauenzeitschriften doch soooo essenziell für eine gesunde Beziehung. Vor allem aber zerbrechen Mütter oft an den hohen Erwartungen, die sie an sich selbst richten.

In “Dino Moms” geht es, wie der Titel schon nahelegt, um Mütter und zwar die Mütter unserer Zeit. Die neun Geschichten, die hier in einem Buch zusammengefasst sind, handeln von verschiedenen jungen Müttern im Großraum London in unterschiedlichen Stadien ihres Mutterseins: Erstschwangere, Mütter mit einem oder mehreren Kindern und Schwangere, die schon mehrere Schwangerschaften und Fehlgeburten (Triggerwarnung!) hinter sich haben. Alle Geschichten spielen ungefähr zur Zeit der Corona-Pandemie, in einer Geschichte (“Flatten the curve”) geht es explizit um die Zeit des Lockdowns im Jahr 2020. Mit dieser Geschichte konnte ich mich am meisten identifizieren, einfach weil wir alle im selben Boot saßen und die gleichen Probleme hatten. Es war eine surreale, besondere Zeit und ich freue mich, dass ich sie in den letzten Jahren öfter literarisch verarbeitet finde.

Die Geschichten ähneln sich alle, aber nicht nur aufgrund des übergeordneten Themas Mutterschaft und “female rage”. Die meisten hier beschriebenen Frauen stehen an einem Wendepunkt ihres Lebens oder sind mit außergewöhnlichen Ereignissen konfrontiert. Wie die Horrorfilmregisseurin, der aufgrund ihrer eigenen Schwangerschaft ihre Muse abhanden kommt (sie wechselt zu einem männlichen Regisseur). Oder die Frau, deren Exfreund und Vater ihres Kindes - er hat sie verlassen als die Tochter 4 Monate alt war - nun eine andere heiratet und die “Neue” möchte nun die Tochter des Paares als Brautjungfer haben.

In der ersten Geschichte “Leseley in Therapie”, die ich für eine der stärksten halte, geht es um die eingangs beschriebene Zerrissenheit der Mütter angesichts des gesellschaftlichen Diktats, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. Lesley kehrt nach der Elternzeit als Game-Designerin zurück in den Job und muss feststellen, dass sie dort nicht mehr gebraucht wird, während ihr Baby jedes Mal weint, wenn es in die Betreuungseinrichtung gebracht wird. Lesley trifft beim Wiedereinstiegsprogramm der Firma auf ihre ehemals befreundete Arbeitskollegin Irina, die sowohl im Job als auch als Mutter brilliert. Das zieht Selbstzweifel nach sich, wie sie jede “Working Mom" bestens kennen dürfte.

Da ist das Paar, das in einer anderen Story nach den beiden Geburten sein Sexleben mit einem “Homevideo” wieder aufpeppen will (obwohl sie ohnehin einmal die Woche Sex haben…), vergleichsweise uninteressant. Bei einigen Stories hat mir die Pointe gefehlt bzw. ich habe sie nicht verstanden. Während ich mich mit manchen Geschichten und den darin geschilderten Problemfeldern identifizieren konnte, wirkten andere fast schon surreal und grotesk auf mich. Vor allem mit der letzten, titelgebenden Geschichte “Dino Moms” konnte ich überhaupt nichts anfangen. Mütter und ihre Töchter auf einer Dino Farm in einer “Scripted-Reality-Fernsehshow” aber die Dinos sind echt - häh?

Es gab in manchen Stories Passagen, die fand ich richtig gut, aber meist sind die Geschichten an mir vorbeigezogen, ohne einen Aha-Moment in meinem Kopf zu hinterlassen. Natürlich kann bei neun Kurzgeschichten nicht jede gleich gut sein. Dafür sind sie dann in ihrer Zusammensetzung zu heterogen. Ich fand es schade, dass es keine zusammenhängenden Geschichten waren, also dass zum Beispiel am Ende alle Mütter, die in den einzelnen Geschichten vorkommen, aufeinandertreffen. 

Fazit: Alles in allem eine gute Short-Story-Collection, der ein roter Faden abseits des übergeordneten Themas gut zu Gesicht gestanden hätte. Warum das Buch als “Roman” bezeichnet wird, erschließt sich mir nicht. Aus dem Englischen übersetzt von Gesine Schröder.

Herzlichen Dank an Nagel und Kimche / Harper Collins Germany für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch: hier


Mittwoch, 6. November 2024

"Iowa" von Stefanie Sargnagel


[Disclaimer: Ich habe diese Rezension bereits am Abend des 5.11.2024 auf Instagram gepostet]

Ich hoffe “Iowa” ist die letzte Rezension, die ich schreibe, in einer Welt, in der noch nie eine Frau das mächtigste Land der Welt regiert hat bzw. erstmal bald für viele Jahre regiert. Und in einer Welt, in der ca. 47% der Amerikaner:innen in Erwägung ziehen, “Nr. 45” (seinen Namen möchte ich gar nicht mehr nennen) eine zweite Amtszeit im weißen Haus zu geben. Amerika ist eine “divided Nation”, wie viele Beobachter:innen es ausdrücken. 

In dieses geteilte Land, in dem Unmut und Aufbruchsstimmung zugleich herrschen, sind im Jahr 2022 die Wiener Autorin/Künstlerin Stefanie Sargnagel und die Berliner Singer-Songwriterin/Autorin Christiane Rösinger gereist, Erstere um an einem kleinen College (Grinnell) einen Workshop über das kreative Schreiben zu geben. Rösinger als Sargnagels Begleitung und um dort ein bisschen zu performen.

“Iowa” ist 2024 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet. Während sich eine andere Autorin der erfolgreichen Belletristik gefragt hat, warum sie dort nicht gelandet ist, wird sich Stefanie Sargnagel insgeheim, das behaupte ich jetzt mal weil ich es stark vermute, gefragt haben, warum ihr autofiktionaler Reisebericht dort auftaucht. Ich mache das auch, denn das Buch - Roman möchte ich es gar nicht nennen - hat in meinen Augen keinerlei literarische Relevanz. Als humorvoller Reisebericht kann es - da Humor Geschmackssache ist - gerade noch so durchgehen. Wie es sich aber gegen Bücher von hoher literarischer Qualität durchsetzen konnte, die nicht auf der Longlist gelandet sind, ist mir ein Rätsel.

Wenn es denn wirklich ein tiefer Einblick in die Seele Amerikas anhand des Beispiels von Iowa gewesen wäre. Es geht aber leider mehr um die beiden Reisenden als um Land und Leute, obwohl die zwischendurch natürlich auch schon mal vorkommen. Der Schlagabtausch zwischen Stefanie und Christiane - Millenial vs. Boomerin - ist zwar anfangs ganz nett, da sich die Themen (Altern/Ageism, Süchte, Essen, Berlin/Wien, die Vergangenheit und jeweilige ausgeprägte Persönlichkeit der beiden Freundinnen, Feminismus, Körpergewicht, Kinderwunsch/Mutterschaft, Künstlermilieu/Künstlerinnendasein, selten Amerika) aber ständig wiederholen, ziehen sich die endlosen Dialoge der beiden wie Kaugummi, den man nicht unter der Tischplatte rausbekommt, obwohl man kratzt und gleichzeitig zieht. So Sätze wie: “Der Speichelfluss ist angeregt” (S. 205), wenn beschrieben wird, wie sie eine Pizza aufteilen, lassen mich innerlich tatsächlich aufschreien. Sargnagel ist starke Raucherin und greift dauernd zum Glimmstängel, obwohl es auf dem Campus Gelände verboten ist: “Aus Trotz gegen die Schwingungen, die ich wahrnehme, rauche ich noch mehr, schmiere den Teer auf die Poren, rauche mir die Finger gelb [...] Am liebsten würde ich die Marlboro direkt in den Hummus stecken.” (S. 241) Hier wird suggeriert, dass es cool und subversiv wäre, zu rauchen. Auch eine Eigenschaft, die man vielleicht im Buch aus Jugendschutzgründen hätte unterschlagen können. Schließlich ist es keine 1:1-Wiedergabe des Iowa-Aufenthalts, sondern fiktional bearbeitet. Auch die Tatsache, dass Christiane Rösinger in Geschäften Sachen mitgehen lässt, macht sie für mich jetzt nicht grundsympathisch. Das Klauen wird hier ebenfalls als cool dargestellt. Ich bin wahrscheinlich kein Moralapostel, aber ob das wirklich sein muss weiß ich echt nicht.

Die “korrigierenden Fußnoten” von Rösinger sollen witzig rüberkommen, sind aber einfach nur ein weiteres Ärgernis, das den ohnehin schon zähen Lesefluss unterbricht. Und dann immer wieder der “Running Gag", dass Sargnagel behauptet, Rösinger würde sich einen “kleinen Hund” wünschen, obwohl sie in den Fußnoten ständig “kleine-Hunde-Bashing” betreibt, als wäre es 2003. Ja, wir haben es verstanden: kleine Hunde sind keine echten Hunde, sehen aus wie Ratten und sie würde sich höchstens auf einen “halbhohen” einigen können. Nicht.

Was ich noch anmerken möchte: Auch wenn die Autorin Triggerwarnungen erwähnt, bei ihrem eigenen Buch kann ich keine finden, obwohl sie kaum ein unangehmes Thema unangetastet lässt, oft in Form von Nacherzählungen von Pressemeldungen (“Zeitungsberichte werden um die Welt gehen über…” S. 268) und was ihr ein Typ im Darknet alles Traumatisierendes gezeigt hat. 

Sollte die Autorin das jetzt zufällig lesen und über mich denken “dumme Trutschn" oder so, dann sag ich jetzt schon mal sorry: Ich muss “leider” meine ehrliche Meinung sagen, weil sonst glauben mir die Leute nichts mehr. Aber hey, die Deutsche-Buchpreis-Jury fand das Buch supi, Sargnagel wird mit Thomas Bernhard verglichen (ich hör ihn sich schon umdrehen) und ihr Humor wird von “titel, thesen, temperamente” als “mit nichts zu vergleichen” bezeichnet… Ich muss wohl keine Ahnung haben. Also lass ich es jetzt lieber mal darauf beruhen.



Sonntag, 3. November 2024

"Übung" von Rosalind Brown


Großartiger Roman im Stil von Virginia Woolf

“Dann ist es geschafft, sie sitzt mit auf den Knien verschränkten Armen da und lässt den Kopf hängen. Hinter ihr schwimmt ein Haufen Scheibe in der Toilettenschüssel, und dem Geruch nach zu urteilen, befindet er sich nur teilweise unter Wasser. Sie dreht sich langsam um, wirft einen Blick auf die braunen Exkremente und macht sich an den mühsamen Prozess des Wischens.” (Rosalind Brown: “Übung”. Aus dem Englischen von Eva Bonné, Blessing Verlag, S. 200)

Das von mir ausgewählte Zitat drückt, so mein Empfinden, sehr gut den Grundtenor des Romans "Übung” aus. Dass hier beschrieben wird, wie der Darm der Protagonistin entleert wird, ist etwas Besonderes. Die schmutzigsten Sexszenen finden sich zwar in der aktuellen Literatur zu Hauf, aber die Beschreibung der nicht so schönen alltäglichen körperlichen Vorgänge muss man - vor allem in der Belletristik - mit der Lupe suchen. Das Spiel zwischen dem Höchsten und Edelsten, was der Mensch zu vollbringen mag - nämlich Kunst, hier am Beispiel von Shakespeares Sonetten - und dem Niedrigsten - körperlichen Ausscheidungen - wird hier so raffiniert ausgeführt, wie ich es selten anderswo gelesen habe.

Die Handlung des Romans spielt sich an nur einem Tag im späten Januar des Jahres 2009 im frostigen Oxford ab. Die Protagonistin, von der in der dritten Person gesprochen wird, “sie” also, heißt Annabel, ist 21 Jahre alt und studiert Englische Literaturwissenschaft auf Bachelor an der altehrwürdigen Alma Mater. Ihre Aufgabe ist es, bis zum morgigen Montag ein Essay über Shakespeares Sonette zu schreiben. Doch Annabel “prokrastiniert”: Während sie eine wissenschaftliche Abhandlung über die Sonette schreiben soll, macht sie alles andere. Die Sonette sind nur ein Denkanstoß, der sie über sich selbst, ihre Liebesbeziehung zu einem 15 Jahre älteren Arzt sowie vergangene Beziehungen und das Leben im Allgemeinen und Besonderen nachdenken lässt. “Übung” ist somit ein reflexiver Roman, die äußere Handlung besteht lediglich aus den Verrichtungen und den wenigen kurzen Begegnungen der Protagonistin an diesem einen Tag in ihrem Leben.  

Die Protagonistin reflektiert die prosaischen Umstände der Entstehung von Shakespeares Sonetten. Shakespeare, der unter Geldnot und vielleicht mit Hangover in einer schmutzigen Londoner Absteige Literatur am Fließband produzieren musste. Gleichzeitig sinniert sie über die elementarsten Dinge des Lebens nach. Zum Beispiel - es wurde eingangs bereits erwähnt - Körperfunktionen. Während sie auf der Toilette sitzt, denkt sie darüber nach, welchen genauen Weg ihr Urin nimmt. Oder dass sie immer zur gleichen Tageszeit, nämlich nach dem Abendessen im Gemeinschaftssaal, ihren Darm entleeren muss. Sie denkt auch über Sex nach. Sie führt eine lockere Fernbeziehung mit eben jenem 36-jährigen Arzt, die sich noch in der Anfangsphase des gegenseitigen Verzehrens nacheinander befindet. Liebessprache - ist die von Shakespeares lyrischem Ich gegenüber der “darky Lady” und dem “fair boy” so anders als die von Annabel gegenüber ihrem Arzt-Lover am Telefon oder per SMS? Auch Autoerotik bzw. Selbstbefriedigung ist ein Thema, das in einer ausführlichen Masturbationsszene ausgeführt wird.

Es geht aber nicht nur um den Körper, sondern eben auch um den Geist, den Kopf, das Denken. Das “Wie” von Autorschaft - Wie kommen Texte zustande, diese Frage stellt sich: der Text. Autofiktion, Selbstreferentialität, Metafiktion? Alles das. Sowohl der Primärtext als auch der Sekundärtext, den die Protagonistin zu schreiben versucht, haben einen Entstehungsprozess. Und dieser wird immer wieder von der Studentin reflektiert und Rückschlüsse auf das eigene Schreiben gezogen. Schließlich wird die Protagonistin selbst zur Autorin. Es entspinnt sich in ihrem Kopf eine homosexuelle Liebesgeschichte zwischen einem “GELEHRTEN” und einem “VERFÜHRER”, die beide eigentlich “sie sind” (S. 174). Das ist der vielleicht philosophischste Teil des Romans.

Der Roman ist auch eine Verbeugung vor dem Genie Shakespeares, das so übermächtig und groß ist, dass eine schriftliche Annäherung und Deutung ja Zerpflückung seiner Werke vermessen erscheint. Auch Virginia Woolf - so wird es im Nachwort zitiert - war einmal der Meinung dass angesichts von Shakespeares Genie alles weitere Schreiben redundant wäre.
Annabel hat im Sommer, bevor die Handlung beginnt, Virginia Woolf für sich entdeckt und ist von ihrem Schreiben und ihrer Biographie absolut fasziniert. Der Roman “Übung” ist dementsprechend nach dem Vorbild von Virginia Woolfs experimentellen modernistischen Romanen konzipiert. Man denke nur an “Mrs. Dalloway”, ein Roman, der auch an nur einem Tag spielt und mit wenig äußerer Handlung vor allen die Gedanken der Protagonistin beleuchtet.

In “Übung” geht es auch an manchen Stellen um die kleinen Tragödien des Lebens, die einem angesichts der großen Tragödien nichts anhaben sollten. Und dennoch: Welch großer Schmerz steckt in dem abgebrochenen Henkel des Lieblingsbechers, den man fortan nicht mehr richtig wird benutzen können. Kleine Abschiede, die wir mit uns selbst ausmachen, weil sie zu unwichtig und lächerlich wären für die anderen. Zudem: Die kleinen, feinen Nuancen, die unsere Stimmungen in die eine oder andere Richtung ausschlagen lassen - unser seismografisches Selbst.

Es zeugt von großer schriftstellerischer Könnerschaft, das Kleinste und das Allerkleinste, das Alltägliche und das Banale literarisch so auszuarbeiten, dass es unser Interesse weckt, dass wir nicht einknicken vor dem Prosaischen, sondern es wie eine spannende Handlung verfolgen. Dass man sich beim Lesen tatsächlich oft ertappt und zuweilen sogar wie ein/e Voyeuer/in fühlt, das ist wirklich bravourös gemacht. Ich ziehe den Hut vor Rosalind Brown und der meisterhaften Übersetzung von Eva Bonné - 5 Sterne!

Herzlichen Dank an Team Bloggerportal und Blessing Verlag für das Rezensionsexemplar!