Lieblingsautoren

Freitag, 27. Juni 2025

"Strandgut" von Benjamin Myers


Der alte Mann und das britische Meer

Wenn ich Benjamin Myers lese oder an sein Werk denke, dann schiebt sich ein Wort vor allen anderen in mein Bewusstsein: zeitlos. Sein hierzulande wohl berühmtester, meist gelesener und besprochener Roman “Offene See” spielt in der Vergangenheit, sein aktuelles Buch “Strandgut” in der Gegenwart. Aber irgendwie ist das nebensächlich, denn der individuelle Erzählton des britischen Autors ist immer derselbe: poetisch, klassisch, auf den Punkt. Myers Erzählen wird die Zeiten überdauern, seinen Status als “moderner Klassiker” mit jedem neuen Werk untermauern. Neben dem besonderen Erzählton vor allem auch deshalb, weil er zeitlose Menschheitsthemen zum Gegenstand seiner Bücher macht, mit denen sich praktisch jeder und jede identifizieren kann: Liebe, Verlust/Tod/Trauer, Schicksal, Neuanfang bzw. “das Danach”.

Der Phönix, der aus den verbrannten Trümmern seines Lebens aufsteigt, ist in “Strandgut” (Originaltitel: “Rare Singles”) der Amerikaner Earlon “Bucky” Bronco. Der Name könnte klischeehafter nicht sein. Am Anfang erleben wir den ehemaligen Soulsänger und mittlerweile Ü-70-Jährigen in seiner Heimat Chicago, wo er uns als gebrochener Mann und gebeutelte Seele entgegen humpelt: Er holt sich in der Apotheke/Drogerie seine Opiate, denn ohne sie kann er nicht mehr leben - genauso wenig wie ohne seine Frau Maybellene, die allerdings vor fast einem Jahr an Krebs verstarb. Ein Süchtiger, einer, der seine Trauer betäubt. Hier wäre die Geschichte eigentlich nur noch aus der Retrospektive relevant, wenn da nicht die Zukunft wäre, die Bucky ruft: Er soll seine wenigen alten Hits, die er als Teenager eingesungen hat und mit denen er nichts verdient hat, bei einem Festival im englischen Küstenort Scarborough singen und bekommt alles bezahlt. Hauptsächlich geht es jetzt also darum, wie er eine Woche in England verbringt und dort u.a. auf komische Mahlzeiten, englische Gebräuche und die Ü-50-Jährige Dinah trifft, die ein Fan von ihm zu sein scheint. Kann das “Hier und Jetzt” Bucky nochmal für sich begeistern?

Benjamin Myers schafft es irgendwie immer mich mitzunehmen - egal welche Geschichte er erzählt. Seine Worte, seine lyrische Prosa machen selbst - setze ein unflätiges Wort, das Exkremente beschreibt - zu Gold. Wobei ich die Geschichte, den Plot, die etwas karge, manchmal spröde und oft herzerwärmend ruhige Handlung auf keinen Fall runtermachen möchte. Solche Geschichten haben ihren Platz, ihre Nische. Solche Geschichten berühren, auch wenn sie vielleicht nicht für jeden sind. “Strandgut” ist vielleicht nicht Benjamin Myers gefälligstes, schönstes Buch, aber es macht sein Gesamtwerk um eine wichtige Facette reicher. Der Roman atmet Musik und Leben, zeigt uns, dass - so negativ der Status auch sein möge - immer die Chance auf eine bessere Zukunft in unseren eigenen Händen liegt. Wir sind unseres Glückes Schmied - wir müssen nur die Augen aufmachen und das Eisen aufheben, das wir zu dem vielleicht schönsten Hufeisen schmieden werden, das wir jemals in der Hand gehalten haben. Empfehlenswert. Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence.

Herzlichen Dank an Dumont und Vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.