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Montag, 26. August 2024
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Mittwoch, 21. August 2024
"Das Pfauengemälde" von Maria Bidian
“Manchmal frage ich mich, warum wir so viel zurückblicken, warum wir die alten Geschichten erzählen”, Marius grub die Hände tief in den sandigen Boden. “Und an anderen Tagen denke ich, dass es Dinge gibt, die erzählt werden müssen, wir haben so vieles nicht in der Schule gelernt. Für die nächste Generation soll es anders sein.” (S. 147)
Wie das Zitat schon sagt, in Maria Bidians Roman “Das Pfauengemälde” geht es um die Vergangenheit und deren Bewältigung. Topografisch ist diese Vergangenheit für die Ich-Erzählerin Ana in Rumänien verortet. Aus diesem Land stammen sie und ihre Vorfahren väterlicherseits. Anders als meine Vorfahren mütterlicherseits, für die das ebenfalls zutrifft, gehören sie aber nicht der deutschen Minderheit, den Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben, an, sondern sind - wie meine Oma es formulieren würde - “echte Rumänen”. Aber auch sie waren von den Enteignungen des kommunistischen Regimes betroffen, mussten Hab und Gut an den Staat abgeben. Heutzutage kann man anscheinend Prozesse führen, um das Weggenommene wieder zurückzubekommen. Aber was will man mit einem alten verfallenen Haus in einem Land, das schon seit Jahrzehnten “ausblutet”?
Die Familie der Ich-Erzählerin hat so einen Prozess geführt und gewonnen, das “Rumänische Haus” ist wieder in Familienbesitz und das will gefeiert werden. Also reist Ana aus Deutschland nach Rumänien, um ihre Verwandten zu treffen, vor allem die zahlreichen Geschwister ihres Vaters und deren Familien. Sie soll außerdem ihr Erbe in Anspruch nehmen, das titelgebende Pfauengemälde, den wertvollsten Besitz ihres vor zwei Jahren in Rumänien verstorbenen Vaters.
Die Familie ist im Dorf sehr angesehen, hat sie doch allerlei für die dort lebenden Menschen getan. Anastasias Vater Nicu, der Patriarch, starb vor zwei Jahren einsam in einer rumänischen Berghütte - Ana macht sich deswegen Vorwürfe.
Die Zerrissenheit, die sich in der Figur des Vaters bündelt, hat eine eigene Tragik. Er verließ seine Heimat wegen gegen des kommunistischen Regimes. Als Intellektueller mit rumänischem Doktoritel musste er in Deutschland bei Null anfangen und Gelgenheitsjobs nachgehen. Das Problem vieler Geflüchteter, die im eigenen Land einen weit höheren gesellschaftlichen Status innehatten als in der neuen fremden Heimat. Die deutsche Familie seiner Frau weiß nichts mit ihm anzufangen und er nichts mit ihr. Zumal war er fast 30 Jahre älter als Anas Mutter.
Die bürokratischen Zurückweisungen auf dem Passamt, der verlängerte “Zwangsaufenthalt” in Rumänien, die teilweise grotesken Träume, die seltsamen Flashbacks - das alles erinnert an die Literatur von Franz Kafka. Ana begegnet der Uneinsichtigkeit der Behörden mit einer Reaktion, die auch viele Figuren Kafkas an den Tag legen: “Die ganze Situation auf dem Passamt kam mir so absurd vor, dass ich anfing zu lachen.” (S. 95)
Leider wird dieses Absurde nur anerzählt und nicht konsequent ausgeführt. Vielmehr wird das Buch vom Geschreckgespenst Kommunismus überlagert. Ana besucht eine Ausstellung über die rumänische Revolution und die sowjetischen Gefangenenlager, in denen tausende Menschen gefoltert und getötet wurden. In der Gegenwartshandlung, die sich etwa 2017 abspielt, gibt es auch Demonstrationen gehen wieder aufkommende kommunistische Bestrebungen. Auch in die Erzählungen der Verwandten von Ana haben sich der Freiheitsgedanke und die Schrecken der Vergangenheit tief eingeschrieben.
Das Buch ist vom Gesamteindruck her also mehr Geschichtsstunde als literarischer Roman. Natürlich ist dies ein Verdienst an sich, denn hier im “freien Westen” verbinden wir Rumänien oft nur mit dem Dracula-Mythos, den Kirchenburgen, den Bettler:innnen. Mich zumindest müssen Romane aber auch unterhalten, um mich komplett zu überzeugen. Es reicht nicht, nur mit der geschichtlichen Thematik zu beeindrucken, denn dann kann ich auch zum Sachbuch greifen. Eine literarische Geschichte muss fesseln, einen Spannungsbogen aufweisen, mit Inhalt und Form überzeugen. Die Versuche, mit der Andeutung einer Dreiecksbeziehung so etwas wie Spannung aufzubauen, sind meiner Meinung nach gescheitert und in eine seltsame Richtung abgedriftet. Es werden zu viele Figuren eingeführt und dann quasi am Wegesrand der Handlung stehengelassen. Ich hätte einen Stammbaum oder ein Personenverzeichnis gebraucht, um die komplizierten Familienverhältnisse zu überblicken. Ana wird zunehmend naiver im Laufe des Plots, das Ende driftet ins Märchenhafte ab.
Weil mich aber die Geschichte des Vaters berührt hat und die historische Dokumentation sehr erhellend war, kann ich das Buch allen empfehlen, die sich für die Geschichte Rumäniens interessieren und die “Trockenheit” eines Sachbuches scheuen.
Herzlichen Dank an Lovelybooks und den Zsolnay-Verlag für das Rezensionsexemplar!
Sonntag, 18. August 2024
"A Midsummer's Nightmare" von Noah Stoffers
"Die Grenze zwischen den Welten hier auf der Insel war schon immer dünn. Und jemand macht sich das zunutze. Er hat sie aufgebrochen.” (S. 105)
Was viele vergessen: Shakespeare hat in seinen Dramen nicht nur die Realhistorie, philosophische Fragen oder die Urthemen der Menschheit wie Liebe und Tod in unsterbliche Kunst verwandelt - er war auch ein “Fantasyautor”, wie man heute sagen würde. Das wahrscheinlich berühmteste Werk der fantastischen Literatur ist - neben “Der Herr der Ringe” - Shakespeares “Sommernachtstraum”. Es ist schön zu sehen, dass auch moderne Autor:innen dieses Stück in ihren eigenen Werken rezipieren und somit - auch außerhalb der Bühne - lebendig werden lassen.
Auch Noah Stoffers hat den Shakespeare-Stoff adaptiert und in sierem Roman in einen neuen Kontext gesetzt. Diesmal wird das Stück auf der (fiktiven) schottischen Insel St. Hilma aufgeführt und zwar von Studierenden des “Murray College”. Hauptfigur in diesem Roman ist Ari Campbell, ein:e nonbinäre:r Studiernde:r. Ari ist im letzten Semester vor dem Abschluss in Archäologie und Kunstgeschichte. Dey sind wie gesagt nonbinär und transmaskulin. Ari hat ein erhöhtes Körperbewusstsein und ist sehr sensibel, was die Fremdwahrnehmung von denen selbst durch Mitmenschen angeht. Umso erfreuter ist dey, dass denen die Rolle des Elfenfürsten Oberon angetragen wurde, da deren maskuline Seite damit gewürdigt wird. Doch Ari fängt plötzlich an Geister zu sehen und auch mit Aris Freund:innen und Schauspielpartner:innen Rayna, Ren und Jamie scheint etwas nicht zu stimmen. Was ist nur am Murray los und wird der Sommernachtstraum von Shakespeare zu einem Sommernachtsalbtraum?
“A Midsummer's Nightmare” hat mich total überzeugt. Nicht nur ist die Geschichte ultra spannend und ein sehr abwechslungsreich geplotteter Pageturner, sie besticht auch durch die einzigartige Atmosphäre, die auf der abgelegenen schottischen Nordseeinsel herrscht. Dass die keltische Mythologie und die Legenden von der Anderswelt bzw. Feenwelt geschickt in die Story eingeflochten wurden, hat mir besonders gefallen. Alle Figuren waren schlüssig in ihrer Charakterisierung, aber die Hauptfigur Ari und Jamie, der verspielte extrovertierte Adelsspross, haben einen extra großen Eindruck bei mir hinterlassen. Wenn man nach der Lektüre noch über die Charaktere nachdenkt und sich fragt, wie es mit ihnen weitergeht, dann hat die schreibende Person definitiv etwas richtig gemacht.
Das Schubladendenken unserer Gesellschaft wird in diesem Roman zurecht kritisiert. Es stellt sich die Frage, ob eine strikte Trennung der Geschlechter, wie z.B. bei Toiletten oder College-Schlafsälen, überhaupt noch zeitgemäß ist. Schließlich entspringt diese einer heteronormativen Denkweise, die in einer offenen Gesellschaft wie der unseren, die eine Gleichbehandlung aller Menschen zumindest anstrebt, als rückständig anzusehen ist. Man konnte sich gut in die Sichtweise einer nonbinären Person einfühlen. Schließlich sind diese Menschen in der Literatur noch unterrepräsentiert und deswegen ist ein Roman mit einer solchen Hauptfigur umso wertvoller.
Wer nichts mit Grusel, Fantasy und leichtem Horror (für mich als Angsthase in dieser Beziehung absolut erträglich) anfangen kann, für den/die ist dieser Roman freilich nichts. Sehr schön fand ich auch “Pucks Worte zum Geleit” am Anfang - ich habe noch nie so eine poetische Triggerwarnung gelesen.
Alles in allem ein atmosphärischer, queerer und spannender Dark-Academia-Fantasy-Roman, den ich euch allen sehr ans Herz und an die Knochen (werdet ihr verstehen, wenn ihr das Buch gelesen habt), legen möchte.
Freitag, 16. August 2024
"Holding her breath"
Irische Literatur ist in Deutschland gerade ein bisschen “in” habe ich das Gefühl. Dabei kommt es mir vor, als würde gar nicht mehr so sehr auf das Werk und seine Qualität geachtet werden, sondern nur auf das Prädikat “Made in Ireland”. Jedenfalls wundere ich mich bei all der deutschen Irland-Verehrung derzeit, dass der Debütroman “Holding her breath” von Eimear Ryan - immerhin schon 2021 bei Penguin UK erschienen - noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Denn dieser Roman ist großartig.
In diesem wirklich besonderen Gegenwartsroman geht es um die zwanzigjährige Beth, die in Dublin gerade ihr Psychologiestudium begonnen hat. Sie ist leidenschaftliche Schwimmerin und war sogar auf dem Weg zu Olympia. Warum das nicht geklappt hat, will ich hier nicht spoilern. Jedenfalls ist Beth die Enkelin des (fiktiven) irischen Dichters Ben(jamin) Crowe, der sich in den 1980er Jahren mit 43 das Leben genommen hat, indem er von den Klippen ins Meer sprang. Das war lange vor der Geburt von Beth, die bis zu ihrem Unistart in einem kleinen Haus mit ihrer Mutter Alice und Ben's Witwe Lydia, die Nachlassverwalterin ihres Mannes, zusammenlebte. An der Uni wohnt sie mit Sadie zusammen, die Literaturwissenschaft studiert. Über sie Iernt sie den jungen Anglistik-Dozenten Justin Kelleher kennen. Sein Spezialforschungsgebiet ist ausgerechnet das lyrische Werk von Ben Crowe. Beth und Justin kommen sich näher und dabei stellt sich natürlich die Frage: Ist Justin wirklich an Beth als Mensch interessiert oder nur an ihren Genen und dem Nachlass ihres Großvaters? Und welche Vorkommnisse aus der Vergangenheit versucht ihre Großmutter vor ihr zu verbergen?
Wenn ich ein Motiv in der Literatur besonders liebe, dann sind das Wissenschaftler:innen, die ein bisschen zu sehr verliebt sind in ihr Forschungsthema. Wenn sich diese, ich nenne es mal Besessenheit, auf einen Schriftsteller bzw. Schriftstellerin bezieht, dann ist das ein Trope, den ich immer gern gelesen habe. Meisterhaft wurde er ausgeführt in A. S. Byatts “Possession” (dt. “Besessen”) und an dieses Buch hat mich “Holding her breath” auch in manchen Passagen etwas erinnert, auch das Motiv nicht bis zur Gänze ausgeführt wird.
Aber nicht nur die Tatsache, dass es um einen Dichter und seinen Nachlass geht, hat mich von diesem Roman überzeugt. Beth ist auch eine ganz starke Protagonistin. Die Autorin schafft es durch die Vermittlung ihrer Gedanken eine unglaubliche Intimität herzustellen, die eine besondere Nähe zwischen der Hauptfigur und den Lesenden erzeugt. Aber auch die Nebenfiguren sind sehr interessant und auf ihre Weise nahbar. Lydia, die dominante Schriftsteller-Witwe und selbst Autorin, hat mich an Virginia Woolf erinnert. Und auch Julie mochte ich sehr in ihrer Verletzlichkeit. Die Sache mit Justin gibt dem Ganzen einen leichten “Dark Academia-Touch”, obwohl sie letztlich sehr unspektakulär aufgelöst wird.
Dieses Buch ist eine Mischung aus Sportlerinnendrama, Campus-Novel, Liebesgeschichte(n), Coming- of-Age und Künstler:innenroman. Es geht zudem um transgenerationale Traumata und deren Überwindung sowie darum, wie uns die Erlebnisse unserer Vorfahren prägen und beeinflussen. Ein Buch, von dem ich relativ sicher bin, dass ich es ein zweites Mal lesen werde und über das ich traurig bin, weil ich es nie mehr zum erste Mal werde lesen können. Hervorragend!
Sonntag, 11. August 2024
"There There" von Tommy Orange
“We all came to the Big Oakland Powwow for different reasons. The messy, dancing strands of our lives got pulled into a braid - tied to the back of everything we'd been doing all along to get us here. We’ve been coming from miles. And we've been coming for years, generations, lifetimes, layered in prayer and handwoven regalia, breaded and sewn together, feathered, braided, blessed, and cursed.” (S. 135)
“Own Voices"-Geschichten sind - zumindest in der englischsprachigen Literatur - momentan sehr gefragt. Man möchte gewisse Themenbereiche in Romanen, in denen es hauptsächlich um Dinge geht wie sexuelle Orientierung/Geschlecht oder indigene Zugehörigkeiten am liebsten von Personen erzählt bekommen, die wissen von was sie reden, weil sie selbst ein Teil der Gruppierung sind. Authentizität ist hier das Stichwort. Und so ist es auch nicht verwunderlich dass mit Tommy Orange zum ersten Mal ein Native American (im Folgenden bleibe ich bei der Begrifflichkeit “Native/s”, weil sie von indigenen Amerikaner:innen selbst verwendet wird) mit “Wandering Stars” (“Verlorene Sterne” bei Hanser) für den ultra prestigeträchtigen Booker Prize nominiert ist.
“Wandering Stars” ist unmittelbar mit Oranges Debütroman “There There” (dt. “Dort Dort” bei Hanser/TB dtv) von 2018 verbunden, der 2019 für den Pulitzer Preis nominiert war und den American Book Award erhielt. Da “Wandering Stars” eine Art Sequel zu “There There” darstellt, bietet es sich an, diesen Debütroman zuerst zu lesen. Ich habe ihn als Buddyread mit @die.buchbloggende gelesen, sie auf Deutsch, ich auf Englisch. Das war sehr gut, weil so konnten wir uns etwas über die verschiedenen Begrifflichkeiten und deren Übersetzung austauschen.
In “There There” werden die Ungerechtigkeiten, die den indigenen Menschen Nordamerikas im Laufe der Geschichte angetan wurden, thematisiert. Das ist bedrückend und erschreckend zugleich, das Gefühl der Fremdscham für die brutalen Verbrechen der weißen Eroberer hat sich bei mir sofort eingestellt. Man muss sich nur mal vorstellen, dass Thanksgiving für die Natives die Feier der weißen Eroberer über den Genozid an den Indigenen darstellt und dies heute als einer der größten Feiertage der US-Amerikaner jedes Jahr aufs Neue zelebriert wird. Anhand von 12 Charakteren, allesamt “Urban Natives” aus Oakland (Kalifornien), illustriert Orange die gegenwärtige Lebenswelt von indigenen Amerikaner:innen. Sie alle haben es schwer gehabt im Leben bzw sind noch längst nicht angekommen. Glück, Wohlstand und Gesundheit sind für die meisten der Ich-Erzähler:innen ferne Wünsche. Sie alle arbeiten auf irgend eine Weise auf den großen “Powwow” von Oakland hin, wo sie ihre Kultur und den Zusammenhalt mit Musik und Tänzen feiern.
Es fällt mir sehr schwer dieses Buch zu bewerten, denn einerseits ist die Wichtigkeit des Themas über jeden Zweifel erhaben, andererseits hat mir aber etwas gefehlt und an dessen Stelle ist eine gewisse Überforderung bei mir eingetreten. Vor allem konnte ich die 12 Charaktere und ihre Geschichten irgendwann nicht mehr ganz auseinanderhalten. Es gibt zwar am Anfang eine Kurzbeschreibung der Charaktere, aber trotzdem: Wer hatte jetzt nochmal seine Eltern, Geschwister, Stiefvater verloren, wer kennt seinen Vater nicht, wer war ungewollt schwanger, wer hat Gewalt und Missbrauch erlebt, wer war süchtig und nach was und wer konnte tagelang nicht “Groß” auf dem Klo? Natürlich verstehe ich den Ansatz, möglichst viele Geschichten erzählen zu wollen, aber sie sind leider durch die Bank alle sehr deprimierend. Wir haben - aus meiner Sicht - keinerlei “comic relief” in diesem Buch, es ist alles sehr, sehr ernst. Zudem konnte ich zu den wenigsten Charakteren eine Verbindung aufbauen, da sie in ihrer Tragik sehr holzschnittartig rüberkommen. Es gibt Stellen, da hat mich aber die Sprache und die Erzählweise unglaublich berührt, zum Beispiel beim Kapitel “Thomas Frank”, das einen inneren Monolog in der Du-Anrede abbildet. Es ist alles sehr "deep", wie man im Englischen sagen würde. Wer eine solche ultra tiefgründige Lektüre sucht, der ist hier genau richtig. Aber man muss sich wirklich auf die Abgründe des menschlichen Lebens gefasst machen - fast alle Trigger, die man sich so vorstellen kann, sind in diesem multiperspektivischen und preisgekrönten Roman vorhanden. Vor allem aber: Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Gewalt, Missbrauch/Leid von Kindern.
Dienstag, 6. August 2024
"Damals im Sommer" von Florian Gottschick
“Ich drehte leicht den Kopf zur Seite, und Filips Blick traf den meinen. Seine Augen konnten ohne seinen Mund lächeln, und ich versank ihn ihnen tiefer als im Anblick der Sterne.” (S. 64)
Hach, ja, die erste Liebe. Für die meisten eine schöne und einschneidende Erinnerung, auch für unseren namenlosen Ich-Erzähler aus “Damals im Sommer”. Er macht als Teenager Ferien mit seinem 2 Jahre älteren Bruder Fer(dinand) und seinen Eltern. Wo erfahren wir nicht, aber vieles deutet auf Italien hin, wo sie in einem Ferienhäuschen im Pinienwald nahe des Meeres residieren. Die Brüder lernen an einem Hotelstrand den polnischstämmigen französischen Teenager-Jungen Filip kennen und der Ich-Erzähler verliebt sich in ihn. Was danach passiert kann ich nicht verraten, aber man sollte sich auf einige Plot-Twists, Humor und viel Herzschmerz gefasst machen, die einem in dieser Geschichte begegnen.
Wir befinden uns auf der Erzählebene in den späten Neunzigern, der Protagonist und Ich-Erzähler ist ca. 15 Jahre alt. Der Roman vermittelt auf eindrückliche Weise das Lebensgefühl der Jugend der “Generation Y”. Der Autor selbst gehört dieser “Millennials” genannten Generation ebenfalls an, ist er doch 1981 geboren. Zu den späten Teenagerjahren dieser - auch meiner - Generation gehören die ersten Erfahrungen mit dem Internet und mit Mobiltelefonen, deren Benutzung damals noch wesentlich teurer und exklusiver war als heute. Während der ältere Bruder bereits CDs und Disc-Man besitzt, hört der jüngere die alten ALF-Kassetten auf dem Walkman mit Begeisterung. Solche Sachen, die mich auch an meine eigene Kindheit und Jugend erinnern und definitiv ein wohliges nostalgisches Gefühl bei mir ausgelöst haben.
Dieses Buch liest sich unglaublich gefällig und fast so leicht, als würde man mit einem Messer durch weiche Butter gleiten. Der Autor schreibt geradlinig und frei von der Leber weg, ohne sich zu verkünsteln oder von der gefälligen Alltagssprache eines Jugendlichen, die naturgemäß auch viel expliziten Sprech enthält, abzuweichen.
Die Geschichte wirkt, als könnte sie tatsächlich so wie beschrieben passiert sein. Hinweise auf Autofiktionalität liefert zum Beispiel der Prolog: “Aufgeschrieben habe ich diese Geschichte noch nie, weil sie ausgedacht klingt. Sowas passiert schließlich nicht im wirklichen Leben - in dem, das man so nennt.” (S. 10) Also wirkt die Story laut Erzähler doch eher wie eine Erfindung? Die Frage, was hier Realität und was Fiktion ist, ist für die Lesenden schwer zu beantworten. Im Nachwort heißt es: “Florian (Gottschick) dankt: Fernando Kamachi, der mir seine Geschichte anvertraut hat. Bartosz Z., der mir so viel mehr als seine Geschichte anvertraut hat.” (S. 189). Das Buch ist allerdings neben Fernando und Bartosz u.a. auch Peter und (in Gedenken an) Mimi gewidmet, so heißen auch die Eltern des Ich-Erzählers. Und Fernando ist der Name von dem die Haushälterin der Familie annimmt, es sei der korrekte Name von Fer(dinand). Ohne eingehende Detektivarbeit bzw. einem Gespräch mit dem Autor wird man wohl diesbezüglich nicht weiterkommen.
Letztlich ist es aber auch egal, was an diesem bittersüßen Sommermärchen erfunden wurde und was wirklich passiert ist. Es ist und bleibt eine sehr gute Coming-of-Age-Geschichte, perfekt für den Urlaub, die ich auf jeden Fall weiterempfehlen kann.
Herzlichen Dank an das Bloggerportal und Penguin für das Rezensionsexemplar!