Montag, 13. Januar 2025

"Wackelkontakt" von Wolf Haas


Metatextualität brillant auf die Spitze getrieben

“Es ging darum, mit seinen Worten den Übergangsbereich zu berühren. Die unsichtbare Nahtstelle zwischen den Welten des tatsächlich Geschehenen und des möglich Gewesenen. Wie ein Kletterer durfte man von diesem Grat nicht abrutschen und weder in den Himmel reinen Wortgeklingels noch in die Faktenhölle des gelebten Lebens stürzen.” (“Wackelkontakt”, S. 147)

Die eben zitierten Gedanken stammen aus dem Kopf unseres Protagonisten Franz Escher, der über seine Profession als Trauerredner nachdenkt und die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Was ist wirklich passiert und was ist Wunschdenken oder Fiktion? Das sind Fragen, die sich Escher im Laufe der Handlung, von der ich auf keinen Fall zu viel verraten darf, noch öfter stellen wird. 

Franz Escher und Elio Russo alias Marko Steiner. Das sind zwei Männer, die von der seltsamen Geschichte des jeweils anderen fasziniert sind. Escher liest ein Buch über Elio/Marko und vice versa. Sie haben viele Gemeinsamkeiten und doch auch wieder gar keine. Irgendwie eint sie aber die Leidenschaft für das Zusammensetzen. Escher ist leidenschaftlicher Puzzler, Steiner setzt Fahrräder und Elektronisches wieder zusammen. 

Aber Escher und Steiner sind eben auch ganz surrealer Weise zwei literarische Figuren, die den jeweils anderen als literarische Figur kennen und innerhalb eines literarischen Werkes das literarische Werk lesen, in dem der jeweils andere vorkommt. Simpel, wie Wolf Haas selbst über seine Geschichte sagte, aber genial (wie das Feuilleton und meine Wenigkeit über die Idee sagen). Das ist verrückt, kafkaesk, meta- und intertextuell, das ist spaßig und traurig und so spannend, dass ich das Buch kaum links liegen lassen oder nicht an es denken konnte, während ich es las (und das war keine lange Zeit). 

Dieser raffinierte erzählerische Trick, dass die Handlung immer häppchenweise so weit voranschreitet, bis Franz oder Marko/Elio sowie andere in der Geschichte eine Rolle spielende Personen das Buch mit der Geschichte des jeweils anderen zur Hand nehmen, ist einfach genial! Ich frage mich, wie es sein kann, dass bislang noch niemand auf diese brillante Idee gekommen ist.

Ungefähr auf Seite 116 habe ich erst gecheckt, auf was das Ganze erzähltechnisch hinausläuft und war von meiner Erkenntnis getroffen wie ein Stromschlag - passend zum Titel. Einfach so unfassbar genial dieser Plot und natürlich die erzählerische Umsetzung.

Das Leitmotiv des Romans ist die Kunst von M.C. Escher, dem Namensvetter unseres Protagonisten Franz Escher. Seine Puzzle-Leidenschaft beginnt mit einem 1000-Teile-Puzzle von Eschers zeichnenden Händen, die sich selbst zeichen. Das ist natürlich eine Anspielung auf die Unmöglichkeit dieses metatextuellen Romans selbst, in dem zwei Geschichten einander spiegeln und sich der Kausalität von Raum und Zeit entziehen. Wolf Haas fungiert hier also als literarischer M. C. Escher.

Dieser Roman ist beileibe keine Coverschönheit. Hier kommt die Schönheit wahrlich von innen. Es ist eine, die sich aus einem Mix aus feinsinnigem Humor, literarischer Perfektion, meisterhafter Wortgewandtheit und einem scharfen Blick für die Unzulänglichkeiten des Menschlichen speist. Unbedingt lesen! 


Freitag, 10. Januar 2025

"Not your Darling" von Katherine Blake


Orgien im prüden Amerika der 1950er Jahre? Ja, laut Katherine Blake und ihrem Buch “Not your Darling” (übersetzt von Astrid Finke) gab es sie zu Hauf - zumindest in Hollywood, in den nur von außen weißen Villen der skrupellosen Filmemacher und glamourösen - männlichen - Stars. Eine Frau, die hier ihr blaues Wunder erlebt und doch ihren Weg relativ unbeirrt fortschreitet, ist die 21-jährige Protagonistin Loretta Darling. Ein Künstlername, denn eigentlich heißt sie Margaret und stammt aus einem englischen Küstenstädtchen, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Sie möchte im Sündenpfuhl Hollywood groß rauskommen - als Visagistin der Stars. Außerdem ist es ihr Wunsch, Make-up im großen Stil verkaufen - die Kunst des Schminkemachens lernte sie von ihrer Mutter. Ein ehrenvoller Plan, wenn da nicht die Männer wären, die ihren Weg kreuzen. Wird Loretta ihr Ziel trotz in den Weg gelegter Steine erreichen?

In guter Literatur sind die Charaktere so gezeichnet, dass wir uns mit ihnen identifizieren können und das Gefühl haben, sie wären wirklich “echt”. Bei Loretta hatte ich dieses Gefühl der Authentizität ihrer Persönlichkeit leider an keiner Stelle. Sie wirkt wie eine belebte Barbie, die eine pseudo-feministische Geschichte vorspielt, aber keinerlei Tiefe besitzt. Auch die anderen Charaktere sind nicht sehr differenziert und meist entweder “gut” oder “böse”. Blake zeichnet ein sehr eindimensionales, toxisches Bild vom Hollywood der frühen 1950er Jahre. Praktisch jeder ist machtgeil, dauerhorny und skrupellos - nur wenn man in der Vergangenheit Traumata und schwere Verluste erlebt hat, kann man, wie Scott Elliott (Lorettas “Love Interest”) ein halbwegs "normaler" Mensch bleiben in der Traumfabrik. Auch für Loretta wurde eine melodramatische Background-Story erdacht, die ihren Charakter quasi tiefenpsychologisch unterfüttern soll. Jo, überzeugt mich hier leider nicht und wirkt wie ein sehr durchschaubarer "Kunstgriff" in die Trickkiste literarischer Klischees. 

Was mich immer tierisch stört - wir haben in der Handlung keinerlei Marker für das tatsächliche Vergehen der Zeit. Wir wissen zwar, dass Loretta am Tag ihres 21sten Geburtstages heiratet, aber die Autorin lässt uns über das Datum im Unklaren, wir kennen noch nicht einmal die Jahreszeit. Gut, in Los Angeles gibt es nicht wirklich Jahreszeiten, aber auch als die Handlung nach New York wechselt, wird nichts darüber verraten. Warum haben nicht mal die Briefe, die Loretta an ihre Schwester Enid schreibt, eine Zeitangabe. Loretta sagt an einer Stelle, dass ihr die englischen Jahreszeiten fehlen würden, weil wieder ein sonniger Tag sei. Es ist mir schleierhaft, wie man ohne die Nennung auch nur eines Monatsnamens ein komplettes Buch von fast 400 Seiten schreiben kann. Schließlich gibt es auch Feiertage wie Unabhängigkeitstag, Thanksgiving, Weihnachten, die in den USA eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Alles wird nur sehr vage verortet. Zum Beispiel heißt es “es war ein Sonntag” als sie ihren Ex-Mann Raphael wiedertrifft. Er möchte nicht, dass sie auf das Ereignis an ihrem 21. Geburtstag zu sprechen kommt, das zur Trennung der beiden führte: “Wie du sagst, es ist ja lange her.” Ich will als Leserin wissen, wie lange das her ist. Vor ein paar Kapiteln hat Loretta da noch gesagt, dass sie immer noch 21 ist. Ein bisschen “Worldbuilding” erwarte ich auch von Nicht-Fantasy-Romanen. Nämlich dass sie unsere Welt - auch in historischer Form - plastisch abbilden und nicht in einem luftleeren Raum verharren, in dem sich Lesende nicht orientieren können. Das alles erinnert mich an Seifenopern im TV, die ebenfalls an jeder Stelle schreien: wir sind gescriptet und haben absolut nichts mit dem echten Leben zu tun.

Was die Plotentwicklung und Spannungskurve angeht, so ist der meiner Meinung nach interessante Teil nach nur einem Drittel des Romans bereits vorbei. Ab diesem Höhepunkt ist die Handlung kein tosender Sturm mehr, sondern nur noch ein laues Lüftchen. Oder, um im Vokabular von Lorettas Metier zu sprechen: Das Gesicht des Buches legt sein glamouröses Oscar-Make-up ab, um einen alltagstauglichen und unspektakulären Nude-Look aufzutragen. Gegen Ende passiert dann noch einmal etwas, aber das kann die unnötig aufgeblähte Story auch nicht mehr retten.

Obwohl mich der Anfang des Romans bis zum (ersten) Höhepunkt ganz gut unterhalten hat, habe ich mir wesentlich mehr von dem Buch versprochen. Die gestalterische Aufmachung ist wirklich sehr schön, der Inhalt eher mau. Wie bei einer Person, die durch ein glamouröses Make-Up ein “Durchschnittsgesicht” zu verbergen sucht. Schade.

Herzlichen Dank an Droemer Knaur für das Rezensionsexemplar und die Beigaben.


Montag, 6. Januar 2025

"Der echte Krampus" von Uta Seeburg


Historische Bergeinsamkeit und seltsame Bräuche

“Der Major seufzte leise. In diesem Dorf lebten entschieden viel zu viele unverheiratete junge Menschen. All die verstohlenen Blicke, die hier getauscht wurden, entfachten immer neue Spekulationen in seinem Kopf, die immer wieder auf dieselbe Frage hinausliefen: Welches Geheimnis war so gefährlich, welche Leidenschaft so zerstörerisch, dass am Ende dieser geflüsterten Worte und verhüllten Gesichter ein Mord stand?” (S. 219)

Bisher habe ich alle Romane um Major Wilhelm von Gryszinski, dem preußischen Polizeibeamten, der in Bayerns Hauptstadt ermittelt, mit großer Begeisterung “verschlungen”. Auch seine Familie (die schreibende Ehefrau Sophie und der kleine Sohn Fritz) sowie sein gesamtes Umfeld im München des Fin de Siècle um 1900 sind mir mit den Jahren bzw. den Büchern ans Herz gewachsen. Während es im letzten Gryszinski-Roman “Der treue Spion” sogar bis Paris und ins russische Zarenreich ging, entführt uns Uta Seeburg in “Der echte Krampus” in eine verschneite, märchenhafte Bergeinsamkeit, die ihresgleichen sucht. Gryszinski macht nach vielen Jahren zum ersten Mal einen mehrwöchigen Urlaub mit seiner kleinen Familie. Die exzentrische adelige Wiener Freundin Gräfin Wurmbrand hat sich ein mondänes “Ferienhaus” - wie man heute sagen würde - in den Bayerischen Alpen geleistet. Es geht also für die Gryszinskis in das kleine (fiktive) Alpendorf Berghall in der Nähe von Bad Reichenhall. Kaum ein Tag in der Adventszeit vergeht hier, ohne dass ein (vor-)weihnachtliches Brauchtum von der Dorfgemeinschaft ausgeführt wird, dem die freigeistigen und protestantischen Gryzsinskis mit Erstaunen und teilweise auch Entsetzen beiwohnen. Denn manche Bräuche haben es in sich. Zum Beispiel der martialische Krampuslauf, in dem die jungen Männer des Dorfes sich als böse Begleiter des Nikolaus verkleiden und die Dorfbewohner*innen in Angst und Schrecken versetzen. Just bei diesem Krampuslauf am Abend des 5. Dezember geschieht ein Mord - einer der Krampusse wird erstochen. Und Gryszinski? Muss den langersehnten Winterurlaub mit kniffligen Ermittlungen teilen. Ob das gut geht?

Was wirklich fast einzigartig ist - sowohl für einen historischen als auch einen zeitgenössischen Krimi - ist zum einen die extrem hohe Zahl an Verdächtigen, die im ersten Drittel des Buches vor uns auf Gryszinskis Ermittlungsnotizen liegt. 19 junge Männer sind verdächtigt, am Tod von Gregor Kroiß, einem der Krampusse, schuldig zu sein. Und dann kommen theoretisch auch noch weitere Personen hinzu, die es gewesen sein könnten. Zum anderen birgt die Tatsache, dass die meisten Verdächtigen am Tatabend nicht sie selbst, sondern Krampusse waren, einen ungeheuren Spannungs-Effekt, der gruselig-zotteligen Ganzkörperverkleidung sei Dank! Außerdem liefern die enormen Schneemassen großes erzählerisches Potenzial: Tatwaffen können nicht so leicht “entsorgt”, die Toten bis zum Frühjahr nicht begraben werden. Auch Gryszinski macht im Laufe der Handlung Bekanntschaft mit der Unbarmherzigkeit der winterlichen Wetterlage - grandios komponiert von Uta Seeburg.

Ein wirklich meisterhafter Krimi, den ich trotz der aufgelösten “Krimi-Handlung” bestimmt in einigen Jahren ein zweites Mal lesen werde. Einfach weil er uns in diese historische Bergeinsamkeit versetzt, an der ich alles irgendwie geliebt habe und vor der ich mich nur sehr schwer wieder trennen konnte. Für mich der beste Gryszinski-Roman bislang.