Donnerstag, 23. September 2021

"Der Brand" von Daniela Krien

 

Erdrückend wie ein zäher Hochsommertag [Kurzrezension]

"Der Brand" war in der Schmökerbox Juni, sonst hätte ich wohl eher nicht dazu gegriffen. Aber ich habe es gelesen und muss sagen, ich bin leider enttäuscht. Es gab viele euphorische Rezensionen zu diesem Roman, aber was ich vorfand war eine für meine Begriffe langweilige Story über ein "um die 50"-Paar, dem die Leidenschaft abhanden gekommen ist. Erst dachte ich es würde sich um ein viel älteres Ehepaar handeln und war dann doch sehr überrascht dass die Protagonistin "erst" 49 ist, mitten in den Wechseljahren und noch voll im Berufsleben (sie ist Psychologin) steckt. “Er” ist zu allem Überfluss auch noch Literaturprofessor im besten Professorenalter (55). Psychologin und Literaturprofessor, das klingt wie am Reißbrett entworfen und schon tausendmal gehört. Noch dazu wirken sie in diesen "Rollen" nicht besonders authentisch, denn welcher Literaturprofessor muss Hölderlins "Hälfte des Lebens" erst memorieren? Und “sie” wirkt eher wie eine Küchenpsychologin auf mich wenn sie ihrer Tochter dauernd unterstellt aus allem ein Drama zu machen. Aber generell verhalten sich die beiden eher wie zwei Leute, die bereits das Rentenalter überschritten haben. Auch ihr Denken wirkt altbacken und schwerfällig. Die Handlung spielt sich an drei schwülen Augustwochen ab und man wünscht sich als Leserin in der Tat die Kühle des Herbstes in Form eines Endes der zähen und ereignisarmen Handlung herbei.

Der titelgebende Brand des Ferienhauses, der die Pläne des Paares in die Uckermark statt nach Bayern führt, wird nur am Anfang kurz erwähnt. Das macht das Buch für mich zur Mogelpackung, denn der Titel klingt deutlich spektakulärer als es der Roman zu halten vermag. Letztendlich läuft alles wieder auf die Themen "Älterwerden", "Memento mori", etc. hinaus. Ein bisschen ostdeutsche Eigenheiten und Corona-Pandemie (nur "die Pandemie" genannt) unterfüttern das ganze sehr deprimierende Konstrukt.

Für mich leider keine Leseempfehlung!




Montag, 30. August 2021

"Wann gehts rund beim Hund?/ Wann macht die Katz Rabatz? Ein Wendebuch " von Katja Reider (Ill.)/Kathrin Wessel

 

 
Wundervolles Wendebuch

Meine fünfjährige Tochter liebt “Wendebücher”, also Bücher, die zwei Geschichten erzählen, wobei die eine Geschichte erst zum Vorschein kommt, wenn man das Buch herumdreht. Außerdem treffen die Geschichten in der Mitte aufeinander und werden quasi zu einer.

In “Wann geht's rund beim Hund? - Wann macht die Katz Rabatz?” wird den Kleinen ab 2 Jahren der Alltag eines Golden-Retriever-Hundes bzw. einer schwarz-weißen Katze nähergebracht. Die kurzen Texte und Bildsituationen erinnern dabei an die beliebte und mittlerweile zum Kinderbuch-Klassiker avancierte Ravensburger-Reihe “Ich bin der/die/das kleine (Hund/Katze/Pony/Küken etc.)”. Auf jeder Seite erlebt der Hund (und nach dem Herumdrehen dann die Katze) alltägliche Situationen in chronologischer Abfolge des Tagesablaufs wie z.B. Aufwachen, Gassi gehen, aus dem Fenster gucken, im Park spielen, etc. Am Ende liegt er mit der Katze zusammen im Körbchen. “Huch, wo kommt die denn her?” werden sich die Kinder fragen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, die zweite Geschichte lebendig werden zu lassen und das Buch herumzudrehen. Anders als der Hund, wird die nachtaktive Katze erst am Nachmittag richtig munter. Sie streunt dann auch erst in der Dunkelheit herum und begibt sich auf die Suche nach Abenteuern - und Mäusen. Nach und nach merkt man, dass sich die Katze an den gleichen Orten wie zuvor der Hund befindet und dass die beiden wohl dementsprechend zusammenwohnen.

Der Unterschied Hund/Katze wird den Kindern durch die verschiedenen Aktivitätsphasen der Tiere erläutert. In diesem Buch sind Hund und Katze keine Antagonisten, sie leben in friedlicher Koexistenz und teilen sich sogar ein Körbchen! Eine sehr schöne Botschaft, wie ich finde. Die Kombination ist wie immer bei Ravensburger altersgerecht, die Illustrationen schön bunt und fröhlich.

Wendebücher haben im Idealfall auch zwei Cover. Auf der “Katzenseite” mussten die redaktionellen Angaben bzw. das Impressum hinzugefügt werden, da Innen bei Pappbilderbüchern oftmals kein Platz ist. Diese Problematik wurde hier meines Erachtens perfekt gelöst, indem die Katze auf einer Mauer sitzt, auf der diese Angaben stehen. Der Barcode ist sogar in Vogelform gestaltet worden, also quasi als Pipmatz passend zur Reihe. So fügen sich diese nüchternen Infos am Buchende demnach wunderbar in das Gesamtbild ein.

Fazit: Ein wundervolles Wendebuch aus der Edition Piepmatz, perfekt für die Altersstufe 2-4.

Herzlichen Dank an Ravensburger und vorablesen junior für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch (Klick aufs Cover):



   

Sonntag, 4. Juli 2021

"Real Life" von Brandon Taylor

 

Schwere Lektüre mit Stellen der Leichtigkeit

"Booker Prize"-Lektüren sind selten "leichte Lektüren". Hier wird literarische Qualität ausgezeichnet, die Themen sind meistens existenziell und tiefgreifend. So reiht sich auch Brandon Taylors Debütroman in diese Tradition mit ein, mit dem er es 2020 auf die Shortlist der renommierten Auszeichnung schaffte.

Passt der Titel "Real Life", das wahre bzw. echte Leben (in der deutschen Übersetzung wurde der Originaltitel dankenswerterweise beibehalten) zu seinem Buch? Zumindest seziert Taylor in seinem Roman - wie sein Protagonist Wallace es mit Würmern bzw. Nematoden macht - das alltägliche Dasein eines Biochemie-Doktoranden an einer amerikanischen Universität im Mittleren Westen und inszeniert damit das scheinbar echte Leben seines Protagonisten Wallace. Dieser sinniert über seine Vergangenheit, über Gegenwart und Zukunft, er liebt, er leidet, er lebt - und das alles als Individuum in einer Gesellschaft. Denn Wallace muss sich nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen auseinandersetzen - mit ihrer Freundlichkeit, ihren Problemen, ihren Komplexen, etc. Ausserdem ist Wallace ein schwarzer schwuler Mann in einer vermeintlich post-rassistischen, post-homophoben Welt. Immerhin ist der Mikrokosmos des Campus und der mit ihm assoziierten Gesellschaft ein solcher Ort - zumindest an der Oberfläche. Denn Wallace muss erleben, dass seine Hautfarbe und seine sexuelle Orientierung für andere trotz der liberalen Grundstimmung im intellektuellen Milieu nach wie vor eine Rolle spielen.

"Real Life" ist ein zutiefst menschliches Buch darüber, wie wir mit Schuld und Traumata umgehen, aber auch darüber ob es ein Überwinden derselben gibt, Versöhnung und das "Danach". Vor allem aber auch geht es um Selbstfindung und dem Umfang mit der eigenen Depression und den Dämonen der Vergangenheit.

Die Lektüre war stellenweise erhellend schön, wenn es um die Beschreibung bestimmter Stimmungen ging. Dennoch war mir der Grundtenor zu düster, die Leiden zu schwer, der Fatalismus der jungen Menschen zu viel. Zu viel Verfall, zu viel "Memento mori"-Metaphorik (illustriert ab toten Tieren), zu viel sinnlose Gewalt. Dass der Booker Prize keine "Feelgood Romane" auszeichnet, dürfte jedem klar sein. Und am Ende gibt es ja auch einen Hoffnungschimmer. Trotzdem hätte ich mir mehr Stellen dieser Leichtigkeit angesichts der menschlichen und gesellschaftlichen Abgründe auch im Plot gewünscht. Zum Highlight hat mir also ein kleines Quäntchen gefehlt, aber dennoch ein hervorragender Roman.

Herzlichen Dank an den Piper Verlag sowie netgalley für das digitale Rezensionsexemplar. Das abgebildete US-Exemplar habe ich selbst gekauft.

Weitere Infos zum Buch (deutsche Übersetzung, leider kann ich den Link nicht einbetten):



"Wieso Weshalb Warum? Tiere im Einsatz" von Andrea Erne, Ute Simon (Ill.)

 

Perfekt für kleine Tierfreunde

Als meine fünfjährige Tochter das frisch ausgepackte Buch sah, sagte sie direkt begeistert: "Oh, ein Buch mit Klappen", da sie die "Wieso? Weshalb? Warum?"-Reihe natürlich kennt und wir schon viele Titel zuhause haben. Sie schnappte es sich, blätterte es durch und erkundete direkt die besagten Klappen, die bei ihr besonders hoch im Kurs stehen. Staunend lernte sie etwas über die Existenz von Polizeipferden (haben zusammen noch nie eins "live" gesehen, obwohl sie in unserer Stadt durchaus vorkommen), Blinden-,Such- und Rettungshunden, etc. Das Thema Tiere als Helfer des Menschen hatten wir tatsächlich vorher noch nie so wirklich angesprochen, deswegen hatten wir Nachholbedarf.

Das Buch ist wie immer ganz kindgerecht aufgebaut und regt spielerisch dazu an, Wissen erwerben zu wollen. Wie immer passt das Buch perfekt für die Altersspanne 4-7. Für jüngere Kindern sind eher die Bilder und Klappen interessant, mit älteren Kindern kann man mehr in den Text einsteigen und auch die Stellen vorlesen, die die Kleinen noch nicht ganz verstehen würden. Schließlich werden in diesem Buch auch negative Themen wie Drogendelikte, Einbruch, Unfälle und Krankheiten diskutiert, aber wirklich nur am Rande. In der Hauptsache konzentriert sich das Buch auf das positiv besetzte Thema "Tierische Helfer" in all seinen Facetten. Und wie so oft bei "Wieso? Weshalb? Warum?" können auch die Eltern noch etwas dazulernen (von der "Esel-Müllabfuhr" hatte ich davor z.B. auch noch nichts gehört), so dass es beim Vorlesen nicht langweilig wird.

Alles in allem also mal wieder ein sehr lohnenswerter neuer Band der Reihe, vor allem für kleine Tierfreunde.

Herzlichen Dank an Ravensburger und vorablesen junior für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch (Klick aufs Cover):


Samstag, 3. Juli 2021

"Madame le Commissaire und die panische Diva" von Pierre Martin

 


Skurriler Band der Reihe, Parisflair inklusive

Nachdem ich alle Bände der "Madame le Commissaire"-Reihe gelesen habe, kann ich sagen, dass nicht jeder Band von der gleichen Qualität ist. Bei welcher Reihe ist das schon so? Nachdem mir der letzte Band ("...und die Frau ohne Gedächtnis") leider nicht so gut gefallen hat, bin ich ohne große Erwartungen an "...und die panische Diva" herangegangen. Ich wurde positiv überrascht, obwohl es sicher nicht der beste Band dieser Reihe ist (das ist für mich "...und der tote Bürgermeister").

Wie schon im letzten Band mit der "Frau ohne Gedächtnis" hat Madame le Commissaire Isabelle Bonnet am Anfang des Buches keinen aktuellen Mordfall in der Provence aufzuklären. Da erfährt Isabelle über deren in Fragolin lebende Zwillingsschwester Juliette, dass sich die Pariser Diva Colette Gaspard - mit Zweitwohnsitz in der Provence - von einem Stalker bedroht fühlt. Isabelle lässt sich - etwas widerwillig - darauf ein, für ein paar Tage ihren Bodyguard zu spielen. Womit sie nicht gerechnet hat: Isabelle muss sich nach kurzer Zeit schon ihrer eigenen Vergangenheit stellen und ihre alte Heimat Paris, Schauplatz ihres großen Traumas, aufsuchen.

Der Fall an sich ist schon sehr skurril und sicher nicht sehr "realistisch". Aber das erwarte ich auch nicht unbedingt von einem leichten Sommerkrimi. Die Unterhaltung muss stimmen und wenn dann noch ein wenig Spannung hinzukommt, bin ich ganz zufrieden.

Sehr angenehm fand ich dass sich das Geplänkel mit Apollinaire in einem erträglichen Rahmen bewegt und Isabelle auch nicht wie im letzten Band gedanklich alles kommentiert was er sagt. Auch fand ich den Ortswechsel sehr erfrischend - Isabelle und ihr Umfeld haben mir in Paris sehr gefallen. Eine schöne Abwechslung zu den übrigen Bänden, die ausnahmslos in Südfrankreich spielen. Auch die Ménage-à-trois mit Rouven und Nicolas wurde schön ausgearbeitet und ins Geschehen integriert. Isabelle wirkt in diesem Band nicht mehr ganz so hart, sie zeigt viele menschliche Facetten.

Fazit: Wenn man nicht zu verbissen nach einer "realistischen" und blutigen Krimihandlung sucht und überdies Romane schätzt, die (teilweise) in Paris spielen, dann kann ich diesen Band der Reihe um Madame le Commissaire empfehlen. Für Fans sowieso!

Herzlichen Dank an Droemer Knaur und netgalley für das Rezensionsexemplar.

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Donnerstag, 24. Juni 2021

"Bretonische Idylle" von Jean-Luc Bannalec

 

Agatha Christie meets Bretagne

Eigentlich sollte man meinen dass Kommissar Georges Dupin, der seit mittlerweile zehn Jahren in der Bretagne ermittelt, seine neue Heimat in- und auswendig kennt, aber weit gefehlt! Nach zehn Jahren beherrscht er weder die bretonische Sprache in Perfektion (seine Kollegen schenken ihm einen Kurs zum Jubiläum), noch kennt er alle bretonischen Eigenheiten oder war schon in jeder Gegend. Die Bretagne ist für den Pariser Kommissar immer für eine Überraschung gut, so auch in seinem zehnten Fall.

Ein Bewohner der Belle-Île wird im Hafen des bretonischen Festlandes tot aufgefunden - ermordet. Schnell stellt sich heraus, dass es sich um den reichen Schafzüchter Provost handelt, gegen den so ziemlich jeder der Bellilois, wie die Einwohner der größten bretonischen Insel genannt werden, einen Groll hegte. Perfekte Verhältnisse also für alle LiebhaberInnen von "Locked-Room-Mysteries", denn natürlich kommen nur BewohnerInnen der Belle-Île als TäterIn in Frage. Dupin hat seine liebe Not mit der singenden Augusthitze, die in diese. Jahr versucht und damit, überhaupt auf die Insel zu gelangen, leidet er doch an Seekrankheit. Aber als die Reise endlich überstanden ist, lässt er sich von den geografischen Schönheiten und kulinarischen Besonderheiten der Insel verzaubern.

Alles in allem muss ich sagen: Ein typischer Dupin-Wohlfühl-Krimi, der sehr an Agatha Christie erinnert diesmal. Nicht nur die Insel als geschlossener Tatort, sondern auch die Tat selbst und die exzentrischen Charaktere gemahnen an die große Queen of Crime. Die Spannung war auf jeden Fall gegeben, die Auflösung war mir dann ein wenig zu konstruiert-unglaubwürdig und gleichzeitig zu offensichtlich. Eine spannende Wendung zum Schluss hätte mir auch noch gut gefallen.

Dennoch wieder ein toller und sehr lesenswerter Sommerkrimi-Schmöker aus der Feder von Jean-Luc Bannalec.

Herzlichen Dank an Kiepenheuer & Witsch sowie netgalley.de für das Rezensionsexemplar!

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"Eine Freundin für Mia" (Leserabe-Vorlesestufe) von Alexandra Fischer-Hunold und Lena Hesse

 

Tolles "Vor-Lesebuch" gegen Gender-Klischees

Meine Tochter ist fünf und zeigt sich seit kurzem frustriert über die Tatsache, dass sie noch nicht lesen kann. Dem kann Abhilfe geschaffen werden indem man zu den Leserabe-Büchern von Ravensburger greift. Hier gibt es speziell eine Reihe, die "Vor-Lesestufe", die sich an Leseanfänger bzw. Vorschulkinder richtet. In dieser Stufe (die Cover der Bände sind grün hinterlegt) werden Schlüsselwörter in Form von gezeichneten Piktogrammen in den Textblock integriert. Die Wörterliste findet sich im Anhang des Buches zum Ausklappen. Auch die Geschichte "Eine Freundin für Mia" folgt diesem Prinzip und kann so den Vorschulkindern die Scheu vor dem Text nehmen. Kinder sind ja erstmal Bilderbücher gewohnt, der Text ist in der Regel "für die Erwachsenen" da. Indem die Bilder hier den Text sozusagen "unterwandern", lernen die Kinder sich auch mit selbigem auseinanderzusetzen. Bei meiner Tochter kam dies gut an - Ich lese den Text bis zum Bild und sie entschlüsselt die Hauptwörter. Im Zweifel kann man den Wörterschlüssel zurate ziehen.

Zur Geschichte selbst kann man sagen, dass sie sich natürlich speziell an Mädchen richtet. Es geht um ein Mädchen namens Mia, das ihren ersten Schultag an einer neuen Schule erlebt. Sie wünscht sich eine neue Freundin, die wie eine Prinzessin aussehen sollte. Dass ihre spätere Freundin Leo, die sie im Lauf der Geschichte kennenlernt, dann gar nicht diesem Stereotyp entspricht, ist sozusagen der Twist der Story. Mädchen können Prinzessinnen sein, aber auch Fußball mögen und Jungsklamotten tragen, so die Moral. Also eine richtig gute Story am Puls der Zeit sozusagen, die das Thema Gender-Klischees thematisiert.

Das Buch wird abgerundet durch einen interaktiven Anhang. Hier können die Kinder nach der Lektüre noch einige Rätsel lösen, die im Zusammenhang mit dem Text stehen. Man kann sogar etwas gewinnen und hat dadurch eine zusätzliche Motivation, die Bilderrätsel zu lösen.

Ein super Gesamtpaket für einen fairen Preis, in bewährter Ravensburger-Qualität. Ich habe auch bereits ein anderes Buch aus der Reihe bestellt und freue mich darauf, es mit meiner Tochter durchzugehen. Volle Punktzahl.

Herzlichen Dank an vorablesen junior und Ravensburger für das Rezensionsexemplar!

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Samstag, 5. Juni 2021

"Das Geheimnis von Zimmer 622" von Joël Dicker

 


Willkommen in Absurdistan!

"Das Geheimnis von Zimmer 622" war mein erster Dicker, weshalb ich zwar unvoreingenommen, aber doch auch mit gewissen Befürchtungen was die Qualität desselben betrifft, an die Lektüre des Romans herangegangen bin. Dickers Bücher werden von euphorisch bis unterirdisch schlecht sehr unterschiedlich rezipiert, der Autor ist mittlerweile berühmt-berüchtigt für seine Spannungsromane.

Der Roman besteht aus mehreren Erzählschichten, könnte man sagen. Ummantelt wird er von einer Autofiktion bzw. einer Rahmenhandlung, in der der tatsächliche Autor, also Joël Dicker, den vorliegenden Roman schreibt bzw. dafür recherchiert. Diesmal ist also Dicker selbst eine literarische Figur in seinem eigenen Buch.

Die Handlung des eigentlichen Romans, in dem es um das "Geheimnis von Zimmer 622" geht, ist im Schweizer Bankenmilieu angesiedelt. Die Haupt-Handlungsorte sind Genf, wo die Privatbank Ebezner ihren Sitz hat und Verbier, der Nobelskiort in den Alpen, wo sich das Luxushotel befindet, in dem das Verbrechen verübt wird. Die Handlung hier auch nur ansatzweise wiedergeben zu wollen, erscheint mir unmöglich und auch redundant. Der/die potenzielle LeserIn sollte sich aber darüber bewusst sein, dass er/sie in die Handlung eintritt wie in einen Zirkus skurriler Figuren, ein Varieté der unwahrscheinlichsten Lebensgeschichten und grotesken Handlungselemente, die einerseits an eine südamerikanische Telenovela, andererseits an einen (schlechten) Spionagethriller erinnern. Und das ist eigentlich der Pluspunkt des Romans, denn wer gerne Bücher liest, die sich selbst aufs Korn nehmen, ist hier gerade richtig. Wer freilich authentische Charaktere mit Tiefgang in einer stringent verlaufenden Geschichte sucht, ist hier mehr als Fehl am Platz.

Aufgebläht ist dieses Buch, voller Belanglosigkeiten und Wiederholungen. Die Enthüllung der Frage, wer eigentlich umgebracht wurde, erfolgt erst nach ca. zwei Dritteln der Handlung. Der Leser hat bis dahin die Lebensgeschichte aller Beteiligten minutiös vorgekaut bekommen.

Der Kern und die Idee an sich hätten ja spannend werden können, aber Dicker versucht sich immer selbst zu übertrumpfen und scheitert hier auf dem schmalen Grat, der zwischen anspruchsvoller Unterhaltung und niveauloser Trivialität verläuft. Die Dialoge aus der Haupthandlung scheinen zum größten Teil einer Schmierenkomödie oder schlechten Vorabendserie nachempfunden. Die Handlungselemente und Plot-Twists stehen der Dialogregie allerdings an Unglaubwürdigkeit in nichts nach.

Das einzige, was etwas Niveau hat, ist die Hommage Dickers an seinen (1926 geborenen) Verleger Bernard de Fallois, der im Jahr der Rahmenhandlung, 2018, verstarb. Passenderweise geht es auch im Roman selbst oft um das spezielle Verhältnis zwischen (Ersatz-)Vätern und ihren Söhnen. Dicker stellt indirekt die Frage, ob Wahlverwandtschaft nicht vielleicht die bessere Verwandtschaft ist.

Das Ende trieft von einer trivial-banalen Kitschigkeit, das selbst die schlechteste Soapopera der Welt nicht besser hätte hinbekommen können. Leider nur 2,5 Sterne.

Herzlichen Dank an Piper und netgalley.de für das digitale Rezensionsexemplar, das Printexemplar habe ich selbst gekauft.

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Sonntag, 30. Mai 2021

"Fräulein Mozart und der Klang der Liebe" von Beate Maly


Mehr “Adagio” als “Allegro” und dennoch ein toller Roman

Historische Romane, die sich mit realen Persönlichkeiten aus der Geschichte befassen, müssen sich an belegten Fakten und Quellen orientieren, um authentisch zu sein. Auch Beate Maly macht das in "Fräulein Mozart", nicht ohne aber ihrer Romanbiographie einige fiktionale Elemente hinzuzufügen, die für den Spannungsbogen wichtig sind (siehe Nachwort).

Maly nimmt die LeserInnen quasi bei der Hand und führt sie entlang der biographischen Daten der Familie Mozart ab 1766 durch das Leben der Hauptfigur Maria Anna Mozart (1751-1829) genannt Nannerl, die Schwester des legendären Komponisten und selbst Pianistin.

Hier gibt es auch schon ein großes Lob an die Autorin, die es gekonnt wie immer geschafft hat, eine perfekte erzählerische Balance hinzubekommen. "Nannerl" ist zu jeder Zeit Protagonistin dieses Buches und doch dürfen wir auch am Leben ihres berühmten Bruders Wolfgang Amadeus teilhaben - ohne aber dass es ein Buch über ihn wäre. Nein, es ist ein Roman über eine starke Frauenfigur, die aber bis auf die gemeinsamen Anfangsjahre auf Konzert-Tournee durch Europa immer im Schatten des brüderlichen Genies stand. Und so wird auch erzählt, denn das ausschweifende Künstlerleben ihres Bruders, den sie zu jeder Zeit schätzte und verehrte wie auch vice versa, hat Nannerl Mozarts Leben und Schaffen geprägt. Seine Kreativität inspirierte die Schwester und seine Geldsorgen trieben sie mitunter zur Verzeiflung und auch selbst an den Rand der Armut.

Dennoch: Nannerl Mozart war in erster Linie eine eigenständige Persönlichkeit, die ihre Heimatstadt Salzburg - anders als ihr Bruder, den es immer nach Wien zog - liebte und dort aufblühte. Kein Wunder dass sich auch hier die Liebesgeschichte zum Schuldirektor Franz d' Ippold abspielte, die in Beate Malys Romanbiographie viel Raum einnimmt. Zärtlich und vorsichtig ist diese romantische Liebe, wer eine wilde und leidenschaftliche Lovestory erwartet ist sicher fehl am Platz. Nannerl Mozart war zeitlebens eine bescheidene Frau und keine Diva, obwohl sie schon als junges Mädchen die illustre Gesellschaft der Adligen, Reichen und Schönen gewohnt war.

War das Leben von Wolfgang Amadeus Mozart eher "allegro", so kann man das bürgerlich-angepasste Leben seiner Schwester, die - für die damalige Zeit und im Gegensatz zu ihrem Bruder "erst" - mit 78 Jahren starb, wohl als "adagio" bezeichnen. Dennoch verdient sie Würdigung und Anerkennung als Persönlichkeit der Musikgeschichte und auch ihre Geschichte ist es absolut wert, erzählt zu werden. Das ist Beate Maly mit ihrem Roman wunderbar gelungen.

Herzlichen Dank an die Ullstein Buchverlage und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

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Mittwoch, 31. März 2021

"Das Verschwinden der Adèle Bedeau" von Graeme Macrae Burnet

 

Hochspannend und psychologisch ausgefeilt

Im kleinen elsässischen Ort Saint-Louis nahe Basel und ca. 80 Kilometer von Straßburg entfernt, lebt es sich wie aus der Zeit gefallen. Und auch dieser Roman selbst scheint, als wäre er zeitlos. Zuerst veröffentlicht im Jahr 2014, nun in Neuauflage bei btb erschienen, gaukelt uns der Autor Graeme Macrae Burnet im Nachwort vor, er wäre lediglich der Übersetzer des Romans. Der echte Autor wäre ein Raymond Brunet, der das Buch bereits 1982 veröffentlicht habe. Hier muss man als Leser tatsächlich genauer recherchieren um nicht aufs Glatteis geführt zu werden.

Die Handlung könnte sich jedenfalls in der Tat auch in den frühen 1980er Jahren abgespielt haben, so auffällig ist die Abwesenheit der technischen Meilensteine Mobilfunk und Internet.

Im unbekannten Jahr der Handlung sind die Hauptmedien die Regionalzeitung "L'Alsace" und der Dorfklatsch im Restaurant de la Coche. Hier arbeitet die titelgebende Kellnerin Adèle Bedeau (19) und hier geht auch der Bankdirektor Manfred Baumann (36) aus und ein. Der unscheinbare Single und Einzelgänger geht einer strengen Lebensroutine nach, doch als die Kellnerin Adèle verschwindet, gerät diese von einem auf den anderen Tag aus den Fugen. Kriminalkommissar Georges Gorski beginnt im Fall Adèle Bedeau zu ermitteln, wobei Manfred Baumann immer mehr in den Fokus seines Interesses gerät. Hat der seltsame Mann etwas mit Adèles Verschwinden zu tun?

Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive Baumanns und Gorskis, wobei wir peu à peu die Lebensgeschichte der beiden Antagonisten serviert bekommen. Der allwissende Erzähler führt dabei alle Erzählstränge sowie Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zusammen. Die Erzählweise ist dadurch sehr apart und man hat das Gefühl ein Komplize des Erzählers zu sein bzw. einen Film zu schauen.

Wenn ich nun definieren würde ob “Das Verschwinden der Adèle Bedeau” ein Kriminalroman ist oder nicht, würde ich schon zuviel verraten, denn ein Großteil der Handlung besteht aus der Frage ob sie tot ist bzw. ermordet wurde oder nicht. Wenn es aber in einem Krimi nicht nur um getötete Leichen geht, sondern auch um die Abgründe und Tragödien der menschlichen Existenz, dann ist dieser Roman definitiv ein solcher. Am ehesten würde ich ihn aber als psychologischen Spannungsroman bezeichnen, denn hochspannend ist er allemal. Hauptsächlich wird eine hochdetaillierte Charakterstudie des - so kann man es wohl sagen - Protagonisten Manfred Baumann angefertigt, die die Tiefenschichten seines psychologischen Profils analysiert. Der Roman ist zusätzlich eine schöne Milieustudie des Lebens in der französischen Provinz der (jüngeren?) Vergangenheit.

Wer “leise”, “unblutige” Krimis mit viel Charakter und Ermittlerstory mag, dem kann ich diesen kleinen feinen Roman nur wärmstens ans Herz legen.

Herzlichen Dank an das Bloggerportal von Random House bzw. btb für das Rezensionsexemplar!



Sonntag, 7. März 2021

"Die Verlorenen" von Stacey Halls

Thema Mutterschaft im historischen Kontext

Das Wort Waisenhaus ist aus unserer heutigen modernen Sicht heraus überwiegend negativ konnotiert. Aber im England des 18. Jahrhunderts, in dem der Roman "Die Verlorenen" spielt, war es für Eltern aus der Unterschicht oftmals die einzige Möglichkeit, ihren Kindern eine Zukunft zu schenken. Sie mussten sie abgeben, um ihr Leben zu sichern. In den Slums von London und andernorts hatte der Nachwuchs eines armen Menschen nur geringe Überlebenschancen. Hier setzt die Handlung von "Die Verlorenen" an. Die junge Bess Bright, Tochter eines Krabbenhändlers und selbst in diesem Metier tätig, bekommt im November 1747 eine uneheliche Tochter namens Clara. Noch am Tag ihrer Geburt gibt sie die Kleine ab und zwar in die Obhut des “Foundling Hospitals”, ein 1739 gegründetes Waisenhaus in London. Sechs Jahre später hat sie - wie sie glaubt - genug gespart, um die Gebühren von Claras Unterbringung zu bezahlen, doch als sie ihre Tochter abholen will, wird ihr gesagt, dass sie bereits abgeholt wurde - und zwar sechs Jahre zuvor…

Man kann nicht gut über die Handlung sprechen ohne zu spoilern, nur soviel: es geht um zwei Mütter, Bess und Alexandra. Der Roman ist von der Erzählstruktur sehr symmetrisch angelegt und beleuchtet einmal die Perspektive der einen, dann die der anderen Frau. An der gutsituierten Alexandra werden die psychischen Probleme aufgezeigt, die einem Menschen, der keine Existenzängste haben muss so wie Bess, das Leben auch zur Hölle machen können. Alexandra hat ein nicht verarbeitetes Trauma, das zu Panikattacken und Angststörungen führt. Das Thema “mental health” wird durch sie zwar eingeführt, aber nicht zur Gänze ausgearbeitet. Das ist ein wenig schade und meines Erachtens eine vertane Chance, um die Handlung noch zusätzlich zu bereichern. Generell wird aber das Thema Mutterschaft in all seinen Facetten und aus einem historischen Kontext heraus sehr intensiv beleuchtet.

Historische Romane leben im Wesentlichen von der Fähigkeit ihrer AutorInnen, die erzählte Vergangenheit zum Leben zu erwecken. Stacey Halls ist die Erzeugung der historischen Atmosphäre sehr gut gelungen. Wir befinden uns im England des mittleren 18. Jahrhunderts und erleben diese Zeit als Leser hautnah mit. Die Armut der einfachen Leute, ihr erbitterter Kampf ums Überleben wurden eindrücklich dargestellt. Als Kontrast wird auf der anderen Seite aber auch der Snobismus der Gutsituierten und gesellschaftlich Privilegierten gezeigt. Erschreckend ist die Tatsache, dass schon bei der Geburt eines Menschen vorherbestimmt ist, in welche Schicht er hineingeboren wird und wie sein weiteres Leben höchstwahrscheinlich verlaufen wird: live long and prosper or perish in earthly hell. Determinismus und Fatalismus springen aus jeder Ecke hervor.

Der Roman ist solide gemacht, atmosphärisch gelungen und weist einige Spannungselemente auf, ohne aber ein Krimi zu sein. Der Behauptung der Presse, Stacey Halls wäre die neue Hilary Mantel ist meines Erachtens aber deutlich zu hoch gegriffen. Zwischen den Autorinnen liegen Welten. Mantel ist meiner Meinung nach ein Genie des historischen Romans, Halls einfach eine sehr versierte - historische - Schriftstellerin, aber eine unter vielen.

Herzlichen Dank an den PIPER Verlag und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

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Samstag, 27. Februar 2021

"Die dritte Frau" von Wolfram Fleischhauer

 

Metafiktional, historisch, gegenwärtig spannend

"Die dritte Frau" ist ein Roman über das Schreiben eines Romans und damit metafiktional sowie selbstreferentiell. Während wir also lesen, wie der vorliegende Roman vermeintlich entstanden ist, lesen wir ihn, also quasi das “fertige” Produkt. Ich mag solche metatextuellen, postmodernen Spielchen sehr gerne.

Alles fing damit an, dass der Autor und Übersetzer Wolfram Fleischhauer in den 1990er Jahren einen Roman namens "Die Purpurlinie" schrieb. In diesem geht es um das mysteriöse Gemälde "Gabrielle d’Estrées und eine ihrer Schwestern", gemalt 1594 von einem anonymen Künstler. Der historische Sachverhalt ist komplex, aber auf dem Bild sind zwei Mätressen des französischen Königs Henri IV dargestellt, die wohl um den französischen Thron betrogen wurden, da der König nicht eine der beiden, sondern Maria de Medici heiratete. Fleischhauer versuchte damals in seinem postmodernen Text die Geheimnisse um das historische Bild und die Fragen rund um den plötzlichen Tod von Gabrielle d’Estrées (wurde sie von den Medici vergiftet?) zu entschlüsseln, was aber wohl nur bedingt gelang. Am Ende blieben Fragen offen. Ohne dass Fleischhauers Name in "Die dritte Frau" fallen würde, ist der Ich-Erzähler ganz eindeutig mit seinem realen Autor und dem Autor der "Purpurlinie" gleichzusetzen. Wie viele tatsächliche Übereinstimmungen es zwischen ihm und seiner fiktionalen Stimme gibt und ob die Handlung dieses Romans völlig erfunden ist (wovon ich ausgehe) oder sich an der Realität in einigen Punkten anlehnt (z.B. Vorsatz einer Fortsetzung von “Die Purpurlinie”) weiß allerdings nur Wolfram Fleischhauer selbst. Jedenfalls bringt ein Brief eines Nachfahren der linken Frau auf dem Gemälde den Ich-Erzähler dazu, sich noch einmal mit seinem Erstlingswerk, das vor den Zeiten des Internets entstanden ist, auseinanderzusetzen. Was er bei seinen Nachforschungen in Südfrankreich bzw. Paris erlebt, ist dann hauptsächlich Gegenstand der Handlung.

Wir nehmen hautnah teil am Schaffensprozess des Autors und Ich-Erzählers sowie an seinem inneren Kampf mit Schreibblockade und Selbstzweifeln. Wir erfahren, wie viel Arbeit es bedeutet, einen historischen Roman zu schreiben: Quellenstudium, hier mit der besonderen Schwierigkeit des Dechiffrierens von Codes in einer alten Version der Fremdsprache. Vor Zeiten des Internets, als die “Purpurlinie” entstand, war natürlich alles noch viel schwieriger.

Meta und augenzwinkernd ist auch die Tatsache, dass die Agentin eben keinen historischen Roman will - der sei, wie sie sagt, tot - sondern einen typischen Mystery-Thriller im Stile Dan Browns, in der ein Gelehrter in der Gegenwartshandlung an einem geschichtsträchtigen Ort einem tödlichen Komplott bzw. historischem Rätsel auf die Schliche kommt. Der Autor belächelt dieses Denken seiner Autorin als zu marktorientiert und schreibt dann eben auch keinen “Dan Brown”, obwohl man bei mancher Szenerie bzw. Plot-Twist an den Erschaffer von Robert Langdon denken könnte.

Man lernt in diesem Roman außerdem viel über die Mechanismen der Buchbranche. Dass Bestseller andere, weniger gut laufende Bücher mitfinanzieren kann man sich ja denken, aber welchen "Wert" ein Autor für einen Verlag hat und mit welchen Algorithmen er sich berechnen lässt, bleibt dem gemeinen Leser - und oft genug auch dem Autor selbst - ein Rätsel. Hier kommen die Agenten ins Spiel, die enorm wichtig für die Arbeit und Sichtbarkeit von Autoren sind. Die Literaturagentin des Ich-Erzählers, Moran, spielt eine zentrale Rolle im Roman. Sie ist für die Vermarktung und den schnöden Mammon zuständig, ohne die auch ein Schriftsteller seine Projekte nicht verwirklichen kann.

Von der französischen Geschichte des späten 16. Jahrhunderts habe ich nur eine rudimentäre Ahnung und den Erstling des Autors "Die Purpurline", auf den immer wieder Bezug genommen wird, habe ich nicht gelesen. Dennoch wurden die damaligen Verwicklungen gut und nicht zu ausführlich erklärt, so dass es langweilen würde. Allerdings sollte man als potenzielle/r LeserIn schon ein wenig Interesse an historischen Vorgängen aufbringen, die sich im aristokratischen Milieu abgespielt haben.

Mir hat der Roman als metatextuelles Experiment sehr gut gefallen, allerdings muss man sich darauf einstellen, dass erneut ein offenes Ende beim Leser kein finales Gefühl der Befriedigung hinterlassen wird.

Herzlichen Dank an Droemer Knaur und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

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Sonntag, 21. Februar 2021

"Gespenster" von Dolly Alderton

 
Tiefgründiger Dating-Roman

Eine englische Hetero-Frau Anfang dreißig mit dem hippen Beruf "Food-Journalistin" erzählt von ihren Online-Dating-Erfahrungen. Das klingt erstmal wie eine Millennium-"Bridget Jones" nur in (mental-)healthy also ohne Zigaretten und ständiges Kalorienzählen. Aber ob auch Nina (Zweitname George wegen George Michael) ihren Mr. Dacy - wenn überhaupt - auf ähnlich humorvolle Weise findet? Ich sage ganz unendeutig: Jein. Denn “Gespenster” bzw. “Ghosts” - der englische Titel passt meiner Meinung nach besser zum Thema - ist ein ganz neues Partnersuche-Buch, das perfekt in unsere Zeit passt.

Genau wie die Single-Ikone der späten 1990er Jahre möchte auch die Protagonistin von "Gespenster" ihr "spätes" Singledasein beenden. Doch anders als bei Bridget gibt es in den 2020er Jahren für Singles einen entscheidenden Vorteil: Online-Dating, der potenzielle Partner fürs Leben ist also nur einen Klick weit entfernt. Doch so einfach ist die ganze Sache nicht, denn genauso unkompliziert man sich durch die neuen Medien daten kann, genauso leicht machen es sich manche wenn es darum geht aus dem Leben der “gedateten” Person wieder zu verschwinden: sie "ghosten", lassen also einfach nichts mehr von sich hören, sind von einem auf den anderen Moment wie vom Erdbeben verschluckt. Auch Nina macht im Roman eine solche Erfahrung.

Aber dieses Buch ist so viel mehr als ein unterhaltsamer Frauenroman über das moderne Datingverhalten. Er greift das Lebensgefühl der "Millennials" auf, also der Generation der 1980-1999 geborenen Menschen, zu der auch ich gehöre. Der Roman spielt zwar in London und seinem Umland, könnte so aber auch in jeder anderen westlich geprägten Großstadt stattfinden. Wie fühlt sich eine junge Frau Anfang dreißig (Nina wurde 1986 geboren, der Roman spielt 2018-2019) angesichts von alternden und kranken Eltern (Ihr Vater hat fortschreitende Demenz), Freundinnen, die heiraten und Kinder kriegen und natürlich ghostenden Männern - all diese Themen werden im Roman aufgegriffen. Obwohl es sich super angefühlt hat den Roman zu lesen, ist er keine Feelgood-Frauenliteratur, denn auf das klischeehafte Happy End (Spoiler) müssen wir leider verzichten. Was wir als Leserin dagegen bekommen ist ein moderner, aus Ich-Perspektive erzählter Roman über das Leben und die Liebe wie sie heute sind, Corona und Pandemie noch nicht inbegriffen. Ich hatte ein digitales Exemplar und habe mir dann nochmal das Hardcover gekauft, weil mir das Buch so gut gefallen hat. Ich wollte diese von so treffenden Ansichten und Lebensweisheiten durchzogene Geschichte einfach im Regal stehen haben um sie jederzeit rauszuholen und nochmal darin lesen zu können. Ein tolles Buch, nicht nur für Singlefrauen!

Herzlichen Dank an den Atlantik-Verlag/Hoffmann und Campe sowie netgalley für das digitale Rezensionsexemplar. Das Hardcover-Buch habe ich mir selbst gekauft über Schmökerbox.

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Sonntag, 14. Februar 2021

"Unter Wasser Nacht" von Kristina Hauff

Multiperspektivisches Regionaldrama

Zwei schon seit vielen Jahren befreundete junge Familien teilen sich im niedersächsischen Wendland ein Grundstück, auf dem ihre beiden Häuser stehen und eine gemeinsame Scheune: Sophie und Thies, Inga und Bodo. Sie ziehen ihre Kinder Aaron, Lasse und Jella groß und kämpfen gemeinsam gegen Atomkraft und den Standort Gorleben. Dann stirbt der zehnjährige Aaron, das einzige Kind von Sophie und Thies, in der nahegelegenen Elbe. Für die eine Familie geht alles weiter wie bisher, das Leben der anderen ist zerstört. Das vermeintlich perfekte Leben von Bodo, Inga und ihren Kindern wird für Sophie und Thies zum unerträglichen Schaubild ihres eigenen zerstörten Glücks. Die friedliche Koexistenz der beiden Familien steht auf dem Spiel - und dann taucht auch noch die geheimnisvolle Fremde Mara im Dorf auf.

Die Handlung des Romans spielt 13 Monate nach dem tragischen Tod Aarons in der Elbe. Die einstmals befreundeten Ehepaare sind sich untereinander fremd geworden und auch intern kriselt es, zumindest zwischen Sophie und Thies. Die beiden kommen mit dem schweren Verlust nicht zurecht und versuchen ihn auf unterschiedliche Weise zu kompensieren. Nach und nach kommt ans Licht, dass Aaron ein sehr aggressives, schwieriges Kind war und Sophie und Thies mit ihrem Latein was den Umgang mit ihm betrifft, am Ende waren, als Aaron den Unfall hatte. Hauff beschreibt die Hilflosigkeit von Eltern, deren Kind nicht nur nicht den Idealvorstellungen entspricht, sondern auch noch vehement subversiv und aggressiv agiert und sich entgegen den gesellschaftlichen Normen und Gepflogenheiten verhält. Die Verzweiflung war sehr nachvollziehbar und eindringlich beschrieben, allerdings hat mich die Auflösung und Aufarbeitung des Themas dann etwas enttäuscht zurückgelassen. Die Geschichte um Mara drängt sich nämlich zum Ende hin in den Vordergrund, obwohl das Verschwinden Aarons meines Erachtens im Mittelpunkt stehen sollte.

Das Geschehen wird aus der Sicht von sechs verschiedenen Personen geschildert. Will man konsequent multiperspektivisch erzählen, muss man die einzelnen Point-of-View-Stimmen sehr akzentuieren, damit der Leser gut differenzieren kann. Hier ist dies meines Erachtens sehr gut umgesetzt worden und es hat dem Roman letztlich auch 4 Sterne eingebracht. Kristina Hauff versteht es ausgezeichnet, die angespannte Dynamik zwischen den Figuren spürbar werden zu lassen. Der Leser ist ständig auf der Hut und gespannt zu erfahren, welcher brodelnde Vulkan als nächstes eruptiert. Es ist spannend wie ein Krimi in die Gedankenwelt der einzelnen Personen abzutauchen und ihre Vorurteile und Verdächtigungen ungefiltert vermittelt zu bekommen.

Ein Plus ist dann auch noch die besonders atmosphärische Schreibweise, die das mir bislang sowohl in Natura als auch in der Fiktion unbekannte Wendland lebendig werden ließ. Auf fast jeder Seite wird ein Stück Flora und Fauna dieses idyllischen Landstrichs beschrieben.

Meine Hauptkritik betrifft die Unstimmigkeiten und Fehler im Text. Am Anfang heißt es auf Seite 53 über den Abend, an dem Aaron verschwand, es wäre "viel zu warm für Mitte April" gewesen, weswegen Sophie und Thies das erste Mal im Jahr im Freien zu Abend gegessen haben. Später wird dann gesagt es wäre der 3. April gewesen, was ja eher Anfang April ist (siehe S. 155). Auf S. 202 heißt es dann über den Tag des Verschwindens: "Der Wind blies zu kalt für Anfang April." Also da war es dann Anfang April und kalt und nicht wie Sophie vorne sagt Mitte April und warm. Auch verschwand Ulrich wohl eher zu seinen Hausbesetzerfreunden als zu seinen "Hausbesitzerfreunden" (S. 228). Fehlerhafter bzw. holpriger Satzbau ist mir hier aufgefallen: "[...]für die Erziehung zuständig war, die Strenge sein musste", S. 230. An diesen Stellen hat meines Erachtens das Lektorat nicht richtig funktioniert. Ich habe aber das Gefühl dass mir noch einige andere Ausrutscher entgangen sind. Es hat mich außerdem gestört dass nie gesagt wird, wie alt genau Sophie ist, obwohl es eigentlich relevant ist. Es wird nur gesagt sie sei ein paar Jahre jünger als Mara (49), aber sie könnte im Gegensatz zu ihr noch Kinder bekommen. Man könnte ja auch einfach schreiben, wie alt sie denn tatsächlich ist.

Ansonsten ist "Unter Wasser Nacht" ein gut konstruierter, spannender Roman über eine trügerische Idylle und die unsichtbaren Päckchen, die wir alle auf dem Rücken tragen, den ich mir auch gut als TV-Drama vorstellen könnte. 

Herzlichen Dank an hanserblau und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

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Donnerstag, 11. Februar 2021

"Kim Jiyoung, geboren 1982" von Cho Nam-Joo

Misogynie am Pranger

Wenn man dieses Buch gelesen hat, muss man erst einmal tief durchatmen. Ich denke die Geschichte von Kim Jiyoung sollte allen nahegehen, und zwar egal, welchem Geschlecht, welcher Nationalität, welcher Generation oder sexuellen Orientierung man angehört. Nüchtern und scheinbar ganz ohne Emotionen wird die Lebensgeschichte der koreanischen "Jederfrau" Kim Jiyoung erzählt. Ich sage scheinbar, denn zwischen den nahezu im Berichtsstil verfassten prosaischen Zeilen steckt ganz viel Wut gegen das Patriarchat und die koreanische Gesellschaft, die sich ihre misogyne Grundeinstellung über die Jahre selbst herangezüchtet hat. Man braucht hier kein Pathos und keine sprachliche Verkünstelung seitens der Erzählstimme, denn die harten Fakten sprechen ihre eigene traurige und überaus bewegende Sprache.

Die Diskriminierung, die Frauen in Korea - hier eben das Beispielland, obwohl es in vielen anderen Ländern der Welt ähnlich ist - erfahren haben und immer noch erfahren, ist eine systematische und sie beginnt bereits bei der Geburt. Ein Sohn ist mehr wert als eine Tochter in Korea, auch heute noch. Wenn das Mädchen es aber dann doch geschafft hat geboren und nicht aufgrund seines Geschlechts "beseitigt" zu werden, erfährt es schon recht früh, dass ein Bruder - egal ob jünger oder älter - privilegiert behandelt wird. Und so geht es weiter über die Schulzeit bis ins Studium und schließlich hinein in die Berufswelt, in die es nur die wenigsten Frauen schaffen aufgenommen zu werden - egal ob sie eine bessere Ausbildung genossen oder bessere Noten hatten als gleichaltrige Männer. Und letztlich wird die Kinderfrage zur Gretchenfrage der modernen koreanischen Frau: Welche Form der Vereinbarung von Beruf und Familie will man leben? Darf man in den Augen der Gesellschaft überhaupt "nur" Mutter sein?

Anhand der Biografie von Jiyoung werden all diese Ungerechtigkeiten und misogynen Akte - institutionalisierte und erlernte - aufgezeigt. Ob es die sexuelle Übergriffigkeit ist, dumme Sprüche und Wertungen ihres Lebensstils durch Fremde oder die generelle Bevorzugung von Männern in allen Lebensbereichen. Es ist nicht so, dass die Autorin nicht auch die kleinen Fortschritte nennen würde, die die Gesellschaft seit den frühen 1980er Jahren hinsichtlich einer gendergerechteren Welt gemacht hätte. Sie weist auch darauf hin, dass es durchaus Männer gibt, die berufstätige, selbstbewusste Frauen feiern, statt ihnen Steine in den Weg zu legen. Einer dieser "Ausnahme-Männer" ist u.a. Jiyoungs Ehemann Chong Daehyon, der sich um seine Frau sorgt, als sich bei ihr Anzeichen einer psychischen Krankheit auftun. Wie auch im echten Leben ist eben nicht alles negativ, nicht jedes männliche Wesen ein Fall für #metoo und gerade diese Nicht-Schwarzweißmalerei macht das Buch so authentisch.

Trotz aller kleinen gesellschaftlichen Fortschritte, die im Laufe von Jiyoungs bisherigem Leben in Richtung Gendergerechtigkeit gemacht wurden, bleibt das meiste nur oberflächliche Augenwischerei. Im Kern haben es Frauen vor allem im Berufsleben damals wie heute schwerer und Korea ist gar das Land mit dem größten Lohngefälle zwischen Männern und Frauen unter den OECD-Mitgliedsstaaten, wie auf Seite 144f. zu lesen ist. Nam-Joo unterfüttert ihren fiktiven Bericht mit Fußnoten bzw. Fakten aus sozialwissenschaftlichen und journalistischen Publikationen, die sich mit der koreanischen Gesellschaft auseinandersetzen.

Ich möchte auch der Übersetzerin Ki-Hyang Lee ein großes Lob aussprechen. Natürlich kenne ich das koreanische Original nicht, aber die deutsche Übersetzung liest sich sehr gut und man bekommt ein Gefühl für das Erzähltempo und die sprachliche Ausrichtung des Originals.

Auch ich bin 1982 geboren und konnte mich aufgrund der zeitlichen Koinzidenz der Lebensstationen sehr gut mit Jiyoung identifizieren. Ich habe das Buch innerhalb von zwei Tagen durchgelesen, weil ich einfach so gebannt von dieser in vielen Punkten "alltäglichen" Geschichte war. Ein Lese-Muss für alle, die an Feminismus und einem aufgeklärten gesellschaftlichen Diskurs interessiert sind.

Herzlichen Dank an den Verlag Kiepenheuer & Witsch für das Rezensionsexemplar!

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Samstag, 6. Februar 2021

"Tiger" von Polly Clark

 

Düsterer Roman mit starken Naturbeschreibungen

Raubkatzen faszinieren seit jeher den Menschen. Auch einige Künstler und Schriftsteller konnten sich der Faszination, die die erhabenen Jäger ausstrahlen, nicht entziehen und setzten ihnen mit ihren Bildern und Worten ein Denkmal. Man denke nur an den eckigen gelben Tiger von Franz Marc, Rainer Maria Rilkes Gedicht "Der Panther" oder an Giuseppe Tomasi di Lampedusas einzigen Roman "Der Leopard", in dem der gepunkteten Raubkatze aber als Wappentier des Fürsten nur eine symbolische Rolle zuteil wird. Nun also Polly Clarks "Tiger", ein wilder Roman über das gespaltene Verhältnis zwischen Mensch und Tier, zwischen Kultur und Natur. Es geht für mich vor allem darum, welchen Preis der Mensch zahlen muss, wenn er sich ganz auf die Natur und die Gefahren, die in ihr lauern, einlassen möchte bzw. muss.

Der Roman besteht aus mehreren Erzählsträngen, in der das Geschehen aus der Perspektive von verschieden Protagonisten wiedergegeben wird. Sie alle haben etwas mit den Amur-Tigern aus der Sibirischen Taiga zu tun, die die eigentlichen “Stars” dieses “Natur-Romans” sind. "Tiger" ist wie das titelgebende Tier: anmutig, roh, archaisch, ernst und "in your face".

Die erste Protagonistin ist die englische Primatenforscherin Dr. Frieda Bloom. Die Biografie der jungen Frau Anfang dreißig ist geprägt von Brüchen und Schicksalsschlägen. Weil sie Drogen zur Bekämpfung ihrer zahlreichen Traumata nimmt, verliert sie ihren Job an einem Londoner Forschungsinstitut. Sie bekommt eine neue Chance an einem Privatzoo in Devon, wo sie ihre Nemesis in Form des Zoogründer-Sohnes Gabriel trifft. Die Begegnung mit dem Tiger Luna ist der Mittelpunkt der Geschichte, die abrupt endet und erst zum Ende des Romans wieder aufgegriffen wird. Ich fand Friedas Verhalten teilweise sehr befremdlich. Ich weiß nicht ob ihre Denkweise der einer drogenabhängigen Person entspricht, aber sie kommt für eine promovierte Biologin stellenweise sehr naiv und fatalistisch rüber. Überhaupt ist die Geschichte, die hier erzählt wird, sehr destruktiv und negativ, aber ohne dass sie mich berührt hätte.

Ganz anders hingegen die zweite Geschichte rund um Tomas, die durchaus Potenzial zur Einfühlung durch de Leser hat. Abgeschieden von der Zivilisation lebt der 41-jährige Jäger ein karges Dasein in den Wäldern der russischen Taiga. Zusammen mit seinem Vater Iwan, anderen Jägern und Holzfällern lebt er in einem Camp bzw. Naturreservat am Rande des Wades. Er und seine Kollegen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Tiger der russischen Taiga vor Wilderern zu schützen und erhoffen sich durch ihr Engagement das Prädikat “Tigerreservat” und dadurch Unterstützung vom russischen Staat zu bekommen. Tomas hat eine schwierige Beziehung zu seinem narzisstischen Vater Iwan. Tomas' Mutter starb, als er 10 war, von seinem Vater Iwan wurde er verprügelt und mit Verachtung gestraft, wenn ihm etwas missfiel. Nichtsdestotrotz verschaffte Tomas seinem damals arbeitslosen Vater eine Position in seinem Waldarbeiter-Lager, wo dieser schnell zum Chef aufsteigt. Immer wieder reflektiert Iwan, ganz allein in der Natur, seine eigene Vergangenheit, die ihn belastende Familienlosigkeit, das toxische Verhältnis zu seinem Vater und die gescheiterte Beziehung zu seiner großen Liebe Marta. Auch ihn wird eine Begegnung mit einem Tiger - und einem Menschen - aus der Bahn werfen.

Der dritte Teil kommt sehr märchenhaft daher. Es war einmal eine sibirische Indigene aus dem Volk der Udehe namens Edit, die verließ das Dorf, in das sie zugezogen war und ihren Alkoholkranken Mann Wasili und zog mit ihrer kleinen Tochter Sina in eine Hütte in den Wäldern. Dort sahen die beiden jahrelang keine Menschenseele, sie lebten von den Früchten und Tieren des Waldes. Bis sie eines Tages beschlossen, ihr Eremitendasein zu beenden und dabei auf einen Tiger und seine Jungen trafen, deren Sicht im vierten Teil des Romans aufgenommen wird.

Alle drei Handlungsstränge mit den menschlichen Protagonisten sind ziemlich starker Tobak und für meinen Geschmack viel zu dramatisch. Man könnte meinen die Autorin hat alles, was es an Leid und Elend in einem Menschenleben geben kann, in ihren Roman gepackt und an ihre Protagonisten ausgeteilt: Drogensucht, toxische Beziehungen, Narzissmus, rohe Gewalt, unberechenbare Natur, Depression, Abtreibung, Alkoholismus, Vergewaltigung, Hunger, Krankheit und Tod. Nicht mal ein bisschen, ein kleines bisschen Leichtigkeit oder Positivität ist in all dem zu finden. Erst am Ende, dort, wo alle Erzählstränge zusammenlaufen, darf der Leser/die Leserin aufatmen: Ein Licht am Ende des langen dunklen Tunnels.

In Clarks Prosa blitzen zuweilen sehr poetische Momente auf. Wie sie die Erhabenheit der Natur beschreibt ist ihre große Stärke. Man merkt, dass die Autorin eigentlich Lyrikerin ist und im dichterischen Schreiben mehr zu Hause als in der Roman-Schriftstellerei. Sie kann Momentaufnahmen sprachlich einfangen und sie wie in einem Gemälde oder Foto festhalten. Weil die lyrischen Momente mit ihren starken Naturbeschreibungen über die Schwächen im Plot, die erzählerische Überdramatisierung und das gelegentlich angewandte Pathos hinwegtrösten und man wirklich viel über die Amur-Tiger und ihren bedrohten Lebensraum in der sibirischen Taiga erfährt, bekommt der Roman als Gesamtpaket von mir noch knappe 4 Sterne.

Danke an den Eisele Verlag für das digitale Rezensionsexemplar, das Print-Buch habe ich bei der Schmökerbox gekauft.

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Dienstag, 2. Februar 2021

"The Mystical Year" von Alison Davies

Buchtipp

Imbolc, Lichtmess, Murmeltiertag - der heutige zweite Februar hat viele Namen, je nachdem welchem Kulturkreis man sich zugehörig fühlt. Wer sich auch für Jahreskreisfeste und Kulturgeschichte interessiert, für den habe ich heute einen Buchtipp. Buchtipp statt Rezension, weil ich dieses wunderschöne Sachbuch aus dem Knesebeck Verlag nicht von vorne bis hinten durchgelesen habe (durchgeblättert und quer gelesen natürlich schon). "The Mystical Year" von Alison Davies begleitet einen nämlich durch "zwölf magische Monate voller Mythen und Bräuche". Wir erfahren jeden Monat etwas über Bräuche und Traditionen aus verschiedenen Kulturen. Die keltischen Jahreskreisfeste stehen dabei im Mittelpunkt: Imbolc, Ostara, Beltane, Litha, Lammas, Mabon, Samhain, Yule.

Natürlich werden ganz Wicca-gemäß auch die Zauber, Mondphasen, Kristalle, Heilpflanzen, Totemtiere, Blumen, etc., des Monats erwähnt. Wem das zu esoterisch abgedreht bzw. "new-ageig" ist, sollte vielleicht lieber nicht zu diesem Buch greifen. Aber allen anderen, die ein wenig mystisch-"naturreligiös" interessiert sind und "mit dem Jahr" gehen möchten, denen lege ich dieses Buch ans Herz. Allein die wundervollen Illustrationen sind es wirklich wert, sich "The Mystical Year" bei Interesse mal anzusehen. Sehr schön finde ich auch die zum Monat passenden Zitate am Kapitelanfang: Von Heine über Rilke bis Shakespeare geben zwölf dichterische Größen ihre lyrischen Gedanken zum jeweiligen Monat preis. Ein Glossar am Ende erklärt noch einmal wichtige Begriffe.

Fazit: Ein rundum wundervolles Jahreszeitenbuch, das meine Bibliothek nicht mehr verlassen wird.

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Montag, 1. Februar 2021

"Die Erfindung des Dosenöffners" von Tarkan Bagci

 

Die Leiden des jungen Timurs

Eine westfälische Kleinstadt unserer Gegenwart: Der frische “Twen” Timur Aslan hat es nicht leicht. Der zwanzigjährige Deutschtürke möchte Journalist im großen Stil werden, sitzt aber in der Lokalredaktion des "Westfälischen Anzeigers" fest, das Volontariat in der Hauptredaktion in der benachbarten größeren Stadt scheint unerreichbar. Eine große Story muss her, um seinem langweiligen Heimatort Steinfeld und dem Elternhaus, das nach dem Tod der Mutter nur noch aus ihm und seinem nach Autos verrückten Vater besteht, den Rücken zu kehren. Die Geschichte der Seniorin Annette, die von sich behauptet den Dosenöffner erfunden zu haben, soll sein Sprungbrett werden. Doch ihre Begegnung mit der älteren Dame löst etwas in Timur aus und er wird nachdenklich: Ist beruflicher Erfolg wirklich alles im Leben?

Die Probleme, die ein junger Mensch Anfang zwanzig in unserer modernen Welt der unendlichen Möglichkeiten hat, werden anhand des Protagonisten Timur exemplarisch dargestellt. Er stellt sich die Frage, die sich wahrscheinlich fast alle seiner Altersgenossen stellen: Wohin mit mir und meinen Fähigkeiten und was sind diese überhaupt? Der selbstverständliche Umgang mit den sozialen Medien und die das Selbstbewusstsein - vor allem junger Menschen - gefährdende Eigenschaft derselben werden im Roman thematisiert. Das vermeintlich perfekte Leben der anderen wird zum Richtschwert des eigenen kümmerlichen Daseins. Timur wird im Laufe der Handlung feststellen, dass nicht alles echtes Gold ist, was in den sozialen Medien so vor sich hin glänzt.

Humortechnisch hat mir der Einstieg in das Buch sehr gut gefallen. Wie der Alltag in der kleinen Redaktion beschrieben wurde und die Daseinsberechtigung des Lokaljournalismus, die auf tönernen Füßen steht, das hat bei mir für einige Schmunzler gesorgt. Auf die Dauer der Handlung hin gesehen konnte das Buch aber meines Erachtens den Humor-Standard des Anfangs nicht halten. Überhaupt plätscherte die Handlung vor sich hin und blieb an einigen Punkten sehr vage. Ich mag es zum Beispiel überhaupt nicht, wenn in einem Roman nicht erwähnt wird welchen Monat oder zumindest welche Jahreszeit wir haben. Aber das ist vielleicht ein persönlicher Spleen von mir. Der groß angekündigte Roadtrip mit Annette war eher ein “Tripchen”. Wobei wenn ich gewusst hätte, dass es in diesem Buch wieder einen “generationenübergreifenen Roadtrip” gibt, hätte ich es nicht gelesen. Das Thema ist nämlich für mein Empfinden ausgelutscht bis zum Gehtnichtmehr.

Man sollte dieses Buch also lesen, wenn…

...man Anfang 20 ist und auf Sinnsuche

...man beim Plot-Element "generationenübergreifende Freundschaft mit Roadtrip" leuchtende Augen bekommt und das Buch "Marianengraben" mochte

...man schon immer mal mehr über Lokaljournalismus wissen wollte

…man sich für die Entstehungsgeschichte des Dosenöffners und seine Unterarten interessiert

...man ein(e) Bekannte(r)/Freund(in)/Verwandte(r) des Autors ist (ich beziehe mich hier auf eine Szene im Buch, in der Timur behauptet dass nur obige Bezugspersonen einer Person, die in einem lokaljournalistischen Zeitungsartikel vorkommt, diesen lesen würden)

...man auf den Humor des Autors steht

Aus allen anderen Gründen würde ich die Lektüre von "Die Erfindung des Dosenöffners" getrost anderen überlassen.

Herzlichen Dank an Ullstein und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

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Samstag, 30. Januar 2021

"Der Elternkompass" von Nicola Schmidt

Ratgeber für “unsichere” Eltern

Nachdem ich neulich bereits “Mein Familienkompass” von Nora Imlau gelesen und für sehr gut befunden habe, musste ich natürlich den vom Titel recht ähnlichen “Elternkompass” von Nicola Schmidt ins Auge fassen. Die beiden Autorinnen kennen und schätzen sich und haben sich bereits in einem Gespräch in den sozialen Medien zu ihren jeweiligen “Kompassen” geäußert. Ob man beide braucht bzw. gelesen haben muss? Diese Frage habe ich mir gestellt und ich kann sagen: Ja, sicherlich haben beide Bücher ihre Berechtigung - allerdings mit Einschränkungen.

In “Der Elternkompass” geht es Nicola Schmidt vor allem darum, Eltern ihre Unsicherheit zu nehmen angesichts der Fülle von Informationen, die auf sie einprasseln. Bei der “Erziehung” eines Kindes wollen alle mitreden: Kita/Kindergarten/Schule, Großeltern, die Eltern der anderen Kinder, die Medien, die Wissenschaft. Wie soll man sich als Eltern selbst eine Meinung bilden? Die Autorin ist der Meinung, man solle mit mehr Gelassenheit an das Projekt Elternsein herangehen und gerne - wenn schon - wissenschaftliche Daten und Fakten zur Absicherung bei Unsicherheiten heranziehen. Ansonsten hilft der Bauch und der gesunde Menschenverstand.

Zunächst geht Schmidt auf die Basis der Elternschaft ein, nämlich die "Achtsamkeit". Wir sollen unseren Kindern eine von Respekt und gegenseitigen Verständnis geprägte Kindheit ermöglichen. Darauf fußt ein funktionierendes Eltern-Kind-Miteinander.

Schmidt nimmt dann den/die Leserin an die Hand und geht die Eltern-Werdung von Anfang an durch: Von Schwangerschaft/Stillzeit über Kleinkindalter bis zur Grundschule. Weiter in der Entwicklung des Kindes geht sie nicht, was etwas schade ist.

Schmidt nimmt die Fragen, die sich vermutlich alle Eltern stellen und versucht sie möglichst wissenschaftlich unterfüttert zu beantworten. Wirkt sich Stillen wirklich auf den IQ meines Kindes und seine spätere Berufswahl aus? Ist Loben zurecht in Verruf geraten oder kommt es einfach auf das "Wie" an? Schmidt schaut sich die Studien an und kommt zu einem Ergebnis, das in den meisten Fällen eine Tendenz darstellt: eher ja oder eher nein. Dem Buch ist dementsprechend auch ein langes Literatur- und Quellenverzeichnis angefügt. Wer möchte kann sich also eingehender mit dem Thema beschäftigen, das ihn gerade interessiert.

Dies ist ein Ratgeber, den die Zielgruppe wahrscheinlich nur punktuell konsumieren wird, anstatt ihn von vorne bis hinten durchzuarbeiten. Die frischgebackenen Eltern eines Neugeborenen werden nicht die Zeit und Muße dazu haben nachzulesen, wie ich Grundschulkindern friedliche Konfliktlösung nahebringe. Umgekehrt werden sich die Eltern, die bereits mit dem letzten Kind durch die Autonomiephase durch sind, nicht noch mal mit Baby's Schlaf beschäftigen wollen.

Trotz aller postulierten Wissenschaftlichkeit ist mir der Ratgeber in manchen Dingen dennoch zu subjektiv gefärbt. Man kann zu vielen Themen ganz klar die persönliche Meinung der Autorin durchhören. In dieser Beziehung hat mir "Mein Familienkompass" von Nora Imlau ein klein wenig besser gefallen, denn der hat schon im Titel die subjektive Komponente und dennoch wird die Wissenschaft auch immer wieder herangezogen.

Dennoch ist dies ein guter Ratgeber für alle Eltern, die sich bei vielem unsicher sind und wollen, dass ihnen die Angst genommen wird. Ich empfehle bei Interesse die Anschaffung direkt in der Schwangerschaft bzw. Babyzeit.

Herzlichen Dank an GU bzw. netgalley.de für das Rezensionsexemplar!

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Montag, 25. Januar 2021

"Ein Winter in Wien" von Petra Hartlieb

 

Bezaubernde historische Wien-Novelle

Manchmal verliebt man sich Hals über Kopf - in ein Buch. In "Winter in Wien" habe ich mich quasi auf den ersten Blick bzw. von der ersten Seite an verliebt, so wie der Buchhändler Oskar in das Kindermädchen Marie. Arthur Schnitzler habe ich schon immer gerne und viel gelesen: "Fräulein Else", "Der Weg ins Freie", etc. Ich liebe generell Bücher, deren Handlung um die Jahrhundertwende 1900 bis in die 1920er Jahre in Wien angesiedelt ist: Kaffeehaus, Fiaker, Ringstraße, Klimt, Theater, Oper, Operette, das hat auch heute noch so einen ganz eigenen Charme - und erst recht zu dieser besonderen Zeit des Wiener Jugendstils. Nun also eine Buchreihe, in der wir Schnitzler als literarische Figur haben: ein Traum. Obwohl der Herr Dr. Schnitzler, der ja ursprünglich als Arzt tätig war, bevor er vom Schreiben sehr gut leben konnte, nicht der Protagonist des Buches ist, so spielt er doch eine wichtige Rolle. Es ist sein vornehmer Haushalt in der Sternwartestraße im Wiener "Cottage Viertel", in den die junge Marie Haidinger im Jahr 1911 als Kindermädchen eintritt. Sie soll dort die Kinder Heinrich (9) und Lili (2) betreuen. Bei einem Ausflug in den nahegelegenen Buchladen, bei dem Schnitzler seine Bücher bezieht, lernt sie den jungen Buchhändler Oskar Novak kennen. Die beiden schüchternen jungen, aber vom Schicksal früh gebeutelten Leute lernen einander näher kennen, aber da die Geschichte auf vier Bände - passend zu den im Titel genannten Jahreszeiten - angelegt ist, ist am Ende des schmalen ersten Bandes noch längst nicht klar, wie es mit ihnen weitergeht.

Was mich bei diesem kleinen historischen Roman sofort bezaubert hat, ist die einzigartige Wien-um-1900-Atmosphäre, die Petra Hartlieb heraufbeschwört hat. Dazu kommt natürlich der Zauber einer frisch verschneiten Stadt um die Weihnachtszeit, dem sich keiner wirklich entziehen kann. Diese klassische Erzählung wirkt auf die positivste Weise wie aus der Zeit gefallen. Zudem hat mich Maries Geschichte emotional sehr berührt und es fiel mir zeitweise schwer, mich gedanklich wieder aus dem Schnitzlerschen Haushalt herauszubewegen. Die Sicht der “Bediensteten” ist ein zusätzliches Plus und passt zu Schnitzler, der ja in seinen Werken auch Figuren aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten eine Stimme verliehen hat.

Ich bin wahnsinnig froh, dass ich diese Reihe erst jetzt für mich entdeckt habe. Es gibt bereits drei Bände ("Ein Winter in Wien", "Wenn es Frühling wird in Wien" und "Sommer in Wien"), erschienen 2016-2019. Der Abschlussband "Herbst in Wien" ist laut Petra Hartlieb auch schon Planung. Obwohl ich am liebsten sofort weiterlesen würde, werde ich tatsächlich auf die passende Jahreszeit für den jeweiligen Band warten, denn wer weiß, vielleicht erscheint "Herbst in Wien" ja bereits im Spätsommer 2021? Ich würde mich jedenfalls sehr freuen! 

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Dienstag, 19. Januar 2021

"Schwitters" von Ulrike Draesner

 

Schwer zugängliches Meisterwerk

Der Begriff "Innere Emigration" bezeichnet Künstler und Intellektuelle, die im Widerstand zum NS-Regime standen, aber nicht ins Exil gingen, also aus Deutschland auswanderten. Der Hannoveraner Künstler (Maler, Dichter, Grafiker, etc.) Kurt Schwitters gehörte laut Geschichtsschreibung in den ersten Jahren der NS-Zeit auch der "Inneren Emigration" an. Der fiktive Schwitters im Buch lehnt diesen Begriff nach dem Krieg, immer noch im Exil, ab. Eine "geschützte Innerlichkeit des Künstlers" (S. 290) könne es innerhalb der menschenverachtenden Diktatur nicht gegeben haben. Es ist also eine Frage der Definition. Der reale Schwitters floh jedenfalls am ersten Tag des Jahres 1937, nachdem seine dadaistischen Werke von den Nazis als "entartet" diffamiert wurden, ins Exil nach Norwegen. Dorthin war sein Sohn Ernst bereits 1936 ausgewandert. Als die Deutschen in Norwegen einmarschierten, emigrierte Schwitters mit Sohn und Schwiegertochter nach Großbritannien. Nach verschiedenen Stationen in Internierungslagern fand Kurt Schwitters seine letzte Heimat in England, wo er 1948 starb.

Ulrike Draesner schenkt uns in ihrem opulenten “Künstlerroman”, der keiner ist, wie sie im Nachwort sagt, Einblicke in Schwitters Leben. Die Kapitel bestehen aus fiktiven Momentaufnahmen, die sich aus der Biografie des Dada-Künstlers speisen. Da "Schwitters" aber vor allem ein Roman der Entwurzelung ist, beginnt die erzählte Handlung mit der Zeit kurz vor Schwitters’ Entscheidung zum Gang ins Exil, beschreibt vor allem die Zeit in Großbritannien, in der er sich in der neuen Lebenssituation zurechtfinden muss und endet mit seinem Nachleben, reflektiert aus der Sicht des Sohnes.

Kurt Schwitters ist als Protagonist genau wie seine Poesie, wie seine Kunst: schwer greifbar, sperrig bis unzugänglich. Kein einfacher Mensch, den die Autorin zur Hauptfigur ihres Romans gemacht hat. Noch dazu im "schwierigen" mittleren Mannesalter, voller Todes- und Existenzängste, sich wie ein Ertrinkender ans Leben klammernd. Eine sehr vielschichtige Künstlerpersönlichkeit, dieser Schwitters, mit einer nicht minder komplexen Gedankenwelt. Dada und Merzbau eben, schwer vorstellbar für den Leser, was das eigentlich ist.

Im Roman gibt es auch Kapitel, die aus der Sicht von Schwitters’ Familienmitgliedern geschrieben wurden. Zum einen aus der Perspektive seiner Ehefrau Helma. Als ihr Mann ins norwegische Exil ging, musste sie in Deutschland bleiben, um sich in Hannover um die alten Mütter der Eheleute sowie um den Immobilienbesitz (u.a. Mietshäuser) zu kümmern. Mir gefällt sehr dass auch sie, die körperlich ewig betrogene Ehefrau, zu Wort kommt und wir als Leser ihren Gedanken und Reflexionen folgen dürfen. Helma Schwitters war Muse und Modell ihres exzentrischen Künstler-Ehemanns, musste aber auch seine zahlreichen Affären und seine Launen verkraften. 1944, kurz vor Ende des Krieges, starb sie an Krebs, ihren Mann und Sohn hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Ernst, das einzige überlebende Kind von Kurt und Helma, kommt wie bereits gesagt ebenfalls im fiktiven Rahmen zu Wort. Der 1918 geborene Fotograf arbeitete sich als "Sohn von" an seinem Künstler-Vater ab, verwaltete sein Erbe, profitierte davon und machte in Norwegen, wo er nach 1945 zurückkehrte, eine ganz eigene Karriere. Auch über Schwitters' letzte Lebensgefährtin Edith Thomas, genannt Wantee, lernen wir viel im Roman. Sie ist ein wichtiger Teil seines Lebens im Exil, sie gibt ihm die Nähe, die er fernab der Heimat braucht und die Sprache, die ihm anfangs fehlt: Englisch.

Draesners Roman ist ein Sprachkunstwerk, voller rhetorischer Stilmittel und Erzählweise, "zusammentapeziert" wie eine Collage. Sie hat eine kraftvolle, bildhafte, poetische Sprache, die Stimmung erzeugt, eine ganz eigene Atmosphäre. Draesner versucht uns verschiedene Facetten dieses vielschichtigen Künstlermenschen Schwitters nahezubringen. Um die Komplexität seiner Persönlichkeit und der Welt, in der er lebte, zu erfassen, greift sie häufig auf das Stilmittel der Accumulatio zurück. Aber auch sonst entlehnt sie Sprachbilder aus Schwitters’ Kunstrichtung, dem Dadaismus, für ihre Romanbiografie. Sie weist in einem Nachwort darauf hin, dass alles, was sie schreibt, Fiktion ist (bis auf die belegbaren Daten und Fakten natürlich).

"Schwitters" ist mit Sicherheit das anspruchsvollstes Buch, welches kein Klassiker ist, das ich seit langem gelesen habe. Ich habe mit dem Buch gehadert, mich teilweise durchgequält und Passagen überblättert. Dennoch käme es mir schändlich vor, es nicht mit fünf Sternen zu bewerten. Was will ich einfache Leserin schon eine so versierte Schriftstellerin wie Ulrike Draesner kritisieren? Mir fehlte jegliche Legitimation. Überdies ist DADA ebenso unzugänglich wie Draesners Roman es stellenweise ist. Ich denke es ist die Intention der Autorin dass ihr Roman enigmatisch, sperrig und unzugänglich wie ein dadaistisches Kunstwerk und gleichzeitig wunderbar poetisch und paradiesisch schön wie eine Landschaftsmalerei von William Turner ist.

Man sollte sich dessen bewusst sein, wenn man es zur Hand nimmt. Ein intellektueller Roman über einen Intellektuellen und eine Geschichte der Entwurzelung eines Künstlers, die sehr berührt. In diesem Roman steckt wahnsinnig viel Kreativität, Kunstfertigkeit und Arbeit, insofern steht er dem Werk von Kurt Schwitters in nichts nach. Der Roman ist opulent und collagenhaft, manchmal nur schwer greifbar. Ein großartiges Werk, aber ich darf und kann eben nicht verhehlen, dass es nicht einfach zu lesen war.
 

Herzlichen Dank an den Penguin Verlag und das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar!


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