Donnerstag, 29. Februar 2024

"Yellowface" von Rebecca F. Kuang


Über Autor:innenschaft, Shitstorms und Pancakes

Marilyn Monroe sagte einst “Neid ist der Schatten, den der Erfolg wirft”. Neid gibt es überall, wo Menschen in gesellschaftlichen Beziehungen zueinander stehen. Neid gibt es auch in einer Branche, mit der wir Leser:innen es tagtäglich indirekt zu tun haben: der Buchbranche. Selten ist es allerdings, dass dieser Neid offen thematisiert wird. Meistens findet er nur hinter verschlossenen Türen der Verlage und Autor:innenaccounts statt. Wirklich niemand möchte gerne zugeben, dass er/sie neidisch ist. Neid lässt einen schlecht und missgünstig wirken und keine/r möchte am Ende des Tages überhaupt neidisch sein, wenn er/sie in den Spiegel schaut. 

Auch June, die Protagonistin von Rebecca Kuangs Roman “Yellowface” (übersetzt von Jasmin Humburg, auf Deutsch erschienen bei @eichborn) möchte nicht neidisch sein auf ihre Freundin Athena Liu - und ist es trotzdem. Athena, die wunderschöne Schriftstellerin mit asiatischem Migrationshintergrund, die es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschafft hat. Athena ist alles, was ihre Collegefreundin June gerne wäre, vor allem aber lebt sie als erfolgreiche Schriftstellern ihren Traum, während Junes Romandebüt floppte und sie einem Brotjob nachgehen muss. Doch als Athena bei einem Treffen der beiden, in Washington D.C. lebenden Freundinnen, stirbt, bietet sich June die Gelegenheit ihres Lebens: Sie klaut das gerade fertiggestellte Manuskript von Athenas Geheimprojekt “Die letzte Front”. Ob sie damit durchkommt oder nicht, darum geht es in “Yellowface”.

Kuang karikiert in ihrem Roman die US-amerikanische Buchbranche und seziert ihre Mechanismen und Praktiken, die mitunter alles andere als einwandfrei sind. Er führt einem die Tatsache vor Augen, dass diese Branche vor allem eins ist: schnelllebig. Selbst die Halbwertszeit von Bestsellern ist gering und sollten Bücher nicht zu Klassikern mutieren, werden sie schnell von Neuheiten verdrängt. Eine oberflächliche Branche wie so viele andere auch, die seit der Existenz des Internets allerdings genau beäugt wird. Autor:innen sind transparenter geworden und werden nicht selten zur Zielscheibe von Trollen. Wenn natürlich einem Autor/einer Autorin ein schwerwiegendes Vergehen anzulasten ist, wie im Fall von June das Plagiat, dann sind Shitstorms hausgemacht: Der Diebstahl von geistigem Eigentum ist kein Kavaliersdelikt. Urheberrecht und Autor:innenschaft sind nicht verhandelbar.

Ein weiteres Thema bringt der Roman zur Sprache: Darf man als weiße Autor:in überhaupt etwas über chinesische Zwangsarbeiter während des Ersten Weltkriegs schreiben oder ist das kulturelle Aneignung? Kein einfaches Thema und sicher ist es nicht eindeutig zu beantworten, wo die Grenzen zwischen Kunstfreiheit und kultureller Aneignung liegen. June jedenfalls ist der Meinung, dass die Verlagswelt heutzutage vor allem auf Autor:innen setzen würde, die queer sind und/oder über einen Migrationshintergrund verfügen würden - und dadurch würde sie als weiße heteronormative Frau ins Hintertreffen geraten. Letztlich gibt sie der Gesellschaft die Schuld für ihre Erfolglosigkeit und stellt das eigene Talent dabei nie wirklich in Frage. June belügt sich selbst und stellt ihren eigenen moralischen Kodex auf stumm.

June ist süchtig nach der Magie des Schreibens: “Schreiben heißt, etwas aus dem Nichts zu erschaffen, Türen zu anderen Welten zu öffnen. Schreiben gibt dir die Kraft dein eigenes Reich zu formen, wenn die Realität zu sehr schmerzt.” Das ist einer der wenigen Sätze, bei denen man eine Art Mitgefühl für June aufbringen kann. Die meiste Zeit gingen mir aber ihre Selbstgerechtigkeit und ihr Selbstmitleid auf die Nerven. 

“Yellowface” ist ein oberflächlich perfekter Roman über die Entstehung eines Romans, über das Schreiben eines Schlüsselromans und auch ein “Roman im Roman”. Meta- und Intertextualität lauern hier also überall. Die Geschichte ist unterhaltsam, der Stil ist geschliffen und passt perfekt zum Plot. Warum habe ich dann keine 5 Sterne gegeben? Ich kann nur eine vage Erklärung geben: Mir hat etwas gefehlt, das ich nicht benennen kann. Bei Menschen sagt man, es gibt “das gewisse Etwas”, also dieses bisschen Mehr, das uns jenseits aller Perfektion in den Bann zieht. Vielleicht kann man auch sagen: Charisma, dem Roman fehlt Charisma. Außerdem fehlt ihm eine sympathische und vielschichtige Protagonistin. Aber das mag vielleicht nur ich so sehen. Unterhalten wird einen dieser Roman auf jeden Fall, wenn man mal hinter die - überspitzt dargestellten - Kulissen der Verlagsbranche blicken will.

PS: Ach ja, ich kann jetzt wahrscheinlich nie wieder (amerikanische) Pancakes essen, ohne an eine gewisse Szene aus “Yellowface” zu denken. Also wenn ihr die Dinger mögt, lest das Buch lieber nicht.

Triggerwarnung: Cybermobbing, Rassismus, Tod

Herzlichen Dank an @eichbornverlag und @vorablesen für das Rezensionsexemplar!


Samstag, 24. Februar 2024

"Passing" von Nella Larsen

Triggerwarnung: In diesem Roman geht es um Rassismus. 

Hautfarbe ist eigentlich nur eine genetische Variation, so wie Augen- und Haarfarbe. Leider wird die Hautfarbe aber anders gesehen. Sie ist mit soziokultureller Bedeutung aufgeladen und Rassismus ist leider real und existent. Das war er auch schon so vor 200 und 100 Jahren, etc. Im Rahmen des “Black History Month” habe ich jetzt endlich ein Buch gelesen, das ich schon lange lesen wollte. Es macht den Rassismus im Amerika der 1920er Jahre so erfahrbar, wie ich es selten in der Literatur gelesen habe. Es handelt sich um “Passing” von Nella Larsen (1891-1964), eine Autorin, die in den Kreis der Autor:innen der “Harlem Renaissance” einzuordnen ist.

Wow, was für eine erzählerische Kraft steckt in diesem kleinen Büchlein, in diesem Kurzroman. Es geht um die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Schichten und die Frage, ob es durch die Hautfarbe für immer determiniert ist, zu welcher dieser Schichten man gehört. Ist ein “Passing” also ein Wechsel auf die andere Seite möglich? Ist es im Amerika der 1920er Jahre (die Handlung spielt 1925/27, der Roman ist 1929 erschienen) für eine Person of Colour machbar, diesen Seitenwechsel in eine vermeintlich “bessere” Schicht zu vollziehen? Ist es der gesellschaftliche Aufstieg wirklich wert, die eigenen Wurzeln, die Community, in der man aufgewachsen ist und die einen geprägt hat, hinter sich zu lassen und die eigene Herkunft zu verleugnen?

Es geht um die beiden Kindheitsfreundinnen Clare und Irene, beide eher hellhäutige schwarze Frauen aus Harlem, New York. Während Irene einen schwarzen Arzt heiratet und in der Black Community von Harlem lebt, versucht Clare als weiß durchzugehen und heiratet einen weißen  Mann aus Chicago. Clares Mann ist durch und durch Rassist und sie verschweigt ihm ihre wahre Ethnie. Die beiden Frauen treffen sich im Erwachsenenalter wieder und Clare möchte gern mit Irene befreundet sein. Die findet es aber schwierig, eine freundschaftliche Beziehung mit Clare aufzubauen, da sie sich ja für die Gesellschaft von weißen Menschen entschieden hat. Auch dass Clare ihrem Mann ihre wahre Herkunft verschweigt, wird immer mehr zu Irenes Problem und schließlich nimmt das Unglück seinen Lauf…

Der Rassismus in diesem Buch ist einfach erdrückend und schockierend. Es ist zum einen der Rassismus von Women of Colour, die gut situierte und in ihrem Beruf erfolgreiche weiße Männer geheiratet haben und nun ihr ethnisches Erbe hinter sich lassen wollen. Diese Frauen diskutieren beim Five o'Clock Tea darüber, wie schlimm es gewesen wäre, wenn ihre Kinder schwarz auf die Welt gekommen wären: “But, of course, nobody wants a dark child.” Und hat man diesen Schock gerade hinter sich als Leser:in, kommt auch schon der weiße Ehemann um die Ecke und begrüßt seine Frau vor ihren Freundinnen mit einem rassistischen Spitznamen (ohne ihre ethnische Herkunft zu kennen, einfach weil er findet, dass sie immer “dunkler” wird). 

Nella Larsen ist eine beeindruckende Autorin. Ihre Protagonistinnen Clare und Irene sind trotz der Kürze des Romans fein ausgearbeitet und wären nicht die historischen Marker, hätte man wirklich das Gefühl, man würde einen modernen Roman lesen. Leider ist auch der Inhalt erschreckend aktuell, wenn man sich die politische Lage derzeit wieder anschaut und mit der Situation vor 100 Jahren vergleicht. In jedem Fall ist dieses Buch ein Appell an die Menschlichkeit und daran, die eigenen Stereotype (wenn man sie denn haben sollte), zu hinterfragen und den Rassismus endlich in die Mottenkiste der Vergangenheit zu verbannen.

“Passing” ist für mich ein wiederentdeckter Klassiker, den ich wirklich allen empfehlen kann, die sich mit (historischem) Rassismus auseinandersetzen wollen.

Montag, 19. Februar 2024

"Geordnete Verhältnisse" von Lana Lux

Kafka - sein Tod jährt sich dieses Jahr ja zum 100sten mal - schrieb in einem seiner Briefe, “man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen [...] [und] mit einem Faustschlag auf den Schädel” wecken. Ich weiß nicht, ob sich Lana Lux dieses Zitat besonders zu Herzen genommen hat, als sie ihren dritten Roman “Geordnete Verhältnisse” geschrieben hat. Jedenfalls musste ich an diese Worte denken, als ich den Roman beendet hatte. Das Buch ist nämlich eines, das bei manchen Lesenden eine solche drastische Wirkung zu haben vermag. Es ist ein unbequemer und verstörender Roman über zwei Menschen, die eine neue Form des Zusammenlebens, der zwischenmenschlichen Koexistenz ausprobieren und letztlich an ihren eigenen Persönlichkeiten, die von Kindheitstraumata und psychischen Krankheiten beherrscht werden, scheitern. 

Es geht um die beiden Protagonist:innen Philipp und Faina, die einander seit ihrer gemeinsamen Grundschulzeit alles bedeuten. Vor allem Philipp ist auf Faina bis zur Obsession fixiert. Philipp wächst zunächst in Gelsenkirchen bei seiner Tante und deren Familie auf, da seine eigene Mutter alkoholkrank ist und nicht für ihn sorgen kann. Als er sechs Jahre alt wird, holt ihn diese zu sich und die gemeinsame Zeit mit ihr ist von Höhen, aber noch weitaus mehr von Tiefen geprägt. In der dritten Klasse lernt er Faina kennen, die aus der Ukraine stammt und seit wenigen Monaten mit ihrer jüdischen Familie in Deutschland lebt.

Nicht nur eine imminente Seelenverwandtschaft und der jeweils bei beiden unterschiedlich ausgeprägte dysfunktionale Familienhintergrund ist es, der die Außenseiter:innen miteinander verbindet, sondern auch ihr äußeres marginalisiertes Erscheinungsbild: Sie sind beide von Natur aus rothaarig, sommersprossig und extrem hellhäutig, eine Steilvorlage für Mobbing seitens der Mitschüler:innen und in Philipps Fall sogar der eigenen katholischen Tante, die in ihm den reinkarnierten Satan zu erkennen vermag. Philipp und Faina beginnen eine Freundschaft, die mit zunehmendem Alter der beiden in eine Schieflage gerät, sprich: Aus der Freundschaft wird eine toxische Abhängigkeit voneinander, die zusammen mit Philipps Hang zur Aggressivität eine fatale Mixtur ergeben. Als die bisexuelle Faina nach einem Auslandsaufenthalt von einer Affäre schwanger wird und sich von ihrer Lebensgefährtin trennt, bietet sich für den asexuellen Philipp die Möglichkeit, mit Faina eine Familie nach dem Modell des Co-Parenting zu gründen. Wird sich sein Wunsch nach “geordneten Verhältnissen” erfüllen? Wer die Autorin Lana Lux und ihre Werke kennt, kann sich sicher sein, dass die Antwort auf diese Frage nur “nein” lauten kann.

Ich hatte etwas Probleme die Chronologie der Beziehung von Philipp und Faina richtig zu erfassen. Da die meisten Ereignisse rückblickend erzählt werden, wird viel ausgelassen, was man sich beim Lesen erschließen muss. Manche Dinge werden nicht richtig erklärt und entweder ist die Logik bzw. Reihenfolge der Handlungselemente falsch oder ich habe es nicht richtig verstanden. Irgendwie dachte ich anhand ihrer erzählten Gedanken, Faina wurde Anfang 2012 schwanger (weil sie sowas sagt wie das Jahr 2012 wäre auch schon auf dem Weg ein schlechtes zu werden und da war es April 2012). Und dann ist es aber im nächsten Kapitel Sommer 2013 und sie ist im 6. Monat. Philipp erzählt außerdem, dass sie nach einem Scan nach Hause gekommen sei und gesagt habe, das Baby sei ein Junge. Später erfahren wir aber, dass sie ein Mädchen bekommen hat. Wieso, weshalb, warum wird nicht erklärt, also ob sich die Ärztin geirrt oder Faina ihn angelogen hat. Philipps Geburtstag, gleich im ersten Satz genannt, ist der 3. März und Faina sagt später bei dem Code zum Kleiderschrank 1303, dass das sein Geburtstag sei. Ich weiß bei solchen Logik- Inkongruenzen immer nicht, ob es Fehler des Lektorats sind, oder ob ich irgendetwas nicht kapiere.

Wie auch immer, die Story ist hoch interessant und originell, weil sie Aspekte in sich vereint, die für mich in der aktuellen Belletristik noch nicht sehr prominent stattfinden. Zum Beispiel einen männlichen Protagonisten zu präsentieren, der asexuell ist. Es wird im Buch leider - anders als bei Fainas Bisexualität - nicht explizit so genannt, aber aus Philipps Gedankenstrom und seinen Handlungen kann man das ganz klar so herauslesen. Sexualität ist für ihn ein Graus und eine niedere widerwärtige Handlung, die er nicht mal mit Faina möchte, der einzigen Person, die er auf Dauer ertragen kann. Er “liebt” sie auf einer Ebene, die jenseits aller Körperlichkeit liegt. Er sagt einmal so in etwa, er sieht sie als externalisierten Teil von sich selbst. Im Grunde liebt er also wahrscheinlich nur sich selbst, was auch sein aggressives Verhalten gegenüber Faina erklären würde. Schließlich hat er auch für alle anderen Menschen meist nur Verachtung übrig.

Das Thema Co-Parenting ist auch eines, über das ich noch nicht oft etwas gelesen habe. 

Leider sind sowohl die Asexualität als auch das Co-Parenting im Roman negativ konnotiert, weil Philipp kein positiv besetzter Charakter ist und das Co-Parenting sehr schnell zum Scheitern verurteilt ist. Auch Fainas Bisexualität wird in ihrem Fall zur Hypersexualität, weil sie bis zu ihrer Schwangerschaft ein überaus aktives Sexleben (sowohl privat als auch beruflich als Sexarbeiterin) führt. Hier werden die beiden queeren Lebensstile Ace und Bi zu Extremen stilisiert und letztlich gegeneinander ausgespielt. 

Man könnte sagen, “Geordnete Verhältnisse” ist ein utopischer Roman, denn er erzählt von einer Utopie, der Utopie der Normalität und ihrer gewaltsamen Dekonstruktion. Wir moderne Menschen des 21. Jahrhunderts wünschen uns manchmal nichts mehr als ein Leben, das sich durch Ordnung und Klarheit auszeichnet. Allzu oft wird uns dieser Wunsch aber verwehrt, sei es durch eine traumatische Kindheit oder toxische Beziehungen im Erwachsenenalter. Ein feministischer Roman ist dieses Buch ganz klar, denn es erzählt von einer Frau, die in einer sozialen, psychischen und materiellen Abhängigkeit zu einem Mann gefangen ist. Das Machtgefälle zwischen Frau und Mann wurde von Lana Lux’ präziser Prosa, die nicht selten auch Momente des Komischen enthält, gekonnt eingefangen. Zudem geht es darum, wie unsere Herkunft uns determiniert sowie um Fragen der Integration. Ein wirklich sehr gelungener Roman, den ich allen ans Herz legen möchte, die auch etwas härteren Lesestoff gut aushalten können.

Triggerwarnungen: Gewalt, Femizid, psychischer Missbrauch, Drogen, Alkohol 

Herzlichen Dank an Hanser Berlin und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

Samstag, 17. Februar 2024

"Krummes Holz" von Julja Linhof


Neulich habe ich in einem Feuilleton-Artikel gelesen, dass Romane, deren Handlung in einer ländlichen Gegend bzw. der Provinz angesiedelt ist, derzeit einen Boom erfahren würden. Erzähler:innen hätten die Natur und die rurale Umgebung als Schauplatz wiederentdeckt. Das Stichwort Heimatroman ist seit jeher eher negativ behaftet, erlebt aber im Bereich der Belletristik eine intellektuelle Umwidmung. Die Probleme und Traumata, die ein Aufwachsen auf dem Land neben der räumlichen Weite, die es bietet, auch bedeuten können, sind dann oft Gegenstand solcher Romane. Auch Julja Linhof hat sich in ihrem Debütroman "Krummes Holz (benannt nach einem Zitat von Kant, das sie ihrem Buch voranstellt), an das Thema Land herangewagt.

Die Handlung spielt völlig im ländlichen Nordrhein-Westfalen. Zum erzählten Zeitraum später mehr. Es geht um den 19-jährigen Jirka (eigentlich Georg). Der Internatsschüler war seit fünf Jahren nicht auf dem elterlichen Hof, auf dem sein Vater Georg, die demente Großmutter Agnes und die Schwester Malene leben. Auf dem landwirtschaftlichen Betrieb von Jirkas Familie wird vor allem Getreide angebaut, das Anbauen von Obst im großen Stil ist allerdings gescheitert.
Neben Georg, Malene und - zumindest früher- wechselnden Saisonarbeitern, arbeitet auch der knapp zehn Jahre ältere Leander auf dem Hof, der Sohn des ehemaligen Verwalters. Was zwischen Jirka und Leander in der Vergangenheit vorgefallen ist, erfahren wir stückchenweise. Auch die jeweils mit großen Problemen und gegenseitigen Verletzungen behaftete Beziehung Jirkas zu seinen Familienmitgliedern wird nach und nach deutlich. Erzählt wird die Geschichte einzig aus der Perspektive Jirkas. Die Gegenwartshandlung wird unterbrochen von Flashbacks, in denen der Protagonist gedanklich die Vergangenheit heraufbeschwört. Es sind Dinge, Orte, Räume und die Umgebung rund um das elterliche Haus, die diese Erinnerungen jeweils triggern und zum Vorschein bringen. Zeit wird fluide und was gestern oder heute ist und war wird immer mehr zu einem Ganzen: “Ich starre in den offenen Kühlschrank, während Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen und eins werden.” (S. 203)

Was mich etwas stört, sind die nicht vorhandenen Zeitangaben bzw. der kryptische Umgang damit. Ich bin kein großer Fan davon, wenn man sich in Romanen als Leser*in mühsam erarbeiten muss, in welchem Jahr oder gar Jahrzehnt man sich befindet. Natürlich gibt es versteckte Hinweise im Setting, die auf die 1980er Jahre hindeuten: Walkman, Wählscheibentelefone, Neue Deutsche Welle im Radio, Zwanzigmarkscheine im Geldbeutel. Aber es wird nicht eine Jahreszahl direkt genannt. Die demente Großmutter wird einmal von Jirka gefragt, welches Jahr wir haben, aber sie antwortet nicht. Warum solche Infos, die den Lesenden zur Orientierung dienen würden, ausgelassen werden, verstehe ich nicht. Warum um den Zeitpunkt der Handlung so ein Geheimnis machen? Thematisiert wird, dass Jirkas Vater im Krieg war und damit die Generation der Kriegsheimkehrer, die ihre Traumata nicht aufarbeiten konnten oder durften und stattdessen ihre Familie tyrannisierten. Gegessen darf nur, solange der Hausherr isst. Solche Sachen, die heute jeder als Psychoterror erkennt.

Dass mit Jirka ein queerer Protagonist erzählt wird, ist ein großes Plus dieses Romans. Auch hier wäre es interessant gewesen, etwas näher auf die gesamtgesellschaftliche Situation der Zeit einzugehen, schließlich wurden homosexuelle Beziehungen auf dem Land vor 30,40 Jahren noch anders gelebt als heute.

Bildgewaltig ist dieser Roman, auch wenn die Metaphorik manchmal etwas über das Ziel hinausschießt, was bei einem Debütroman nicht unüblich ist. Die Atmosphäre auf dem Land zur Erntezeit im Sommer wird sehr schön wiedergegeben, auch die Spannungen unter den Charakteren werden anschaulich ausgearbeitet.

Das Buch hat einen spröden Charme, der sich für mich erst im letzten Drittel vollends entfalten konnte. Vor allem die Beziehung zwischen Jirka und Leander hat mir sehr gut gefallen, leider endet der Roman genau an dem Punkt, wo es interessant geworden wäre. Das Ende in Bezug auf Georg hat dem ganzen Roman einen leicht grotesk-unrealistischen Anstrich verliehen, den ich nicht unbedingt gebraucht hätte.

Im Ganzen hat mir die Geschichte aber etwas gegeben und ich kann sie allen empfehlen, denen die Themen queere Liebe, Heimkehr und Provinzsetting am Herzen liegen.


Mittwoch, 14. Februar 2024

"Book Love" von Debbie Tung


Heute ist Valentinstag und ich habe beschlossen, einen Beitrag zu der Form der Liebe zu machen, die uns alle vereint. Egal welche sexuelle Orientierung wir haben, ob wir Single sind oder seit Jahren vergeben, ob wir Kinder und Familie haben, die wir lieben oder nicht. Die Liebe zu Büchern ist uns - zumindest hier bei #bookstagram - allen gemeinsam. Wer Bücher liebt, kann sich einer lebenslangen “Love Story” sicher sein und zudem Hunderte von Liebesgeschichten hautnah mit erleben.

Debbie Tung hat in ihrer Graphic novel “Book Love” (auf Deutsch unter demselben Titel bei Loewe Graphix erschienen) dieser Liebe ein Gesicht gegegeben und zwar in Form einer jungen Frau (ich würde sie so um die zwanzig schätzen), die Bücher und natürlich auch das Lesen über alles liebt. Dieses Buch ist einfach bezaubernd und ein Must Read für jeden Bücherwurm, das man - ohne Störungen - in weniger als einer Stunde verschlungen haben dürfte. Tung zeigt uns Szenen im Leben eines “Book Lovers”, die uns allen bekannt vorkommen dürften. Sie zeigt, was Bücher mit uns machen, welche emotionale Verbindung wir zu ihnen aufbauen können und welche Dramen daraus erwachsen, wenn der Beziehung “Book Lover” und Buch von der Außenwelt Steine in den Weg gelegt werden. Zum Beispiel in Form des Discount-Sticker, der nicht abgehen will und später Kleberückstände auf dem Cover hinterlässt (I'm also talking about you, Spiegel Bestseller!). Oder wenn wir am Lesen gehindert werden durch irgendeinen “Real Life Stuff”. Die Comics zeigen, dass wir durch Bücher klüger werden und allenfalls finanziell ärmer. Dass Bibliotheken und Buchläden unser zweites Zuhause sind. Dass wir einem Nervenzusammenbruch nahe sind, wenn wir bezüglich des Inhalts eines Buchs gespoilert werden. Die Schwächen von uns Bücherwürmern werden liebevoll karikiert: Brauchen wir ein und dasselbe Buch wirklich in mehreren Ausgaben? Müssen wir ein ausgelesenes Bibliotheksbuch nach der Rückgabe wirklich kaufen, weil es uns so gut gefallen hat, nur damit es bei uns im Regal rumsteht? Lesen wir lieber als uns mit gesellschaftlichen Konventionen auseinanderzusetzen? Die Antwort auf all diese Fragen lautet natürlich: Ja, meistens schon.
Das schönste Geschenk für uns Bücherwürmer sind natürlich Bücher, aber über die geschenkten Blumen freuen wir uns natürlich auch: Wir machen daraus ein tolles Buchfoto für Social Media. Gut dass uns Debbie Tung auch Buchtipps gibt (“Some Amazing Books”). Eins meiner Lieblingsbücher ist gleich das erste oben links auf der Empfehlungsliste - noch ein Grund “Book Love” zu lieben!

Also ich bin - passend zum Valentinstag - ganz verliebt in dieses Büchlein, das sich wirklich in jeder Bibliothek gut macht und das man immer wieder zur Hand nehmen kann und will. Lesen und freuen!


Donnerstag, 8. Februar 2024

"Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" von Haruki Murakami


Seit ich mich mit Buchbloggen beschäftige, schaue ich mit Faszination und Skepsis auf den Hype um den japanischen Autor Haruki Murakami. Die glühende, nahezu kultische Verehrung, die ihm zuteil wird, ist ein Phänomen, das ich sonst nur aus der Literaturwissenschaft kenne, wo diese Verehrung bereits lange verstorbenen klassischen Autor*innen entgegengebracht wird. Aber Murakami erfreut sich mit seinen frisch 75. Jahren zum Glück bester Gesundheit, sein Gesamtwerk ist (wahrscheinlich) noch nicht abgeschlossen und auch die jedes Jahr im frühen Oktober aufflammende Hoffnung, dass er nun endlich den Nobelpreis für Literatur erhalten möge, ist bei seinen Anhänger*innen noch nicht erloschen. Ich persönlich hatte bis zu “Die Stadt und ihre ungewisse Mauer” noch nichts von ihm gelesen. Im Haus meiner Mutter, wo die Bücher von mir lagern, die ich nicht unbedingt um mich haben muss, gilbt eine an die 20 Jahre alte englische Taschenbuchausgabe von “Kafka am Strand” vor sich hin. Wahrscheinlich habe ich während meines Studiums mal gehört, dass der Autor gut sein soll und es dann einfach nicht weiterverfolgt. 
Warum ich dann jetzt doch zum Bestseller und Hype-Buch des Jahres gegriffen habe? Die reine Neugier - und ein bisschen auch das omnipräsente Marketing sowie das Gefühl, ich könnte die beste Literatur des Jahres verpassen. Eigentlich wollte ich das Buch nach dem Kauf noch etwas länger auf dem SUB lassen, doch meine Tochter wollte unbedingt meine nächste Lektüre auswählen und wurde von dem pastellfarbenen Cover mit der schwarzen Schrift nahezu magisch angezogen. Und um Magie geht es ja auch in diesem Werk, wo das Irrationale zwischen dem Rationalen wie ein Fluss in seinem natürlichen Lauf hindurchfließt. Dieser Roman ist wie ein einziger großer surrealistischer Traum. Einer, den jemand bis ins kleinste Detail erinnert und aufgeschrieben hat. Nicht umsonst geht es ja in der Handlung um Traumleser und ein Archiv der Träume. Das Buch ist so vieles. Es ist kryptisch, skurril, kafkaesk, philosophisch, magisch, surreal. Es ist romantisch und melancholisch. Und noch so viel mehr.

Ich muss sagen, es hat ein wenig gedauert, bis ich mich in die Geschichte “reingefuchst” habe. Die imaginierte bzw. geträumte Story mit der Stadt innerhalb der Mauer wirkte auf mich sehr skurril und auch ein wenig befremdlich. Die Sache mit den Schatten trug noch mehr zu meiner Verwirrung bei, die Handlung in der Stadt ist eine einzige große Wiederholung und man hat das Gefühl, man würde sich zusammen mit den Figuren durch Wackelpudding bewegen. Ich dachte also schon: Murakami und ich, das wird nichts. Je mehr aber der Erzählstrang des Ich-Erzählers auf der “realen” Ebene ausgearbeitet wurde, desto mehr hat mir das Gelesene gefallen. Bei Teil II hatte mich dann der Sog erwischt und ich legte das Buch immer widerwilliger zur Seite. Das Ineinandergreifen von Magie und Realismus hat mich überzeugt und ich verstand immer mehr, warum Murakami so geliebt und verehrt wird.

Was mir auch sehr gefallen hat, war die Intertextualität und die vielen Metaebenen, die der Roman vorweisen kann. Murakamis Bücher werden ja häufig mit der Gattungszuschreibung “Magischer Realismus” in Verbindung gebracht. Gegen Ende des Romans (S. 557f) verwendet der namenlose Ich-Erzähler den Begriff quasi selbstreferenziell in Bezug auf “Die Liebe in Zeiten der Cholera” von Gabriel García Márquez, das seine Freundin aus dem Coffeeshop liest. Da der Ich-Erzähler als Buchhändler bzw. später als Bibliothekar arbeitet, kommen solche Referenzen häufig vor und auch literarische Vorbilder von Murakami, wie z.B. Kafka, werden im Laufe der Handlung erwähnt.

Und aus diesen Grund möchte ich diesen Leseeindruck - denn eine fundierte Rezension dieses 631 Seiten starken, von Ursula Gräfe kongenial übersetzten Werks traue ich mir nicht zu, da ich einfach keine Murakami-Kennerin bin - mit den Worten eines Dichters abschließen. Murakami hat seinem Roman ein Zitat aus “Kubla Khan” von Samuel Taylor Coleridge vorangestellt. Seltsamerweise habe ich auch oft, während ich den Roman gelesen habe, an ein Gedicht von Coleridge denken müssen. Dieses Gedicht ist für mich die Essenz dessen, welches Gefühl es erzeugt, “Die Stadt und ihre ungewisse Mauer” zu lesen und zu verinnerlichen.

What if you slept
And what if
In your sleep
You dreamed
And what if
In your dream
You went to heaven
And there plucked a strange and beautiful flower
And what if
When you awoke
You had that flower in your hand
Ah, what then?

(Samuel Taylor Coleridge)

Bin ich jetzt auch Murakami-Fan? Jein. Ich glaube nach diesem Roman bin ich erstmal vorsichtig interessiert, mehr von ihm zu lesen.