Nicht immer, aber immer öfter haben die Protagonist:innen in den Belletristik-Büchern, die ich so lese, angesehene oder sogar prestigeträchtige bildungsbürgerliche Berufe: Professor:in, Forscher:in, Jurist:in, Künstler:in, Mediziner:in, Beamter/Beamtin, Student:in, etc. pp. Derzeit werden die Natur bzw. das Landleben literarisch wiederentdeckt, also ist auch mal ein/e Landwirt:in dabei, gerne mit akademischem Hintergrund. Eine Reinigungskraft oder “Putzfrau” (wie wir, wenn wir ehrlich sind, insgeheim sagen) als Protagonist:in war bis jetzt, soweit ich mich erinnere, noch nie dabei. Umso neugieriger war ich auf “Frau Putz” von Julia Hoch, das Buch mit der putzigen Taube auf dem Cover. Einem Tier, das so gar nicht mit Reinlichkeit assoziiert wird, werden sie doch auch “die Ratten der Lüfte” genannt. Die Wahl des Covers ist also schon mal ironisch-edgy und das hat mich u.a. überzeugt, das Buch zu lesen. Außerdem: Einfach mal die Perspektive von jemandem einnehmen, der für andere die Drecksarbeit erledigt und dafür - gering - entlohnt wird. Das hat - wie der Putzvorgang selber, etwas Kathartisches: “Dreck war irgendwie auch immer etwas wie Schuld, die belastete, die beschämte, und das Beschäftigen einer Reinigungskraft wirkte wohl befreiend. Man kaufte sich von Sünden frei. Schutz hatte kein Zuhause, für Schmutz gab es keinen Ort.” (S. 200)
Der Roman spielt ganz aktuell im Jahr 2023. Die selbstständige Reinigungsfachkraft Kerstin Wischnewski ist 47 Jahre alt. Außer einer studierenden 23-jährigen Tochter hat sie keine nennenswerten Verwandten, dafür einen ziemlich hohen Dispo-Kredit und eine Zahnlücke, die mit einer teuren Brücke versorgt werden will und dementsprechend Geldsorgen. Da ihr in letzter Zeit einige Aufträge weggefallen sind, ist das Geld noch knapper. Gut dass ihre Kollegin Erika in den Putz-Ruhestand geht und ihr einige hochkarätige Auftrageber:innen verschafft. Allerdings haben diese Putzstellen es mehr als in sich und Kerstin reflektiert immer mehr ihren Beruf - oder ist es doch eine Berufung?
Mir ist bei der Lektüre erst so richtig bewusst geworden, wie unterschiedlich unsere individuellen Vorstellungen von Sauberkeit eigentlich sind. Was für die eine völlig übertrieben ist, ist für den anderen Grundstandard und Mindestmaß an Reinlichkeit. In welchem Chaos oder Nicht-Chaos fühlt sich der einzelne Mensch wohl? Welche Regeln gelten für das “Wohlfühl-Zuhause”? Für Kerstin - wie für mich auch - ist es zum Beispiel völlig unvorstellbar, im eigenen Haus Straßenschuhe (bei mir zusätzlich Kleidung wie Jeans) - zu tragen, denn das Gefühl von Öffentlichkeit und Straßendreck soll draußen bleiben. Zuhause ist man man selbst.
Ein Buch, das ich empfehlen kann, wenn einem der Sinn nach einer Lektüre steht, die voll ist von der Ironie bzw. Absurdität des Alltags sowie allerhand Situationskomik und dennoch in Richtung Gesellschaftskritik geht.
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