Freitag, 28. August 2020

"Die Schauspielerin" von Anne Enright

 

Fiktive Memoiren einer "Tochter von"

Norah erzählt die Geschichte ihrer Mutter, der berühmten irischen Schauspielerin Katherine O'Dell, die eigentlich Engländerin war. Es handelt sich um eine fiktive Schauspielerin, allerdings steht sie stellvertretend für viele europäische Filmdiven, die in den 50er und 60er Jahren zu internationalem Ruhm gelangten und es sogar bis nach Hollywood schafften. Man kann sich also sehr gut vorstellen, dass es den echten Töchtern berühmter Schauspielerinnen tatsächlich ähnlich ergangen ist.

Wir tauchen in diesem Roman ein in das Künstler- und Schauspielermilieu der irischen und britischen Bohème der 1920er bis 1980er Jahre, denn bereits die Großeltern der Erzählerin waren Theaterschauspieler. Norah erzählt die Lebensgeschichte ihrer Mutter - und zunehmend auch ihre eigene - nicht chronologisch. Sie springt zwischen den Ereignissen vor und zurück und erzeugt damit den Eindruck authentischen Erinnerns. Erinnerungen sind Momentaufnahmen des Geistes und erfolgen selten in der richtigen Reihenfolge. Es ist also keine typische (fiktive) Biographie, sondern ein Memoir.

Norah hadert nicht mit ihrer Vergangenheit. Ihr stoischer, fast abgeklärter Tonfall zeigt, dass sie mit sich und ihrem Leben im Reinen ist und auch mit ihrer Mutter. Sie kann sie jetzt von außen betrachten und über sie schreiben, denn Schreiben ist Norahs Beruf. In der Erzählung dann tut sich nicht nur ein tiefer Graben zwischen ihrem eigenen, zurückgenommenen Selbst und dem extrovertierten Charakter ihrer Mutter auf, sondern auch zwischen Schein und Sein des vermeintlich glamourösen Lebens als Schauspielerin.

Obwohl die erzählten Dinge an sich sehr tragisch und dramatisch, manchmal auch absurd und komisch sind, bleibt zwischen Leser und Geschichte eine gewisse Distanz. Diese gefühlte Mauer hat bei mir dafür gesorgt, dass ich emotional nicht involviert war, das Erzählte eher als Zuschauer wahrgenommen habe. So wie es von Bertolt Brecht, der auch in diesem Zusammenhang im Roman genannt wird, im "Epischen Theater" vorgesehen ist. Die Distanz “zum Publikum” wird auch durch die verwendete Du-Anrede deutlich. Norah erzählt die Geschichte nicht etwa einem abstrakten Leser, sondern ihrem langjährigen Ehemann und Partner. Teil an dieser “Intimität” hat der natürliche, echte Leser somit allenfalls als Voyeur dieser Beziehung, bei der die Identität des männlichen Parts erst zum Schluss gelüftet wird. Ein erzählerischer Kniff.

"Die Schauspielerin" ist daher für meine Begriffe eher ein intellektueller Roman, der den Kopf und weniger das Herz des Lesers anspricht. Aber solche Romane haben auch ihre Daseinsberechtigung. Nicht immer möchte man weinen und mitfiebern, manchmal möchte man nur zur Kenntnis nehmen und froh sein, dass man nicht in der Haut der beschriebenen Figuren steckt.

Zur Sprache: Anne Enright ist eine virtuose Autorin, die nicht umsonst 2007 den renommierten Booker-Prize gewonnen hat. Ihre Ausdrücke sind glasklar, sie erzählt die ineinander verwobenen Lebensgeschichten von Mutter und Tochter lebhaft und ohne viel Aufhebens um ihre Sprachkunst zu machen. Was ich aber besonders hervorheben möchte, ist die hervorragende Übersetzung von Eva Bonné ins Deutsche. Das Buch wirkt überhaupt nicht übersetzt und das ist die große Leistung einer außergewöhnlich guten sprachlichen Übertragung.

Herzlichen Dank an das Bloggerportal von Random House und an den Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Donnerstag, 20. August 2020

"Omama" von Lisa Eckhart

 

Kapriziöse und sperrige Groteske


Skandalautorin = Skandalbuch? Wer Literaturwissenschaft studiert hat, der weiß, dass man aus moderner Sicht ein literarisches Werk nicht in erster Linie in Hinblick auf seinen Verfasser betrachtet, um möglichst keinen positivistischen Biographismus zu betreiben. Außerdem bringt es einen in die (moralische) Bredouille. Darf man jetzt noch unbedarft "Harry Potter" lesen und sich an der Zauberwelt erfreuen, seit man weiß dass seine Verfasserin so krude Ansichten hat? Wie die Autorin des berühmtesten Waisenjungen der Fantasyliteratur hat auch Lisa Eckhart sich mit ihren Äußerungen - im Rahmen ihres Kabarettprogramms wohlgemerkt - in ein "Aus" begeben. Ihren Debütroman “Omama” losgelöst von ihrer Person und der Diskussion um sie zu betrachten, erscheint mir aber nahezu unmöglich. Dennoch will ich es versuchen und mir anschauen: Was steht eigentlich drin?

Der Prolog ist schon mal sehr theorielastig. Man merkt, dass die Autorin eine Anhängerin des großen Kulturkritikers und Philosophen Slavoj Žižek ist, dessen Sprachduktus sie auf gewisse Weise zu imitieren versucht. Hier wird über den Status der Großmutter quasi psychoanalytisch-küchenphilosophisch sinniert. Muttermutter vs. Vatermutter, eine zieht den Kürzeren und so weiter. Schon nach wenigen Seiten habe ich das Gefühl, eine pseudowissenschaftliche Dissertation zu lesen - über was auch immer - nur ohne Fußnoten.

Der theoretisierende Duktus in einer mit Schachtelsätzen und Fremdwörtern gespickten sperrigen Sprache, die anstrengend zu lesen ist, nimmt mit Beginn der eigentlichen “Handlung” auch nur geringfügig ab. Dennoch fliegt man nicht durch die Seiten, im Gegenteil.

Das Geschehen wird auf dem Silbertablett einer extrem selbstverliebten und überakzentuierten Sprache serviert, die sich mit jedem nächsten Satz selbst zu übertrumpfen versucht. Im einen Moment denkt man, man liest ein soziologisches Manifest, im nächsten folgt der harte Stilbruch und man wähnt sich mitten in einem drittklassigen Bauernschwank gelandet zu sein, mit allerlei derber Mundart und pornösen Ausfallerscheinungen. Dann haben Frau Eckharts Sprache und Erzählweise auch etwas von Sophisterei, surrealem Dadaismus oder auch von epischem Theater: Schaut her, ich zeige euch was ihr verstehen sollt, sonst drücke ich euch mit der Nase drauf.

Die Autorin spricht als Erzählerin den Leser direkt an und sinniert über die erzählte Geschichte. Manchmal erwähnt sie das, was sie ausgelassen hat und dem Leser somit "erspart" blieb. Leider bleibt dennoch zu viel übrig, was dem Leser nicht erspart bleibt.

Lisa Eckhart nimmt die Handlung - also die in Episoden erzählte Biographie ihrer "Omama" - als Aufhänger für alle möglichen Themen, über die sie kleine Abhandlungen hält. Solche Themenkomplexe, die dem Leser in Form von kurzen Digressionen oder längeren Exkursen präsentiert werden, sind u.a.: Antipathie der Österreicher gegenüber den Deutschen, Frauen und ihre Menstruation, das Wesen des Dorf-Alkoholikers, des freiwilligen Feuerwehrmannes, etc pp. Wie in einem Wimmelbuch fokussiert die Erzählerin die unterschiedlichsten Personen, Szenen und Themen an, um über sie vom Zaun zu brechen. Teilweise sind ganze Kapitel solche pseudosoziologischen Mini-Abhandlungen (wie über den "Dorfdepp"). Inhaltlich wird hier einfach das politisch Inkorrekte auf die Spitze getrieben. Was nicht gesellschaftlich tabuisiert ist, wird nicht angesprochen, was nicht unter der Gürtellinie schlummert, ist quasi nicht erwähnenswert. Das ganze Buch ist eine einzige Satire und Aneinanderreihung von artikulierten Tabus.

Erst im dritten Teil von “Omama” gibt es endlich so etwas wie eine richtige Handlung. Jetzt geht es - wieder sehr episodisch - um das unkonventionelle Aufwachsen der Autorin bei ihrer Oma und erst dort wird es für meine Begriffe endlich humorvoll. Erst dann kommt die Situationskomik anhand der Eskapaden der Großmutter zum Tragen. Aber auch hier bleibt Eckhart ihrem Stil treu, nur eben gespickt mit witzigen Aussagen und Wortgebilden der Oma Helga, im Schlagabtausch mit der Enkelin und der sonstigen menschlichen Umwelt. Die typischen Exkurse und Betrachtungen behält die Autorin bei, aber die sind lesbarer, zugänglicher, natürlich aber trotzdem absolut überzeichnet. Es geht etwa um Freikörperkultur, den Beruf der Putzfrau, Wesen und Schrecken des Dachbodens, die TV-Sendung "Wetten dass…?", die Oper, das Reisen, das Alter, etc. Die Kochkünste der Omama und das Verhätscheln der Enkelin spielen eine große Rolle. Zwischen ein paar wenigen Zeilen können wir sogar tatsächlich so etwas wie Gefühl ausmachen: Die Liebe der Enkelin für die Großmutter. Aber so flüchtig wie der Moment gekommen, ist er auch sogleich wieder verflogen und die nach wie vor groteske Szenerie fordert wieder ihren Tribut.

Ist das jetzt alles Kunst oder kann das weg? Ich persönlich habe mich durch die ersten zwei Drittel dieses "Romans" regelrecht durchgequält, immer in der Hoffnung, dass es im nächsten Kapitel besser werden würde und die Autorin sich quasi neu erfindet. Ihr ist ja alles zuzutrauen in ihrer Unberechenbarkeit. Der ständige Spagat zwischen hehrer Philosophiererei und absurd-grotesken und teilweise unverständlichen Geschmacklosigkeiten, hat mir nicht gefallen. Man muss Lisa Eckhart dennoch zugutehalten: Sie ist überaus eloquent und intelligent, ihr "Roman" aber ist über die Langstrecke eine Zumutung. Ob man diese Zumutung käuflich erwerben und lesen möchte, bleibt aber natürlich jedem selbst überlassen.

Herzlichen Dank an die Hanser Literaturverlage/Zsolnay und vorablesen für das Rezensionsexemplar! 

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Sonntag, 16. August 2020

"Das Leben ist ein wilder Garten" von Roland Buti

 

 

Gärten der Erinnerung

Die Geschichte vom Schweizer Landschaftsgärtner Carlo Weiss, dessen Mutter hochbetagt ihr Seniorenheim verlässt, um sich in einem Grandhotel, das sie aus ihrer Jugend kennt, einzumieten, klang interessant. Die Erzählweise hat mich auch sofort überzeugt: sie ist leise, sehr beobachtend, melancholisch, aber auch humorvoll und augenzwinkernd.

Die Handlung ist ebenfalls sehr unaufgeregt, wartet aber mit skurrilen, äußerst emotionalen und überraschenden Momenten auf. Also wie das Leben selbst, das hier als “wilder Garten” bezeichnet wird. Das Motiv des Gartens ist neben dem Titel schon deshalb ein Leitmotiv des kurzen Romans (170 Seiten), da Carlo ja als Gärtner arbeitet und es im Text immer wieder um Gärten und die Tätigkeit des Gärtnerns an sich geht, über die die Figuren philosophieren. Gartenarbeit ist schließlich der Versuch des Menschen, die Natur zu zähmen, zu kultivieren. Andererseits geht es in der Geschichte von Carlos Mutter auch darum, wie die Natur sich den Lebensraum der Menschen zurückerobert. Ein Ornithologe, ein Schweizer Hotel während des Zweiten Weltkriegs...Aber ich will nicht zuviel vorweg nehmen. Wie der Mensch die Natur so muss der Leser sich diesen Roman, diesen wilden literarischen Garten, selbst erschließen. Auch Bücher werden ja sprichwörtlich als Gärten bezeichnet, die man in der Tasche trägt.

Noch etwas zu den Charakteren. Ich hätte sowohl die Geschichte der Hauptfigur Carlo, als auch die seiner Frau Ana sowie seines Angestellten Agon noch gerne ein bisschen länger und ausführlicher verfolgt. Leider war das Buch so kurz, die Figuren hätten in jedem Fall Potenzial für einen weitaus umfangreicheren Roman gehabt. Alleine Agon ist eine sehr tragikomische Figur, die der Leser schnell ins Herz zu schließen vermag, aber gleichzeitig auch etwas distanziert und irritiert betrachtet. Der Exil-Kosovare ist ein liebenswürdiger und auch etwas merkwürdiger Riese, der aber alles andere ist als ein tumber Tor. Obwohl er in der französischen Schweiz als Hilfsgärtner arbeitet, ist er eigentlich ein Intellektueller. Seine in die Schweiz geretteten Bücher - Epitome der Kultur - in denen Pflanzen Einzug halten, sind auch wieder eine Metapher für die Natur, die in die kulturelle Welt des Menschen vordringt - und mit ihr eine sonderbare Symbiose eingeht. Es liegt außerdem immer eine gewisse Tragik in Figuren begründet, die ihren erlernten, oft akademischen Beruf in dem Land, in das sie vor Krieg und Unruhen geflohen sind, nicht mehr ausüben können. Sie erleben eine gesellschaftlichen Abstieg, nur weil sie geflohen sind. So wie Agon - vom Französischlehrer zum Gärtnergehilfen.

Wenn ich abschließend ein Adjektiv finden sollte, das dieses Buch beschreibt, so würde ich wahrscheinlich "speziell" wählen. So speziell und einzigartig wie die Schweiz, die ja ein Vielvölkerstaat ist und als Ausbund an Neutralität und Eigenständigkeit gilt. Von daher ist dieser Kurzroman sehr schweizerisch, denn er geht einen eigenen Weg, ohne dezidiert gefallen zu wollen. Wenn ich im Nachhinein an das Buch denke, denke ich an die flirrende, aufgeladene Atmosphäre, die Roland Buti mit seinen Worten erschaffen hat - und an die Gärten der Erinnerung, in denen wir alle zuweilen wohnen, so wie Carlos Mutter im “Grand National”.

Herzlichen Dank an die Hanser Literaturverlage sowie vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

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Samstag, 15. August 2020

"Der halbe Russ" von Isolde Peter

 

Cosy Crime mit Dirndl und Dackel

Nein, es geht in "Der halbe Russ" nicht hauptsächlich um ein bayerisches Biermischgetränk. Der Titel spielt mit der Zweideutigkeit und das passt wiederum ganz wunderbar zu diesem locker-leichten und witzigen Cosy-Krimi, der zum einen Teil in München, zum anderen in einem kleinen (fiktiven) Ort im Bayerischen Wald spielt.

Die unfreiwillige Ermittlerin des Krimis heißt Daisy Dollinger, ihres Zeichens Sekretärin bei der Münchner Staatsanwaltschaft. Ihr Alter wird nicht explizit erwähnt, aber sie dürfte so Ende dreißig/Anfang vierzig sein. Obwohl sie eigentlich aus Dachselkofen in der Oberpfalz (Bayerischer Wald) stammt, hat sie der Ruhe und Einöde ihrer Heimat schon lange den Rücken gekehrt. Die familiäre Verbundenheit zwingt sie allerdings dazu, immer mal wieder "nach Hause" zu fahren, leben doch ihr Vater (Ex-Kriminalpolizist) sowie dessen Bruder mit Frau und der eingebildete Cousin Traugott mit seiner brasilianischen Verlobten Bruna dort.

Als in München ein Mord an einem russischen Straßenmusiker verübt wird, kommt Daisys musikalisches Talent zum Einsatz. Kommissar Leutner will, dass sie verdeckt für ihn im Straßenmusikermilieu ermittelt. Dass sie diese Ermittlung sogar bis an ihren Heimatort führt, hätte Daisy nicht erwartet...

Natürlich erinnert die Reihe sehr an den Eberhofer von Rita Falk. Bayerische Cosy-Krimis werden sich vermutlich bis in alle Ewigkeit daran messen lassen müssen. Der typisch bayerische, derbe aber auch hintersinnige Humor, die sehr selbstbewusste Hauptfigur und Tonnenweise Lokalkolorit. Dachselkofen und Niederkaltenkirchen haben natürlich Ähnlichkeiten. Beides ist im Bayerischen Wald und die Bewohner weisen spezifische Stereotypen auf, die man im Niederbayerischen tatsächlich findet (ich bin im Bayerischen Wald aufgewachsen). Da wäre zum einen die tiefe Gläubigkeit und Naturverbundenheit der Einheimischen, ihre Zurückgezogenheit und Skepsis Fremden gegenüber. Wenn sie aber mal aufgetaut sind, sind die meisten "Bayerwäldler" sehr herzliche und bescheidene Menschen, die neben ihrem geliebten "Woid" (Wald) nicht viel zum Leben brauchen. Genau das finde ich auch in diesem Buch wieder, in dem Isolde Peter scheinbar auch auf ihre eigene Wurzeln blickt. Die charakterliche Ähnlichkeit zwischen Cousin Traugott und Eberhofers Bruder Leopold war übrigens auch ziemlich frappierend. Dennoch hat Isolde Peter keinen "Eberhofer" geschrieben, sondern einen "Dollinger, geb. Blochner". Sehr schön geschrieben fand ich auch das Nachwort dieses Romans, in dem die Autorin uns Einblicke in ihren Schaffensprozess am Buch gibt.

Um diesen Krimi vollends genießen zu können, sollte man 1) “Cosy-Krimis”, 2) den Handlungsort Bayern und seine Bewohner sowie 3) augenzwinkernden Humor mögen. Wenn man Rita Falks Eberhofer-Krimis mag, schadet es im Übrigen auch nicht. Sollten alle diese Punkte innerlich abgenickt worden sein, kann ich diesen witzigen Krimi vorbehaltlos empfehlen.

Herzlichen Dank an den Droemer Knaur Verlag für dieses Rezensionsexemplar, das ich im Rahmen einer Buchverlosung bei Lovelybooks.de gewonnen habe!

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Dienstag, 11. August 2020

"Daisy Jones & The Six" von Taylor Jenkins Reid

Eher “Mittelmaßallee” als Walk-of-Fame

Mehrere Wochen über hat mir “Daisy Jones & The Six” als Einschlaflektüre gedient und als solche ihren Zweck voll erfüllt: Schon nach ein paar Seiten habe ich das Buch ohne Probleme weglegen und in einen entspannten Schlaf driften können. Ein “wilder Ritt”, wie es in einer der begeisterten Besprechungen hieß? Naja, für mich war das eher Ponyreiten auf dem Jahrmarkt. Aber von vorne.

“Daisy Jones and The Six” erzählt die Geschichte einer fiktiven Band in den 1970ern. Man wird also keine Songs dieser Band irgendwo auf Platte oder im Netz finden, auch nicht die Fotos von den Cover-Shootings, die ausführlich beschrieben werden und schon gar nicht die Artikel im “Rolling Stone”, die der Band im Buch zu ihrem berühmt-berüchtigten Ruf verhalfen.

Die Erzählweise, zugegeben, ist mal was anderes. Das Buch ist komplett im Interviewstil verfasst worden. Heißt in diesem Fall, alle Band-Mitglieder und einige wichtige Bezugspersonen derselben, kommen in Ich-Perspektive zu Wort. Einen Interviewer als solchen gibt es zunächst nicht, nur gegen Ende des Buches werden wir überrascht mit der Erkenntnis, wer eigentlich der Verantwortliche für diese "Memoiren" ist. Die einzige Unterteilung, die vorgenommen wird, ist eine chronologische in Form von Kapiteln, die den Werdegang von “Daisy Jones and the Six” anhand von wichtigen Stationen der Bandgeschichte nachzeichnen. Also von der Gründung bis zum Zerfall der Band mit einem Ausblick in die Gegenwart.

So und jetzt kommen wir zum Inhalt und zu Sex, Drugs & Rock n’Roll. Ja, jedes der drei Attribute, die wir mit der Musikgeschichte der wilden Siebziger verbinden, finden wir auf die ein oder andere Weise in der Handlung widergespiegelt. In Billy Dunne, dem Frontmann sowie in der Frontfrau Daisy Jones, finden wir alle Eigenschaften, die einen Musikstar dieser Zeit vermeintlich kennzeichnen: Immer zugedröhnt, ständig auf der Suche nach dem schnellen Kick, ein hohes Geltungsbedürfnis und natürlich ein außergewöhnliches musikalisches Talent. Billy und Daisy sind quasi amerikanische Klischee-Rockstars der Siebziger Jahre. Um ein wenig “Tragik” in die Handlung zu bringen, versucht Billy von Alkohol und Dope loszukommen und einen konservativen Weg als treusorgender Familienvater einzuschlagen. Seine Nemesis taucht dann in Form von Daisy auf, die ihren Rockstar-Weg einfach durchzieht, ohne Rücksicht auf Verluste. Dass die beiden wie magnetisch voneinander angezogen sind und ihre Zuneigung vor sich selbst und anderen als Abneigung, ja sogar als Hass definieren, ist schon ein wenig melodramatisch. "Wir waren zwei Hälften. Wir waren dieselbe Person." Sie dürfen ihre Liebe nicht leben, denn Billy ist ja verheiratet und Daisy eine zugedröhnte Ikone. Das ganze Buch dreht sich eigentlich um die (Hass-)Liebe der beiden, die anderen Bandmitglieder spielen eine untergeordnete Rolle. Bis auf Graham und Karen, die als Figuren ein wenig profilierter sind, sind alle anderen eher Klischeetypen, die eine Band halt braucht: der Säufer, der Groupie-Liebhaber, der misanthrope Gitarrist, der Über-Manager, etc.

Ich muss leider sagen, das Buch hat mich nicht abgeholt. Die Abgründe waren mir zu flach, die Story zu platt und die Figuren zu klischeehaft. Einzig die Idee und Erzählweise fand ich recht innovativ.

Danke an netgalley und Ullstein für das Ebook-Rezensionsexemplar. Als Hardcover (auch das abgebildete Lesezeichen stammt daher) habe ich das Buch im Rahmen der Schmökerbox Juli käuflich erworben.

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Samstag, 8. August 2020

"Der letzte Satz" von Robert Seethaler



Epilog eines Künstlerlebens

Leider muss ich zugeben: “Der letzte Satz” war mein erster Seethaler. Auch mit Gustav Mahler hatte ich bislang nicht viel zu tun, außer dass ich ganz im Groben über sein Leben und Werk Bescheid wusste.

Als Einstiegswerk in Seethalers Schaffen war dieser Kurzroman (nur 128 Seiten) für mich wunderbar geeignet. Man bekommt ein gutes Gefühl für den viel gerühmten Takt, den Seethaler in seiner leisen, eindringlichen Prosa anschlägt. Ja, Seethalers Schreiben ist sehr musikalisch und so passt es wunderbar, dass er sich den Weltmusiker Gustav Mahler als Protagonisten seines neuesten Werks ausgesucht hat.

Die Handlung von "Der letzte Satz" ist schnell zusammengefasst. April 1911. Gustav Mahler befindet sich auf seiner letzten Reise per Schiff von New York, wo er sein letztes Konzert gegeben hat, zurück nach Europa. Mahler weiß, dass er an einer unheilbaren Herzentzündung sterben wird. Auf der Schiffsreise, auf der ihn seine junge Frau Alma und seine kleine Tochter Anna begleiten, denkt er über sein Leben nach.

Es ist also im Wesentlichen Mahlers Innenleben, was hier beschrieben wird. Die Erinnerungen, die ihn beschäftigen und quälen und solche, die ihm teuer sind. Eine gedankliche Reise also zu den schönen und schlimmen Momenten seines Lebens. Es sind einschneidende Erlebnisse, wie der Tod seiner Tochter Maria, die Begegnung mit berühmten Menschen, seine Liebe zu Alma, natürlich seine Arbeit oder auch nur flüchtige Reflexionen über Gott und die Welt.

Wir haben außerdem ein wenig Teil am künstlerischen Schaffensprozess des Komponisten Mahler. Was inspiriert ihn, was setzt diesen komplexen gedanklichen Prozess in Gang, an dessen Ende die unvergängliche Musik steht, der man im Konzertsaal oder auf dem Tonträger lauschen darf.

Was wir hier lesen dürfen, ist ganz große Literatur, die sich an nichts weniger als an den großen klassischen Erzählern orientiert und doch ganz eigenständig und einzigartig dasteht in der Flut der belletristischen Publikationen. Dennoch werden manche sagen: zu kurz, zu oberflächlich. Aber sind nicht gerade die flüchtigen, oft nicht “fertig gedachten” Gedanken und Erinnerungen eines großes Künstlers, die wir nicht anders als in Form von Literatur kennenlernen dürfen, eine wahnsinnige Bereicherung? Für mich sind sie es jedenfalls.

Ein Buch, das man nicht nur einmal liest, sondern zu dem man immer wieder greifen wird, wenn einem der Sinn nach wehmütig schöner, erstklassiger Literatur steht.

Herzlichen Dank an die Hanser Literaturverlage sowie vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

Nähere Infos zum Buch (Klick aufs Cover):

https://www.hanser-literaturverlage.de/

Dienstag, 4. August 2020

"Alles Geld der Welt" von Gerhard Loibelsberger


 
Heinrich, mir graut vor dir!

Der wenig sympathische Protagonist des vorliegenden Romans, Heinrich von Strauch, ist begeistert von Goethes Faust und liest immer wieder die Szenen, in denen Mephisto dem Faust "alles Geld der Welt" in Aussicht stellt. Vor allem im Faust II geht es ums Geld und seine allumfassende Wichtigkeit - insbesondere dann, wenn es nicht vorhanden ist. "Wo fehlt's nicht irgendwo auf dieser Welt? Dem dies, dem das, hier aber fehlt das Geld“ (Goethe: Faust II, Akt 1) sagt Mephisto dort.

Auch in Loibelsbergers "Roman aus Wien im Jahr 1873" ist das Geld und wie man es "machen" kann, in aller Munde und im Überfluss leider nur in den Taschen der Reichen, Neureichen, Immobilienhaie und Börsenspekulanten vorhanden. Zu diesem “Berufsstand” gehört der Privatbankier und Börsianer Heinrich von Strauch. Ihm ist das ererbte und erworbene Geld an sich eigentlich "wurscht". Solange er es hat und die Annehmlichkeiten, die damit verbunden sind (im Wesentlichen Wein, Weib und Gesang), interessiert es ihn nicht besonders. Dafür hat er seinen Freund, Kollegen und Handlanger Ernst Xaver Huber, der die Geschäfte für ihn erledigt.

Der historische Börsenkrach am 9. Mai 1873 ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Romans. Die Handlung, beginnend im Januar 1873, steuert zielgerichtet auf dieses Ereignis zu, gruppiert sich um es herum. Überhaupt hat der Roman eine sehr dramatische Struktur. Der Held oder in unserem Fall, der Antiheld, prosperiert, steigt gesellschaftlich auf und wird schließlich zu Fall gebracht.

Die Gier nach dem schnöden Mammon ist das beherrschende Thema des Romans. Aber neben der Todsünde Gier, kombiniert mit Neid, kommen auch die Wollust und die Völlerei nicht zu kurz. Es wird beständig gegessen und oft auch "gepudert" (und damit meine ich nicht die Nase der Damen). Loibelsbergers Wien von 1873 ist ein Sündenpfuhl wie er im Buche steht.

Der Roman hat satirische Züge und entbehrt nicht einer gewissen unfreiwilligen oder auch intendierten Komik. Wie sich die gierigen neureichen Mannsbilder in diesem Roman verhalten, ist schon mehr als lächerlich. Da ist es kein Wunder, wenn der ungeliebten Frau Heinrichs von Strauch Gretchens berühmte Worte: "Heinrich, mir graut vor dir" durch den Kopf gehen. Sehr gefallen und zum Schmunzeln gebracht haben mich auch die intertextuellen Referenzen zum Autor Gerhard Loibelsberger. (Es folgt ein kleiner Spoiler!) Neben seinem Urgroßvater Karl, der eine kleine Szene als Schriftsetzer bekommt, kann sich der Leser von Loibelsbergers historischer Krimireihe auf einen “Cameo-Auftritt” des jugendlichen Kommissars Nechyba freuen.

Zur Lesbarkeit: Sehr oft werden fiktive (oder gelegentlich auch originale) Textpassagen aus Zeitungen, die die Figuren gerade lesen, in die Handlung eingeschoben. Diese Texte, in denen es im Altwiener Sprachduktus um die Börse, "Actien", "Actionäre" und "Effekten" sowie juristische Spitzfindigkeiten geht, sind sehr sperrig und für mich teilweise anstrengend zu lesen gewesen. Etwas weniger dieser Texte, mit denen meiner Meinung nach eher Wirtschaftshistoriker etwas anfangen können, wäre für mich mehr gewesen. Der Altwiener Dialekt wird sowohl in den Fußnoten als auch in einem Glossar im Anhang für den Leser aufgeschlüsselt. Dies unterbricht den Lesefluss, so man denn von den Fußnoten Gebrauch macht.

Alles in allem ist "Alles Geld der Welt" ein starker historischer Roman, der von der Vergleichbarkeit damaliger und heutiger Finanzgeschäfte lebt. Der Kapitalismus in seiner Reinform, der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht, wird hier unverhohlen kritisiert. Durch seine historisierende Form erinnert der Roman oft an zeitgenössische Werke des 19. Jahrhunderts. Es ist daher kein Buch für Jederfrau & Jedermann, aber sicher für viele ein interessanter und erschreckend aktueller Roman.


Herzlichen Dank an den Gmeiner Verlag für das Rezensionsexemplar!

Nähere Infos zum Buch (Klick aufs Cover): 

https://www.gmeiner-verlag.de/buecher/titel/alles-geld-der-welt.html

Montag, 3. August 2020

"Liebe machen" von Moses Wolff



Eine Verabredung mit dem Moment


Der Münchner Schauspieler, Musiker, Kabarettist, Komiker, Journalist, Filmemacher und Schriftsteller (ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit dieser Angaben) ist auch als Autor - wie könnte es bei der akkumulatorischen Berufsbezeichnung anders sein - sehr vielseitig: Vom Oktoberfest-Guide über den satirischen Heimatroman bis zur Krimireihe ist alles dabei. Jetzt hat er sich in seinem neuen Roman "Liebe machen" mit dem ewig alten und doch immer aktuellen Thema der emotionalen Anziehung zwischen zwei Menschen auseinandergesetzt. Aber nicht nur darum geht es in diesem bunten Buch, das den Leser schon durch den Blick auf das Cover in eine gut gelaunte, nostalgische Retro-Stimmung versetzt.

Der Autor nimmt uns mit auf eine Zeitreise durch die Bundesrepublik von 1970 bis in die Gegenwart. Zunächst sind die jungen Hauptfiguren des Romans (und ihr Umfeld) noch Hippies mit langen Haaren, Schlaghosen und Moralvorstellungen, die mit denen ihrer Elterngeneration rein gar nichts mehr zu tun haben. Jimi Hendrix lebt und spielt Gitarre, Brandt ist Bundeskanzler, man trinkt aus Senfgläsern mit Comicbildchen und liest Asterix und kommunistische Pamphlete, um subversiv zu sein. Das etwas konservativere Establishment gibt sich mit Roy-Black-Songs, Uschi Glas und diesem einen Schauspieler, dessen Name dem Protagonisten Götz partout nicht einfallen will (Spoiler: Fritz Wepper heißt er ;-)), zufrieden.

Dagmar aus Köln und Götz aus Hamburg, beide 20, lernen sich auf dem Oktoberfest kennen. Doch nur zwei kurze Momente sind ihnen in all den Jahren vergönnt und sie verlieren sich wieder aus den Augen. Wir als Leser spüren quasi wie die Zeit vergeht - und in Nullkommanichts sind 50 Jahre um. 50 Jahre, in denen in Deutschland und auf der Welt so viel passiert: Kultur- und Sozialgeschichte sowie der Zeitgeist eines halben Jahrhunderts werden uns im informativen Schnelldurchlauf gefiltert präsentiert und erzählerisch verpackt.

Das Buch ist von seiner Struktur her sehr episodisch. Immer wieder wechselt die Perspektive zwischen der von Götz und Dagmar. Mal sind wir in Köln, mal in Hamburg, mal in Griechenland, mal in München, etc. Man kann sich gut vorstellen, dass das Buch in einen Film umgewandelt wird und auch als solcher gut funktionieren würde.

Ist es ein Liebesroman, wenn die Liebenden gerade einmal ein paar Minuten miteinander verbringen und ansonsten getrennter Wege gehen, parallele Leben führen, die sich immer nur fast kreuzen? Ja, denn der kurze Moment der Liebe wiegt in diesem Buch schwerer als der Alltag der Jahrzehnte. Überhaupt ist dieser Roman eine Feier des Präsentistischen, ein “Carpe-diem-Plädoyer” für eine Verabredung mit dem "Hier und Jetzt". “Liebe machen” ist ein Gedankenexperiment, ein an vielen Stellen philosophisches Buch. Der Humor, den ich vom Autor kenne, ist hier eher leise und zwischen den Zeilen präsent. Richtige Schenkelklopfer findet man hier nicht, aber oftmals einige Schmunzler - und das ist auch gut so. Ein sehr gutes, nachdenklich machendes und unterhaltsames Buch!

Herzlichen Dank an Moses Wolff sowie an den Piper Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!

Weitere Infos zum Buch (Klick aufs Cover):

https://www.piper.de/buecher/liebe-machen-isbn-978-3-492-30749-9