Donnerstag, 30. April 2020

"Was wir sind" von Anna Hope


 
Bestandsaufnahmen einer Generation

Wenn man nach dem Lesen eines jeden Kapitels das Buch kurz zuschlägt um innezuhalten und um "wow, das ist so gut" zu denken, dann hat das Buch in meinen Augen seine 5 Sterne verdient.

Was soll ich sagen? Dieser Roman bildet die Lebenswirklichkeit der Generation von modernen Frauen, die in den mittleren 1970er Jahren geboren wurden, 1:1 ab, legt den Finger in die Wunde ihrer Befindlichkeiten. Drei Frauen aus England, die sich kennen, Freundinnen waren bzw. irgendwie immer noch sind, werden unter dem Brennglas der auktorialen Erzählinstanz auf ihre gegenwärtigen Unzulänglichkeiten hin untersucht. Ihre momentane Existenz wird mit ihrer vergangenen verglichen (es gibt zahlreiche kursivierte Rückblenden). Die Wünsche, Träume und Vorstellungen, die sie abgelegt haben, treten wie ein offener Bruch aus dem Körper ihres Ichs hervor. Alle drei Frauen sind zum Zeitpunkt der Haupthandlung im Jahr 2010 Mitte 30, also in der “Rushhour des Lebens”, in der eigentlich alles unter Dach und Fach gebracht werden will: Kinder, Karriere, Haus und Garten, gemachte Erfahrungen - alles soll und muss perfekt sein, wenn es nach den gesellschaftlichen Vorstellungen geht. Aber dass diese nicht immer mit der Realität einhergehen und das Leben oft diametral entgegengesetzte Verläufe zu unseren Erwartungen (das Buch heißt im Original "Expectation"), nimmt, zeigt Anna Hope anhand ihrer drei Protagonistinnen auf.

Cate ist die Intellektuelle, die ihren Oxford-Cum-Laude-Abschluss an der Tür ihres Reihenhauses in der Vorstadt von Canterbury abgelegt hat. Sie ist frischgebackene Mutter eines kleinen Jungen und hadert mit den sich überschlagenden Ereignissen ihres momentanen Lebens: neuer Partner, Heirat, Kind, Haus, Umzug aus der Metropole ins Suburbane - alles in weniger als 2 Jahren. Und da ist dann auch noch eine Person aus ihrer Vergangenheit, eine verflossene Liebe, der sie nachtrauert.

Hannah ist die Karrierefrau, bei der eigentlich alles perfekt läuft. Ein sehr gut bezahlter Job in London, schöne Wohnung, ein langjähriger Partner und seit kurzem Ehemann. Trotz dem scheinbar perfekten Äußeren ihres Lebens droht sie aber an ihrem unerfüllten Kinderwunsch zu verbrechen.

Lissa ist die unkonventionelle Schauspielerin, die im Callcenter und als Aktmodell arbeiten muss, weil es mit der großen Karriere nicht geklappt hat. Ein gesetztes und spießiges Leben mit Haus und Kindern ist für Lissa nicht vorstellbar, aber dennoch sucht sie nach Konstanten.

Alle Figuren sind und wirken so echt, ihre Probleme sind exakt die, die Frauen in ihren mittleren Dreißigern eben haben - ich weiß wovon ich rede, gehöre ich doch selbst dieser Spezies an.

Danke Anna Hope für dieses wundervolle Portrait einer Generation, das zum Nachdenken über das eigene Leben und zum Innehalten anregt. Dass die Autorin übrigens auch noch mein Lieblingsstück von Tschechow, Onkel Wanja, in die Erzählung mit einbaut, hat mich vollends für das Buch eingenommen: 5 Sterne!

Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen.
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Sonntag, 26. April 2020

"Die Tote in der Sommerfrische" von Elsa Dix



Leichter historischer Krimi mit schönem Setting

Historische Cosy-Krimis sind mit meine bevorzugten Lektüren, denn ich liebe die Kombination aus historischem Setting, Leichtigkeit und Spannung - am liebsten unterlegt mit einer Prise Humor. "Die Tote in der Sommerfrische. Ein Seebad-Krimi" von Elsa Dix fiel damit genau in mein Beuteschema und ich wurde nicht enttäuscht.

Der historische Kriminalroman spielt ganz im Norden des damaligen (Jahr der Handlung: 1912) deutschen Kaiserreichs, nämlich auf der Insel Norderney. Nur die gehobenen Gesellschaftsschichten des Adels und des Großbürgertums konnten sich damals die sogenannte "Sommerfrische" leisten, also den Aufenthalt auf dem Land während der heißen Sommermonate. Natürlich war das Reiseziel davon abhängig, wo genau man urban residierte, also ob man von der Stadt aus in Richtung Berge, Meer oder Heide, etc., aufbrach.

Im Personalkarussel des Krimis finden sich also Vertreter der damaligen gehobenen Schichten wieder, die auf Norderney ihren Sommer verbrachten. Aber diese mussten auch bedient und bewirtet werden, weshalb auch Personen aus der Arbeiterschicht eine Rolle spielen. Es ist also ein historischer Gesellschaftskrimi könnte man sagen, da die damalige Gesellschaft in ihrer Breite abgebildet wird.

Die Protagonistin des Romans ist Viktoria Berg, unverheiratete Tochter eines Oberstaatsanwalts. Die selbstbewusste junge Frau möchte als Lehrerin an einer Reformschule unterrichten, der Wunsch ihres Vaters dagegen ist, dass sie sich einen standesgemäßen Mann sucht. Im Moment herrscht eine Pattsituation, aber Viktoria ist gewillt, ihren unabhängigen Weg weiter zu verfolgen. Wäre da nicht der junge Journalist Christian Hinrichs, der aufgrund eines Rechercheaufenthalts für eine Frauenzeitschrift auf der Insel und in Viktorias Hotel weilt. Die beiden sind sich auf Anhieb sympathisch. Gemeinsam ermitteln sie im Mordfall an einer jungen Frau, die mit Viktoria eine gemeinsame Vergangenheit teilt.

Ein historischer Cosy Krimi, der im deutschen Kaiserreich spielt, ist mal eine schöne Abwechslung in diesem Genre. Leider war ich noch nie auf Norderney, aber ich habe durch die Lektüre durchaus Lust auf einen Urlaub dort bekommen. Man spürt die Begeisterung der Autorin für diese Insel überall zwischen den Zeilen.

Die historischen Verhältnisse werden lebendig geschildert und man merkt, dass die Autorin gründlich recherchiert hat, um dem Roman einen authentischen Anstrich zu verleihen. Es werden immer wieder Gepflogenheiten oder Dinge eingestreut, die um 1912 üblich waren, wie z.B. eine Aussteuertruhe oder bestimmte Modelle von historischen Fotoapparaten.

Die Kriminalhandlung an sich ist wie üblich bei einem Cosy-Krimi nicht übermäßig, aber durchaus leicht spannend. Man kann durch viele Verdächtige und Indizien als Leser “mitermitteln”. Dafür ist die Auflösung des Ganzen dann wirklich sehr überraschend.

Alles in allem ein wunderbar kurzweiliger Krimi, der sich wie eine frische Brise anfühlt und leicht lesen lässt. Übrigens wird es der erste Band einer Reihe, der zweite Teil ist schon in Arbeit.

Herzlichen Dank an das Bloggerportal von Randomhouse und Goldmann für das Rezensionsexemplar!
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Montag, 20. April 2020

"Die Herren der Zeit" von Eva García Sáenz



Dynastische Verwicklungen


“Die Herren der Zeit” ist der letzte Teil der Thriller-Trilogie um den Kriminalprofiler Unai López de Ayala (genannt Kranken) aus dem Baskenland. Ich habe die ersten beiden Bände nicht gelesen, konnte aber aufgrund der Rückblenden-Informationen, die die Autorin einstreut, gut ins Geschehen finden. Um die Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur Kraken und die komplexen Zusammenhänge der Geschichte besser zu verstehen, ist es aber sicher hilfreich, wenn man mit dem ersten Band beginnt.

Die baskischen Orts- und Personennamen waren für mich, die ich bislang wenig mit der Sprache und Kultur Navarras in Berührung gekommen bin, gewöhnungsbedürftig. Teilweise war es schwer zu erfassen, ob ein Vorname männlich oder weiblich ist. Die Verwandtschaftsverhältnisse, die in beiden Handlungssträngen vorkommen, sind aufgrund der vielen Namensähnlichkeiten sehr schwer zu durchschauen. Eine Familie, in der jedes männliche Mitglied über mehrere Generationen den gleichen Vornamen trägt, puh! Dazu kommt noch die spezielle Wesensart des Hauptverdächtigen. Das hilfreiche und sehr ausführliche Personenregister sowie das Glossar, das die wichtigsten Begriffe erklärt, habe ich durch die Lektüre des Ebooks leider erst am Ende gesehen.

Das Interessante an "Die Herren der Zeit" ist die Tatsache, dass es zwei Bücher in einem sind: zum einen ein Thriller in der Gegenwart des Septembers 2019, zum anderen ein historischer Roman, der im 12. Jahrhundert spielt. Die beiden Handlungsstränge sollen sich gegenseitig spiegeln. Während aber in der Gegenwart recht schnell einige Morde passieren, nimmt die Vergangenheitshandlung einen eher gemächlichen Verlauf. Erst ab der Hälfte des Buches etwa überholt die Vergangenheit die Gegenwart was die kriminellen Vorkommnisse angeht. Um es dann noch etwas komplizierter zu machen, kommt nach etwa zwei Dritteln des Romans eine dritte Zeitebene, gegen Ende noch eine vierte hinzu.

Normalerweise lese ich Krimis/Thriller recht schnell, weil man ja natürlich wissen möchte, wer der Mörder/Täter ist. Für diesen Thriller habe ich verhältnismäßig lange gebraucht. Durch die Rückblenden in die Jahre 1190 ff. wird außerdem beständig auf die Bremse getreten, die Gegenwartshandlung wird angehalten, wenn sie gerade Fahrt aufgenommen hat. Ich verstehe schon den Sinn dahinter, allerdings habe ich innerlich manchmal schon gestöhnt, wenn wieder mal ein Cliffhanger in 2019 von einem Handlungsstrang aus dem Mittelalter abgelöst wurde. Dennoch ist das komplexe Konstrukt, das die Autorin mit diesem letzten Teil der Kraken-Trilogie erschaffen hat, aller Ehren wert. Allein die Recherchearbeit im Vorfeld hat, wie sie im Nachwort sagt, sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Die Auflösung des Ganzen ist dann auch recht überraschend gewesen, wie ich finde. Man fiebert mit der Hauptfigur Kraken mit und bekommt einen hoch komplexen, extrem verschachtelten Krimi mit dynastischen Verwicklungen serviert, der mir aber auch einiges an Durchhaltevermögen abverlangt hat.


Herzlichen Dank an den S.Fischer-Verlag/Scherz und netgalley für das Rezensionsexemplar!
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Freitag, 17. April 2020

"Offene See" von Benjamin Myers


Ein zukünftiger moderner Klassiker

Eskapismus und Sehnsuchtsorte aller Art, haben in der Literaturgeschichte eine große Tradition. Das Meer ist als Sehnsuchtsort prädestiniert, symbolisiert es doch mit seiner scheinbar unendlichen Weite und Tiefe das Mythische und Unerklärliche. Der menschliche Verstand sieht nur bis zum Horizont, die Phantasie kann darüber hinausschauen. Auch das Motiv des Wanderns ist ein altes in der Literatur - man denke nur an die Romantik, an Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre" und andere Klassiker.

"Offene See" ist das Buch der Wanderschaft eines jungen Mannes im England der 1940er Nachkriegsjahre. Eigentlich nimmt nicht die Wanderschaft, sondern sein Aufenthalt an der Küste des Landes bei einer älteren Dame die meiste Erzählzeit ein. Es ist im Grunde ein klassischer Bildungs- bzw. Entwicklungsroman, wenn man eine solche generische Einordnung denn vornehmen möchte.

Der Ich-Erzähler, der in der Rahmenhandlung die Erlebnisse seiner Jugend niederschreibt, heißt Robert Appleyard. Als Sohn eines Bergarbeiters ist auch sein zukünftiges Leben als solcher quasi prädestiniert. Aber Robert bricht mit 16 Jahren auf, um sich treiben zu lassen. Er will das Meer sehen, die Küste, die er von seinem Heimatort im Landesinneren aus nur erahnen kann. Als er in einem kleinen, südlich gelegenen Küstenstädtchen ankommt, führt ihn sein Weg aber nicht bis ans Meer, sondern zu der quasi alterslosen Dulcie Piper. Diese wirkt, als hätte sie ihn schon erwartet und nimmt ihn wie selbstverständlich bei sich auf. Aus einem Tag werden Wochen und Monate des Aufenthalts, in denen Robert Dulcie, und vor allem auch sich selbst, immer besser kennenlernen wird.

Das Buch hat etwas dezidiert Mythologisches, Märchenhaftes an sich. Wie Circe Odysseus, doch ohne jegliche Erotik oder Zwang zwischen den Parteien, nimmt Dulcie Robert bei sich auf, der eigentlich ganz andere Pläne hatte. Er wollte nicht irgendwo länger verweilen, schon gar nicht bei einer älteren Frau, die nah am Meer wohnt und dafür doch so gar nichts übrig zu haben scheint. Doch nun kam es anders und selbst ein kurzer "Ausbruchsversuch" bringt ihn wieder wie magnetisch - oder wie die Flut nach der Ebbe - in Dulcies kleine Welt zurück. Robert darf erst weiterziehen, wenn er selbst dazu bereit ist, also genug gelernt, sich gebildet hat.

Dulcies unkonventionelle Art, ihr einnehmendes Wesen und ihre Schlagfertigkeit machen sie sofort sympathisch. Kontrastiert mit der stillen, stoischen Art Roberts, der vor allem durch seine handwerkliche Arbeit und Körperlichkeit besticht, bilden die beiden ein seltsames Paar. Als Robert Dulcies verlassenes Gartenhäuschen auf Vordermann bringt, kommen nach und nach die Geister ihrer Vergangenheit zum Vorschein...

"Offene See" ist eine Feier des Gegenwärtigen, ist doch die Gegenwart "die einzige Zeit, die uns wirklich gehört", wie Blaise Pascal sagte. Dulcie ist die personifizierte Zeitlosigkeit und eine Verfechterin dieser Theorie. Sie ist ein Mensch, der im Augenblick lebt und den man nicht in eine Schublade stecken kann. Intellektuell, nonchalent, sophisticated, aber auch derb, explizit und plakativ in der Ausdrucksweise.

Die Besonderheit des Buches ist seine Sprache, die vor Metaphorik und lyrischen Sprachbildern nur so strotzt! In der Erzählstimme findet sich kaum ein Satz ohne Allegorie, kaum ein Wort, das nicht in einem bildlichen Zusammenhang mit anderen steht. Es wundert nicht, denn Benjamin Myers ist auch Lyriker. Seine starke weibliche Hauptfigur des Romans ist ebenfalls eine Advokatin der Poesie, eine Verfechterin des Lyrischen.
 
"Offene See" ist einfach grandios, elegant und sprachlich einzigartig. Ich denke, wenn man in späteren Zeiten die Literaturklassiker der 2020er Jahre auflisten wird, wird man über diesen Roman nicht hinwegsehen können.

Herzlichen Dank an den Dumont Verlag sowie vorablesen für das Rezensionsexemplar!
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Dienstag, 14. April 2020

"Wir holen alles nach" von Martina Borger


 
Zwischen Hamsterrad und “letzten Malen”

Selten hat ein Titel besser zu seinem Roman gepasst, finde ich. "Wir holen alles nach" - eine oftmals leere Versprechung. Kann man im Leben überhaupt Dinge "nachholen"? Schwierig.

Die beiden Protagonistinnen des Romans, aus deren Sichtweise abwechselnd erzählt wird, stehen jeweils an anderen Stationen bzw. Wendepunkten ihres Lebens.

Sina ist die, die ihren achtjährigen Sohn Elvis ständig mit einem "Wir holen alles nach" vertröstet. Sie ist Mitte 30, in der Rushhour des Lebens sozusagen, und versucht Vollzeitjob (in einer Werbeagentur), Kind (sie ist alleinerziehend, der Vater lebt in einer anderen Stadt, zum Glück ist er gut situiert und zahlt seinen Beitrag) und neue Beziehung (mit Torsten, einem trockenen Alkoholiker) unter einen Hut zu bringen. Ein schwieriger Chef, die horrenden Lebenshaltungskosten in München und die vermeintlich perfekten Mütter der anderen Kinder machen ihr zusätzlich zu schaffen. Dazu kommt noch der Druck, dass Elvis es wenn möglich aufs Gymnasium schaffen sollte - doch der tut sich schwer in der Schule. Hier kommt Ellen ins Spiel.

Ellen hat das, was Sina gerade durchmacht, längst hinter sich gelassen. Die beiden Söhne sind erwachsen und schon lange aus dem Haus. Ihr Mann Jock ist mit Mitte 40 verstorben - das ist mittlerweile 25 Jahre her. Sie hatte neben ihrem Hausfrauendasein noch einen Teilzeitjob in einer Buchhandlung, inzwischen ist sie seit kurzem in Rente. Mit Ende 60 wird ihr bewusst, wie viel sie bereits zum “letzten Mal” getan hat und wie viel sie nie mehr tun wird. Eine Stelle, an der ich innerlich schlucken musste.

Ellen muss ihre kärgliche Rente mit einem Job als Zeitungsausträgerin und Nachhilfestunden aufbessern, damit sie sich ihre Wohnung in München und Reisen zu ihrer Freundin und zu ihren Söhnen, leisten kann. Sina wird auf Ellen aufmerksam und ihr Sohn Elvis wird deren Nachhilfeschüler. Daraus entwickelt sich eine generationenübergreifende Freundschaft, bei der auch Ellens Hund eine große Rolle spielt. Doch dann verändert sich Elvis plötzlich über Nacht…

Im Roman werden gesellschaftlich brisante und relevante Themen angesprochen, die sehr realitätsnah in den Lebensgeschichten der beiden Hauptfiguren gespiegelt werden. Zum einen die anspruchsvolle Situation von Alleinerziehenden, die zwischen dem Druck von außen und innen zermürbt werden. Man selbst muss Karriere machen und Geld verdienen, das Kind muss untergebracht werden, sollte beliebt sein und natürlich aufs Gymnasium, so dass ihm alle Chancen offen stehen. Dass zwischen Büro, Schule, Nachhilfe und Hort nur wenig Familienzeit bleibt, ist traurig, aber leider für viele Menschen die harte Realität. Daneben natürlich die Sache mit der Altersarmut, die bei Ellen in einer abgemilderten Form zum tragen kommt. Sie nagt nicht am Hungertuch, aber sie muss für einen gewissen aber doch eher bescheidenen Lebensstandard nochmal ran - wo andere längst mit der Arbeitswelt abgeschlossen haben.

Obwohl es es sich um eine eigentlich ganz alltägliche Geschichte handelt, die sich so in vielen deutschen Städten - vor allem aber tatsächlich in München - abspielen könnte, hat mich dieser Roman unheimlich berührt. Die zarte, menschliche Beziehung zwischen Elvis und Ellen, der stille Kampf Sinas um ein halbwegs normales, gutes Leben. Die Reflexionen Ellens über ihr Leben und über ihre Vergangenheit. Das hat alles eine ganz besondere Tiefe.

Martina Borger erzählt eine intensive, schnörkellose Alltagsgeschichte, die auf eine ganz besondere Weise berührt und unter die Haut geht. Absolut lesenswert!

Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar und Lovelybooks für die Leserunde!

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Montag, 13. April 2020

"Lenni Langohr - Ein Hase zum Verlieben" von Andrea Kuhrmann, Nadine Reitz (Ill.)


Erinnert sehr an eine andere Kinderbuch-Reihe

Das Bilderbuch "Lenni Langohr" richtet sich an Kleinkinder bzw. deren vorlesende Eltern. In sieben Kapiteln wird das Leben des kleinen Hasen Lenni, der in etwa einem zwei- bis dreijährigen Kleinkind entspricht, episodisch aufbereitet. Jede Geschichte enthält in der Regel pro Seite zwei Bilder, die mit kurzen beschreibenden Texten unterlegt sind. Die Kapitelanfänge sind ganzseitig auf einer Doppelseite bebildert. Solche Doppelseiten finden sich auch im Mittelteil mancher Kapitel, allerdings im Wimmelbuch-Stil. Hier sollen die Kinder zum Beispiel Musikinstrumente benennen oder die Einzelteile von Lennis Schrankinhalt. Das Buch hat einen weiteren interaktiven Aspekt, denn die Kinder werden auch im Text direkt angesprochen ("Siehst du…?", "Findet du?"). Hier werden die Kinder animiert, gehörten Text und gesehenes Bild in Verbindung miteinander zu bringen, sich also mit dem Bildinhalt spielerisch auseinanderzusetzen. Komplettiert wird dieser “Mitmach-Ansatz” von den Bastel-Anleitungen im Anhang.

Damit sich Kleinkinder mit dem Gelesenen identifizieren können, werden Situationen beschrieben, die fast jedem kleinen Kind geläufig sein dürften (Spielplatzbesuch, Zubettgeh-Rituale, Besuch der Großeltern, etc.). Ansonsten ist der Inhalt wahrlich nichts Neues, im Gegenteil. Das Buch erinnert sehr, sowohl inhaltlich (vermenschlichte Tiere, die für ein Kleinkind relevante familiäre Dinge machen) als auch strukturell (zwei Bilder pro Doppelseite, unterlegt mit ein bis zwei Sätzen Text, direkte Ansprache der Kinder) an die Reihe “Bobo Siebenschläfer”. Vor allem die Frühstücksszene im ersten Kapitel hat mich sehr an das entsprechende Kapitel bei Bobo erinnert.

Natürlich ist es nicht exakt das Gleiche, die Illustrationen sind anders (sehr süß übrigens) und auch die Familienkonstellation ist eine minimal andere (Lenni hat eine ältere Schwester, Bobo - erst in späteren Büchern - eine jüngere). Bobo hat einen Hasen als Kuscheltier (Hasi), Lenni eine Möhre (Möhrchen). Es stellt sich nur die Frage, braucht es eine zweite, sehr ähnliche Kinderbuch-Reihe? Wer “Bobo Siebenschläfer” kennt, wird viel aus diesen Büchern bei “Lenni Langohr” wiederfinden. Im Umkehrschluss heißt das natürlich auch, wer Bobo liebt und nicht genug von ihm kriegen kann, kann mit Lenni als Varianz absolut nichts falsch machen.



Herzlichen Dank an den Baumhaus Verlag und die Bloggerjury für das Rezensionsexemplar!
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Samstag, 11. April 2020

"The Doll Factory" von Elizabeth Macneal



Präparatoren, Präraffaeliten & Püppchen

Wenn ich gewusst hätte, dass es in diesem Buch um die Künstlergruppe der Präraffaeliten geht, dann hätte “The Doll Factory” noch eine größere Anziehungskraft auf mich gehabt als ohnehin schon. Das Versprechen einer viktorianischen Geschichte mit Gothic-Elementen war schon Leseanreiz genug für mich, aber das Thema Präraffaeliten ist das Tüpfelchen auf dem "i". Noch nie habe ich deren Geschichte in einem fiktionalen Werk verarbeitet gefunden (obwohl es bestimmt solche Romane gibt).

Die Handlung beginnt im London des Jahres 1850. Die Stadt bereitet sich auf die große Weltausstellung im Kristallpalast vor, die Ausstellungsstücke aus Kunst und Wissenschaft vereinen soll.

Im Gegensatz zu vielen anderen historischen Romanen kommt dieser hier mit einem sehr überschaubaren Personal aus. Im Zentrum stehen die drei Hauptfiguren Silas, Iris und Albie, aus deren Sicht die Geschichte abwechselnd erzählt wird. Wichtig sind auch noch Louis Frost, ein fiktionaler Präraffaelit, Iris’ “Love Interest” und künstlerischer Mentor sowie ihre Zwillingsschwester Rose. Die fiktiven Protagonisten werden von einigen historischen Charakteren aus dem Kreis der Präraffaeliten flankiert. Da wären der Maler John Everett Millais, mit dem der fiktive Louis Frost im Roman eng zusammenarbeitet, sowie der Dichter/Maler Dante Gabriel Rossetti und dessen Muse Lizzie Siddal.

Silas Reed ist Tierpräparator und besitzt einen Kuriositätenladen, in dem er seine Artefakte, wie z.B. Broschen aus echten Schmetterlingen, verkauft. Sogenannte Kuriositätenkabinette waren im England Königin Viktorias sehr beliebt. Jeder Haushalt, der etwas auf sich hielt, besaß eine Sammlung an kuriosen seltenen Dingen, die man zur Schau stellen konnte. Ein weiterer Absatzmarkt ist für Silas der Verkauf seiner ausgestopften Tierkörper an Kunstmaler, die die Tiere als Modelle für ihre Gemälde benötigen. Außerdem träumt er von der Ausstellung seiner “Kunstwerke” bei der Weltausstellung.

Silas ist der Vertreter des “Gothic” im Roman, ein merkwürdiger Zeitgenosse, der vom Charakter zwischen Frankenstein und einem Marquis de Sade changiert. Er ist der ungeliebte Sohn und Einzelgänger, der kein Glück in der Liebe hat.

Die weibliche Hauptfigur des Romans ist die 21-jährige Iris, die von einer Existenz als Kunstmalerin träumt. Bislang bemalte sie hauptsächlich Puppen in der Puppenmanufaktur von Mrs Salter (einer eher unangenehmen Person, die ständig im Laudanum-Rausch ist). Iris hat eine Zwillingsschwester, Rose, die ebenfalls dort arbeitet. Sie geben den Großteil ihres kärglichen Lohns abends an ihre Eltern ab, mit denen sie in ärmlichen Verhältnissen leben, um über die Runden zu kommen. Beide Schwestern sind körperlich versehrt, die eine durch ihre Pockennarben (Rose), die andere nur an einer Stelle durch ihren geburtsbedingten Schlüsselbeinbruch (Iris). Als Iris den präraffaelitischen Maler Louis Frost kennenlernt, bietet sich ihr die Gelegenheit, dem Elend der Puppenfabrik zu entkommen...

Sympathieträger des Buches ist sicher der ehrbare Straßenjunge bzw. “Urchin” Albie, der mit seiner älteren Schwester im Kohlenkeller eines Bordells haust und mit ansehen muss, wie sie sich der Prostitution hingibt, um über die Runden zu kommen. Er ist das Verbindungsglied zwischen Silas und Iris, denn er übernimmt sowohl für den Präparator als auch für die Puppenfabrik kleine Aufträge.

Der Titel "The Doll Factory" ist etwas irreführend, geht es doch eher um Silas' Fabrik der ausgestopften Tiere bzw. um die "Kunstfabrik" der Präraffaeliten. Die Puppenfabrik ist nur der Aufhänger bzw. ein Nebenschauplatz des Geschehens.

"The Doll Factory" ist die düstere Geschichte einer Obsession, die einen nicht mehr loslässt. Es geht um Stalking, um unerwiderte Liebe - ein großes, altes Thema in der Literatur. Hier wurde es mal wieder mit Bravour aufbereitet. Dieses Buch ist etwas für Fans des viktorianischen London, für Liebhaber von Jess Kidds’ Büchern oder den Filmen von Tim Burton (allerdings ohne Fantasy-Elemente, die Realität ist hier creepy genug). Und natürlich für alle, die die präraffaelitischen Gemälde oder einfach eine sehr gute historische Geschichte mit Thriller-Elementen lieben.

Herzlichen Dank an die Bloggerjury und den Eichborn-Verlag für das Rezensionsexemplar!
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Sonntag, 5. April 2020

"Alfie und der Clownfisch" von Davina Bell, Allison Colpoys (Ill.)


 

Künstlerisch wertvolles Bilderbuch

Das "beste australische Kinderbuch des Jahres 2018", als das es der Klappentext ausweist, handelt vom schüchternen Jungen Alfie. Er soll das Unterwasser-Kostümfest seiner Schule besuchen, das Seestern-Kostüm, das er seinen Eltern vorgeführt hat, liegt schon bereit. Aber Alfie hat Albträume und fürchtet sich vor der Teilnahme an der Party. Am nächsten Tag ist er sich sicher, dass er nicht hingehen möchte. Seine Mutter fährt stattdessen mit ihm zu einem Aquarium. Dort entdeckt er einen Clownfish, den er toll findet. Leider ist der scheue Fisch schnell wieder zwischen den Korallen verschwunden. Alfie und der Clownfisch haben also einiges gemeinsam. Das nächste Kostümfest möchte er als Clownfisch besuchen.

Das im Insel-Verlag erschienene Buch ist wunderschön gestaltet. Mit Schimmerffekten auf dem Cover und einer besonderen Farbgebung sticht es in jedem Fall hervor. Die Farben sind auf jeder Seite gleich, ein kräftiges Dunkelblau und Neonorange bestimmen das ansonsten pastellige Farbbild. Die Menschen sind in einem zeitlosen Vintage-Stil gezeichnet. Künstlerisch ist das Buch also in jedem Fall wertvoll.

Im Buch verschwimmen Realität und Fantasie im wahrsten Sinne des Wortes. Bei der Rückfahrt vom Aquarium sitzen Mama und Alfie in einem an die 1960er Jahre erinnernden Bus, in dem Tiere mit Kleidung als Fahrgäste mit ihnen im Bus sitzen, ein Pinguin ist der Fahrer. Auch sonst bestimmen Träume, Erinnerungen, Vorstellungen und Verkleidungen die Bilderbuchwelt, die Unterwasser-Szenerien wirken ebenfalls unwirklich, schließlich ist die Unterwasserwelt ja ein geheimnisvoller Kosmos für sich.

Das Thema des Buches ist Hochsensibilität und Schüchternsein. Alfie versteckt sich lieber vor der Welt, als aktiv an ihr teilzunehmen oder gar im Mittelpunkt zu stehen. Seine Eltern werfen ihn aber nicht ins kalte Wasser, machen ihm keinen Druck, sondern lassen ihn selbst entscheiden, ob er sich zurückziehen möchte oder nicht - gelebtes “Attachment Parenting” also. Ob die Analogie mit dem Clownfisch von der Mutter beabsichtigt war oder nicht, geht aus der Handlung nicht ganz hervor. Das wäre auch schon meine leichte Kritik an dem Buch, dass es vieles ungesagt lässt. Etwas schöner hätte ich es gefunden, wenn die Mutter Alfie explizit mit dem Clownfisch verglichen hätte, so dass es auch kleine Kinder etwas besser verstehen.

Ein schönes Kinderbuch mit wichtigem Thema, das allerdings vor allem künstlerisch besticht und weniger als Vorlesebuch.

Herzlichen Dank an den Insel Verlag und Vorablesen Junior für das Rezensionsexemplar!
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