Donnerstag, 14. März 2024

"Der Stich der Biene" von Paul Murray


“Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.“ Dieses sehr berühmte Zitat aus “Anna Karenina” lässt sich auch auf “Der Stich der Biene” von Paul Murray (übersetzt von Wolfgang Müller, erscheint am 14.3.2024 bei Kunstmann) und auf die dort im Fokus stehende irische Familie Barnes übertragen. Sie sind unglücklich - warum und vor allem wie es zu diesem negativen Status Quo ihrer Gefühlswelten kam - erfahren wir in diesem 700 Seiten umfassenden Meisterwerk der modernen Erzählkunst. Fun fact: Paul Murray hat das Manuskript tatsächlich zunächst mit der Hand geschrieben und es dann erst digitalisiert. Eine unfassbare Leistung angesichts der enormen Seitenzahl - und eine sehr unmittelbare Art zu schreiben.

“The Bee Sting” war 2023 für den Booker Prize nominiert und stand sogar auf der Shortlist. Aus der englischsprachigen Bücher- und Rezensent:innen-Welt gab es fast nur positive Stimmen und man kann nur mutmaßen, warum es letztlich ein anderer irischer Autor mit dem Vornamen Paul war, der den renommierten Preis abgeräumt hat (Paul Lynch für “Prophet Song”). Das Buch heißt auf Deutsch übrigens nicht “Der Bienenstich”, was die genauere Übersetzung von “The Bee Sting” wäre, weil man es sonst im deutschsprachigen Raum mit einem Kuchen verwechseln könnte. Gehaltvoll und reich an geistigen Kalorien ist dieses Werk aber allemal.

Das übergreifende Thema des Romans sind Lebensentscheidungen - und Lebenslügen. Was bewegt uns, genau diese Entscheidungen zu treffen, die wir getroffen haben? Warum unterdrücken wir Teile unseres wahren Ichs, nur um anderen zu gefallen bzw. in die traditionellen Raster einer Gesellschaft zu passen? Und: spielt das Schicksal eine Rolle? Wäre alles anders gekommen, wenn die Braut am Hochzeitstag nicht von einer Biene gestochen wäre? Würde jemand ein urbanes, queeres Leben in der Großstadt führen, wenn nicht ein ihm nahestehender Mensch bei einem Autounfall gestorben wäre, dessen “Platz” und Rolle er eingenommen hat?

Gibt es sowas wie valide Omen, Vorsehung, Wahrsagen - und Geister? Was macht der Verlust der einzigen wahren Liebe mit einem Menschen?

Diese Fragen - und noch viele mehr - stellt sich der Roman anhand des Fallbeispiels der scheinbaren irischen Durchschnittsfamilie Barnes, die bei genauer Betrachtung - und die Betrachtung ist mit 700 Seiten sehr genau - alles andere als durchschnittlich ist. Ihr psychologischer und ökonomischer Verfall wird eindringlich dargestellt. Man könnte das Werk von der Dynamik, Disposition und Thematik her gut mit Thomas Manns “Buddenbrooks” vergleichen: “Der Stich der Biene” handelt nämlich auch vom “Verfall einer Familie”, wie es bei Thomas Mann im Untertitel seines Nobelpreis-Werks heißt.

“Der Stich der Biene” fühlt sich stellenweise an, als würde man das Protokoll einer sehr intensiven Therapiesitzung lesen, bei der die tieferen Schichten des Bewusstseins der literarischen Figuren nach und nach freigelegt werden. Es fügen sich immer mehr Puzzleteile zusammen, die am Ende ein großes Ganzes ergeben, auf dem die gegenwärtige verfahrene Situation zusammen mit den Versatzstücken aus der Vergangenheit abgebildet ist. Das Ende ist aber entsprechend offen - jeder kann sich seine/ihre eigene Meinung bilden, was nun genau geschehen wird.

Die Erzählweise ist multiperspektivisch. Der Roman wird aus den unterschiedlichen Perspektiven der vier Mitglieder der Kernfamilie erzählt: Zunächst Cass, die Tochter, die kurz vor ihrem Schulabschluss steht und der Provinz sowie der angespannten familiären Situation durch die Aufnahme aufs Trinity College Dublin entfliehen möchte. Dann PJ, der zwölfjährige “Nachzügler”, der den drohenden finanziellen Ruin der Familie auch körperlich zu spüren bekommt. Die Geschichten der beiden Jugendlichen sind voll mit Jugendsprache, Kraftausdrücken und Chat-Konversationen. Ganz anders nimmt sich da plötzlich die Perspektive der Mutter Imelda aus. Ihre Sicht wird sehr unmittelbar im inneren Monolog bzw. Gedankenstrom erzählt, wobei die Interpunktion ausgesetzt ist und wir nur an der Großschreibung erkennen können, wenn ein neuer Satz beginnt. Das ist natürlich eine Hommage an Murrays berühmten Landsmann James Joyce und das letzte Kapitel von “Ulysses”. Die Unmittelbarkeit, die hier erzeugt wird, ist bestechend. Komplettiert wird das Ganze durch die Perspektive des “Familienoberhaupts” Dickie, der gegen die drohende Insolvenz seines Autohauses und gegen seine wahre Identität ankämpft. Während die Kinder sich vor allem mit ihrer Gegenwart und der Zukunftsangst auseinandersetzen, sind die Geschichten der beiden erwachsenen Familienmitglieder von der Vergangenheit geprägt. Wie wurden sie zu den Menschen, die sie jetzt sind. Schön und wichtig, wenn es um die Fiktionalisierung unserer gegenwärtigen Lebenswelt geht, finde ich auch den queeren Aspekt des Buches. Damit hätte ich zunächst nicht gerechnet und ich will diesbezüglich auch nicht zu viel verraten, nur dass es ihn eben gibt.

Umwelt- und Klimaschutz sind Themen, die ebenfalls eine wichtige Rolle im Roman spielen. Cass beginnt sich während ihrer fortgeschrittenen Schulzeit mit Klimafragen auseinanderzusetzen und begeistert auch ihren Vater dafür. Als Inhaber eines Autohauses zweifelt er zunehmend an seinem Beruf. Bei ihm trägt die Zunahme des ökologischen Bewusstseins quasi zum ökonomischen Verfall der Familie bei. Die prekäre Lage der dysfunktionalen Familie Barnes ist außerdem ein Symbol für die verheerende Lage, in der sich die ganze Welt angesichts des Klimawandels - genau jetzt in unserer Gegenwart, in der wir alle gemeinsam auf diesen Planeten leben, der kurz vor der Zerstörung steht - befindet. Der Mikrokosmos Barnes spiegelt den Makrokosmos Erde. Daher auch das offene Ende: Es ist unklar, ob die Menschheit es schaffen wird, das Ruder noch herum zu reißen, genauso unklar ist es, ob die Familie Barnes selbiges schafft. So viel sei gesagt: Die Vorzeichen sind keinesfalls positiv und eine Tragödie ist wesentlich wahrscheinlicher als ein Schauspiel mit freudigem Ausgang. Einer der unheilsschwangeren Sätze, die mir im Gedächtnis geblieben sind, lautet: “Man konnte die Menschen, die man liebte, nicht schützen - das war die Lektion der Geschichte, und deshalb bedeutete die Liebe zu jemandem, sich einer drastisch erhöhten Leidensstufe auszuliefern.” (S. 442)

Der Roman lässt sich nicht mal eben schnell “weglesen”. Für dieses Buch braucht man Zeit, Energie und die Bereitschaft, sich wirklich voll und ganz auf diese Geschichte - in all ihren Facetten und kleinsten Verästelungen - einzulassen, sonst funktioniert es nicht. Hat man aber seinen Teil als Leser:in eingebracht, dann wird man mit einem erzählerischen Opus Magnum belohnt, das einen nicht selten verzaubert und zur Selbstreflektion anregt - und das ist ja der Sinn und Zweck von Literatur.

Herzlichen Dank an den Kunstmann-Verlag und Lovelybooks für das Rezensionsexemplar!

Diesen Buchrücken liebe ich übrigens ganz besonders.


Mittwoch, 13. März 2024

"Der Wald" von Eleanor Catton


Ein Roman über die Tragödien unserer Zeit

Was sind die tragischen Figuren unserer Gegenwart? In Shakespeares Dramen waren es die Herrscher und die Usurpatoren, die sich nicht selten eine Schlacht um den Thron lieferten. Heutzutage sind es immer mehr die Weltpolitiker, Tech-Magnaten und Großindustriellen und auf der anderen Seite Klimaschützer:innen wie Greta Thunberg und ihre Bewegung “Fridays for Future”. Die einen kämpfen für sich selbst bzw. ihr Image, die anderen für nichts weniger als die Zukunft unseres Planeten. Eleanor Catton, die jüngste Booker-Prize-Trägerin aller Zeiten (sie gewann den Preis 2013 für “The Luminaries”) hat sich in ihrem Roman “Birnam Wood” (auf Deutsch schlicht “Der Wald”, übersetzt von Meredith Barth und Melanie Walz) ebenfalls mit dem Kampf Gut gegen Böse, Wirtschaft vs. Umwelt, Kapital vs. Moral auseinandergesetzt. Nicht umsonst heißt das Kollektiv, das die Protagonistin Mira gegründet hat, “Birnam Wood”, ein Begriff der Shakespeares Tragödie “Macbeth” entnommen ist. 

Worum geht es? Neuseeland im Jahr 2017. In Christchurch gibt es seit einigen Jahren das Guerrila-Gardening-Kollektiv “Birnam Wood”. Die Gründerin Mira und ihre gute Freundin Shelley stehen an einem Wendepunkt. Shelley möchte die Gruppe verlassen und Mira driftet ein bisschen orientierungslos dahin. Mira wird auf ein Grundstück in Thorndike am Rande des Korowai-Nationalparks aufmerksam, das sich perfekt für ihre gärtnerischen Aktivitäten eignen würde. Dieses Grundstück des gerade zum Ritter geschlagenen Schädlingsbekämpfers Owen Darvish wiederum möchte der durch Drohnen reich gewordene amerikanische Milliardär Robert Lemoine erwerben, um dort einen Bunker zu bauen. Er bietet Mira und “Birnam Wood” an, ihre Pflanzungen auf dem Gelände zu betreiben, außerdem will er sie mit einer großen Summe finanzieren. Ist dies die Rettung des Kollektivs oder ein Pakt mit dem Teufel?

In ihrem Roman wirft Catton viele Fragen auf, die wir uns als Menschen des 21. Jahrhunderts stellen müssen. Zum Beispiel, wie weit Digitalisierung und Selbstoptimierung gehen dürfen. Ob es nicht zutiefst menschlich ist, Fehler machen zu dürfen und nicht perfekt zu sein. Was wären Kunst und Kultur, wenn sie nicht das menschlich Fehlerhafte zum Thema hätten? Was macht dieses Streben nach Perfektion und Unsterblichkeit mit uns? Tony ist die Figur im Roman, die den Selbstoptimierungswahn, die Skrupellosigkeit und Amoralität, die in der Figur des Lemoine auf die Spritze getrieben wird, anprangert. Mira, die Gründern von Birnam Wood, ist hin- und hergerissen zwischen dem charismatischen Multimillionär, der sich Unsterblichkeit erkaufen will und dem erfolglosen Gelegenheitsjournalisten, der das menschlich Fehlerhafte, aber auch das uns Menschen inhärente Streben nach moralischem Handeln verkörpert. Wer wird am Ende mit seinen Positionen reüssieren? Oder kann niemand gewinnen, weil wir am Ende alle in einem Boot sitzen? Zentral ist auch die Frage, wie weit Überwachung gehen darf. Sind Drohnen nicht zutiefst unmoralisch und wird uns diese Technik nicht letztlich mehr Schaden als Nutzen bringen?

Ich betonte immer wieder gerne in meinen Rezensionen, wie sehr ich es mag, wenn ein Roman durch Originalität besticht. “Der Wald” ist mal wieder so ein Buch. Die Konstellation Guerilla-Gardening-Kollektiv trifft shady Multimilliardär-Prepper ist definitiv eine, die mir so noch nie erzählt wurde. Außerdem ist mir Neuseeland als literarischer Schauplatz auch relativ neu.

Für einen literarischen Roman ist “Der Wald” ungeheuer fesselnd. Der Plot ist einfach spannend im klassischen Sinne. Man will unbedingt wissen, welchen Schachzug die handelnden Personen bzw. Parteien als nächstes ausführen. Die berühmte “Sogwirkung” ist meiner Meinung nach voll gegeben. Es wechseln sich Phasen der eingehenden Charakterisierung der einzelnen Personen mit solchen der Plotentwicklung ab, wobei im letzten Drittel die Handlung erst richtig an Fahrt aufnimmt. Ab diesem Zeitpunkt kann man wegen der Spannung und des rasanten Erzähltempos das Buch nur noch schwer aus der Hand legen. Ökothriller ist meines Erachtens wirklich die richtige Gattungsbezeichnug.

Die Übersetzung ist zu Beginn etwas holprig und gestelzt, wird dann aber zunehmend besser. Manchmal gibt es aber nach wie vor kleine Ungereimtheiten. Zum Beispiel bezeichnet eine Person eine andere als “du Dreck” (S. 480). Würde man das so sagen? Ich kenne das Original nicht, könnte man aber vorstellen dass so etwas gesagt wurde wie “you piece of shit”, was ich dann eher als “Du Drecksack”, “Du Abschaum” oder “Du Dreckstück” übersetzt hätte. Was ich ebenfalls nicht ganz nachvollziehen kann, ist die Entscheidung des Verlags, das Buch “Der Wald” statt “Birnam Wood” zu nennen. Selbst wenn einem der Begriff Birnam Wood nichts sagt und man nicht weiß dass es ein Zitat aus “Macbeth” ist, so kann man das erstens googeln und zweitens wird es im Text ausführlich erklärt. Finde ich etwas schade dass man hier den deutschen Leser*innen so wenig zutraut, zumal ja nicht wirklich ein “Wald” eine Rolle spielt im Roman. Dann hätte man eher sowas wie “Das Kollektiv” nehmen sollen.

Ein weiteres Manko ist meines Erachtens, dass es den Charakteren oft an Tiefe fehlt. Vor allem Lemoine ist sehr klischeehaft gezeichnet und Mira und Shelley sind als Persönlichkeiten zu flach und austauschbar. Alles in allem ist das Buch dennoch ein sehr spannender literarischer Gegenwartsroman, der viele Fragen unserer Zeit aufwirft und mit einem der krassesten Enden schockiert, die ich seit Langem gelesen habe, welches ich mir aber trotzdem etwas anders gewünscht hätte. 

Triggerwarnung: Drogenmissbrauch, Gewalt, Mord, Umweltzerstörung

[Werbung, da Rezensionsexemplar] Herzlichen Dank an den btb-Verlag sowie das Bloggerportal von Randomhouse für das Rezensionsexemplar

Freitag, 8. März 2024

"Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten" von Annabelle Hirsch

Zum Weltfrauentag gibt es heute einen Sachbuch-Tipp von mir. 

Als ich neulich am Bücherschrank war, stand ganz oben in der ersten Reihe ein rotes, sehr neuwertig wirkendes Hardcover, das sofort meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat. Es war “Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten” von Annabelle Hirsch, 2022 im Kein & Aber Verlag erschienen. Ich blätterte das Buch durch und es sagte: “Nimm mich mit, füge deinem Bücherregal ein weiteres Objekt hinzu.”

Menschen, ich muss euch sagen, dieses Buch ist wirklich ein Fest. Es enthält tatsächlich feministische Objektgeschichte von ca. 30.000 vor Chr. bis in die 10er Jahre unseres Jahrhunderts hinein. Ob es eine Nonnenkrone, Hannah Arendts Edelweißbrosche oder eine Au Bon Marché-Rechnung aus dem Frankreich der 1860er Jahre ist - ein faszinierendes Kompendium weiblicher Dinge. Die Autorin sagt in der Einleitung, dass die Objekte, die sie gesammelt hat und von denen sie erzählt, “vom Alltag der Frauen erzählen, von kleinen und großen Momenten.” Es sind “Objekte, die mit Themen verbunden sind, die Frauen tangier[en], Körper, Sex, Liebe, Arbeit, Kunst, Politik.” Dabei möchte die Autorin in “Die Dinge” quasi mal hier und dort eine Tür zu einem imaginierten “Flur der Vergangenheit” öffnen und jeweils eine Story zu dem ausgewählten Objekt erzählen. Aber sie erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern möchte uns dazu ermuntern, selbst nachzuforschen und weitere Geschichten von (weiblichen) Dingen zu recherchieren und weiterzuerzählen.

Dieses Buch ist sicher nicht dafür gedacht, es an einem Stück komplett durchzulesen, auch ich habe das nicht getan. Aber um immer mal wieder reinzuschmökern, dafür ist dieses Sachbuch über weibliche Objektgeschichte, das es mittlerweile auch als Taschenbuch gibt, perfekt.



Donnerstag, 29. Februar 2024

"Yellowface" von Rebecca F. Kuang


Über Autor:innenschaft, Shitstorms und Pancakes

Marilyn Monroe sagte einst “Neid ist der Schatten, den der Erfolg wirft”. Neid gibt es überall, wo Menschen in gesellschaftlichen Beziehungen zueinander stehen. Neid gibt es auch in einer Branche, mit der wir Leser:innen es tagtäglich indirekt zu tun haben: der Buchbranche. Selten ist es allerdings, dass dieser Neid offen thematisiert wird. Meistens findet er nur hinter verschlossenen Türen der Verlage und Autor:innenaccounts statt. Wirklich niemand möchte gerne zugeben, dass er/sie neidisch ist. Neid lässt einen schlecht und missgünstig wirken und keine/r möchte am Ende des Tages überhaupt neidisch sein, wenn er/sie in den Spiegel schaut. 

Auch June, die Protagonistin von Rebecca Kuangs Roman “Yellowface” (übersetzt von Jasmin Humburg, auf Deutsch erschienen bei @eichborn) möchte nicht neidisch sein auf ihre Freundin Athena Liu - und ist es trotzdem. Athena, die wunderschöne Schriftstellerin mit asiatischem Migrationshintergrund, die es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschafft hat. Athena ist alles, was ihre Collegefreundin June gerne wäre, vor allem aber lebt sie als erfolgreiche Schriftstellern ihren Traum, während Junes Romandebüt floppte und sie einem Brotjob nachgehen muss. Doch als Athena bei einem Treffen der beiden, in Washington D.C. lebenden Freundinnen, stirbt, bietet sich June die Gelegenheit ihres Lebens: Sie klaut das gerade fertiggestellte Manuskript von Athenas Geheimprojekt “Die letzte Front”. Ob sie damit durchkommt oder nicht, darum geht es in “Yellowface”.

Kuang karikiert in ihrem Roman die US-amerikanische Buchbranche und seziert ihre Mechanismen und Praktiken, die mitunter alles andere als einwandfrei sind. Er führt einem die Tatsache vor Augen, dass diese Branche vor allem eins ist: schnelllebig. Selbst die Halbwertszeit von Bestsellern ist gering und sollten Bücher nicht zu Klassikern mutieren, werden sie schnell von Neuheiten verdrängt. Eine oberflächliche Branche wie so viele andere auch, die seit der Existenz des Internets allerdings genau beäugt wird. Autor:innen sind transparenter geworden und werden nicht selten zur Zielscheibe von Trollen. Wenn natürlich einem Autor/einer Autorin ein schwerwiegendes Vergehen anzulasten ist, wie im Fall von June das Plagiat, dann sind Shitstorms hausgemacht: Der Diebstahl von geistigem Eigentum ist kein Kavaliersdelikt. Urheberrecht und Autor:innenschaft sind nicht verhandelbar.

Ein weiteres Thema bringt der Roman zur Sprache: Darf man als weiße Autor:in überhaupt etwas über chinesische Zwangsarbeiter während des Ersten Weltkriegs schreiben oder ist das kulturelle Aneignung? Kein einfaches Thema und sicher ist es nicht eindeutig zu beantworten, wo die Grenzen zwischen Kunstfreiheit und kultureller Aneignung liegen. June jedenfalls ist der Meinung, dass die Verlagswelt heutzutage vor allem auf Autor:innen setzen würde, die queer sind und/oder über einen Migrationshintergrund verfügen würden - und dadurch würde sie als weiße heteronormative Frau ins Hintertreffen geraten. Letztlich gibt sie der Gesellschaft die Schuld für ihre Erfolglosigkeit und stellt das eigene Talent dabei nie wirklich in Frage. June belügt sich selbst und stellt ihren eigenen moralischen Kodex auf stumm.

June ist süchtig nach der Magie des Schreibens: “Schreiben heißt, etwas aus dem Nichts zu erschaffen, Türen zu anderen Welten zu öffnen. Schreiben gibt dir die Kraft dein eigenes Reich zu formen, wenn die Realität zu sehr schmerzt.” Das ist einer der wenigen Sätze, bei denen man eine Art Mitgefühl für June aufbringen kann. Die meiste Zeit gingen mir aber ihre Selbstgerechtigkeit und ihr Selbstmitleid auf die Nerven. 

“Yellowface” ist ein oberflächlich perfekter Roman über die Entstehung eines Romans, über das Schreiben eines Schlüsselromans und auch ein “Roman im Roman”. Meta- und Intertextualität lauern hier also überall. Die Geschichte ist unterhaltsam, der Stil ist geschliffen und passt perfekt zum Plot. Warum habe ich dann keine 5 Sterne gegeben? Ich kann nur eine vage Erklärung geben: Mir hat etwas gefehlt, das ich nicht benennen kann. Bei Menschen sagt man, es gibt “das gewisse Etwas”, also dieses bisschen Mehr, das uns jenseits aller Perfektion in den Bann zieht. Vielleicht kann man auch sagen: Charisma, dem Roman fehlt Charisma. Außerdem fehlt ihm eine sympathische und vielschichtige Protagonistin. Aber das mag vielleicht nur ich so sehen. Unterhalten wird einen dieser Roman auf jeden Fall, wenn man mal hinter die - überspitzt dargestellten - Kulissen der Verlagsbranche blicken will.

PS: Ach ja, ich kann jetzt wahrscheinlich nie wieder (amerikanische) Pancakes essen, ohne an eine gewisse Szene aus “Yellowface” zu denken. Also wenn ihr die Dinger mögt, lest das Buch lieber nicht.

Triggerwarnung: Cybermobbing, Rassismus, Tod

Herzlichen Dank an @eichbornverlag und @vorablesen für das Rezensionsexemplar!


Samstag, 24. Februar 2024

"Passing" von Nella Larsen

Triggerwarnung: In diesem Roman geht es um Rassismus. 

Hautfarbe ist eigentlich nur eine genetische Variation, so wie Augen- und Haarfarbe. Leider wird die Hautfarbe aber anders gesehen. Sie ist mit soziokultureller Bedeutung aufgeladen und Rassismus ist leider real und existent. Das war er auch schon so vor 200 und 100 Jahren, etc. Im Rahmen des “Black History Month” habe ich jetzt endlich ein Buch gelesen, das ich schon lange lesen wollte. Es macht den Rassismus im Amerika der 1920er Jahre so erfahrbar, wie ich es selten in der Literatur gelesen habe. Es handelt sich um “Passing” von Nella Larsen (1891-1964), eine Autorin, die in den Kreis der Autor:innen der “Harlem Renaissance” einzuordnen ist.

Wow, was für eine erzählerische Kraft steckt in diesem kleinen Büchlein, in diesem Kurzroman. Es geht um die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Schichten und die Frage, ob es durch die Hautfarbe für immer determiniert ist, zu welcher dieser Schichten man gehört. Ist ein “Passing” also ein Wechsel auf die andere Seite möglich? Ist es im Amerika der 1920er Jahre (die Handlung spielt 1925/27, der Roman ist 1929 erschienen) für eine Person of Colour machbar, diesen Seitenwechsel in eine vermeintlich “bessere” Schicht zu vollziehen? Ist es der gesellschaftliche Aufstieg wirklich wert, die eigenen Wurzeln, die Community, in der man aufgewachsen ist und die einen geprägt hat, hinter sich zu lassen und die eigene Herkunft zu verleugnen?

Es geht um die beiden Kindheitsfreundinnen Clare und Irene, beide eher hellhäutige schwarze Frauen aus Harlem, New York. Während Irene einen schwarzen Arzt heiratet und in der Black Community von Harlem lebt, versucht Clare als weiß durchzugehen und heiratet einen weißen  Mann aus Chicago. Clares Mann ist durch und durch Rassist und sie verschweigt ihm ihre wahre Ethnie. Die beiden Frauen treffen sich im Erwachsenenalter wieder und Clare möchte gern mit Irene befreundet sein. Die findet es aber schwierig, eine freundschaftliche Beziehung mit Clare aufzubauen, da sie sich ja für die Gesellschaft von weißen Menschen entschieden hat. Auch dass Clare ihrem Mann ihre wahre Herkunft verschweigt, wird immer mehr zu Irenes Problem und schließlich nimmt das Unglück seinen Lauf…

Der Rassismus in diesem Buch ist einfach erdrückend und schockierend. Es ist zum einen der Rassismus von Women of Colour, die gut situierte und in ihrem Beruf erfolgreiche weiße Männer geheiratet haben und nun ihr ethnisches Erbe hinter sich lassen wollen. Diese Frauen diskutieren beim Five o'Clock Tea darüber, wie schlimm es gewesen wäre, wenn ihre Kinder schwarz auf die Welt gekommen wären: “But, of course, nobody wants a dark child.” Und hat man diesen Schock gerade hinter sich als Leser:in, kommt auch schon der weiße Ehemann um die Ecke und begrüßt seine Frau vor ihren Freundinnen mit einem rassistischen Spitznamen (ohne ihre ethnische Herkunft zu kennen, einfach weil er findet, dass sie immer “dunkler” wird). 

Nella Larsen ist eine beeindruckende Autorin. Ihre Protagonistinnen Clare und Irene sind trotz der Kürze des Romans fein ausgearbeitet und wären nicht die historischen Marker, hätte man wirklich das Gefühl, man würde einen modernen Roman lesen. Leider ist auch der Inhalt erschreckend aktuell, wenn man sich die politische Lage derzeit wieder anschaut und mit der Situation vor 100 Jahren vergleicht. In jedem Fall ist dieses Buch ein Appell an die Menschlichkeit und daran, die eigenen Stereotype (wenn man sie denn haben sollte), zu hinterfragen und den Rassismus endlich in die Mottenkiste der Vergangenheit zu verbannen.

“Passing” ist für mich ein wiederentdeckter Klassiker, den ich wirklich allen empfehlen kann, die sich mit (historischem) Rassismus auseinandersetzen wollen.

Montag, 19. Februar 2024

"Geordnete Verhältnisse" von Lana Lux

Kafka - sein Tod jährt sich dieses Jahr ja zum 100sten mal - schrieb in einem seiner Briefe, “man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen [...] [und] mit einem Faustschlag auf den Schädel” wecken. Ich weiß nicht, ob sich Lana Lux dieses Zitat besonders zu Herzen genommen hat, als sie ihren dritten Roman “Geordnete Verhältnisse” geschrieben hat. Jedenfalls musste ich an diese Worte denken, als ich den Roman beendet hatte. Das Buch ist nämlich eines, das bei manchen Lesenden eine solche drastische Wirkung zu haben vermag. Es ist ein unbequemer und verstörender Roman über zwei Menschen, die eine neue Form des Zusammenlebens, der zwischenmenschlichen Koexistenz ausprobieren und letztlich an ihren eigenen Persönlichkeiten, die von Kindheitstraumata und psychischen Krankheiten beherrscht werden, scheitern. 

Es geht um die beiden Protagonist:innen Philipp und Faina, die einander seit ihrer gemeinsamen Grundschulzeit alles bedeuten. Vor allem Philipp ist auf Faina bis zur Obsession fixiert. Philipp wächst zunächst in Gelsenkirchen bei seiner Tante und deren Familie auf, da seine eigene Mutter alkoholkrank ist und nicht für ihn sorgen kann. Als er sechs Jahre alt wird, holt ihn diese zu sich und die gemeinsame Zeit mit ihr ist von Höhen, aber noch weitaus mehr von Tiefen geprägt. In der dritten Klasse lernt er Faina kennen, die aus der Ukraine stammt und seit wenigen Monaten mit ihrer jüdischen Familie in Deutschland lebt.

Nicht nur eine imminente Seelenverwandtschaft und der jeweils bei beiden unterschiedlich ausgeprägte dysfunktionale Familienhintergrund ist es, der die Außenseiter:innen miteinander verbindet, sondern auch ihr äußeres marginalisiertes Erscheinungsbild: Sie sind beide von Natur aus rothaarig, sommersprossig und extrem hellhäutig, eine Steilvorlage für Mobbing seitens der Mitschüler:innen und in Philipps Fall sogar der eigenen katholischen Tante, die in ihm den reinkarnierten Satan zu erkennen vermag. Philipp und Faina beginnen eine Freundschaft, die mit zunehmendem Alter der beiden in eine Schieflage gerät, sprich: Aus der Freundschaft wird eine toxische Abhängigkeit voneinander, die zusammen mit Philipps Hang zur Aggressivität eine fatale Mixtur ergeben. Als die bisexuelle Faina nach einem Auslandsaufenthalt von einer Affäre schwanger wird und sich von ihrer Lebensgefährtin trennt, bietet sich für den asexuellen Philipp die Möglichkeit, mit Faina eine Familie nach dem Modell des Co-Parenting zu gründen. Wird sich sein Wunsch nach “geordneten Verhältnissen” erfüllen? Wer die Autorin Lana Lux und ihre Werke kennt, kann sich sicher sein, dass die Antwort auf diese Frage nur “nein” lauten kann.

Ich hatte etwas Probleme die Chronologie der Beziehung von Philipp und Faina richtig zu erfassen. Da die meisten Ereignisse rückblickend erzählt werden, wird viel ausgelassen, was man sich beim Lesen erschließen muss. Manche Dinge werden nicht richtig erklärt und entweder ist die Logik bzw. Reihenfolge der Handlungselemente falsch oder ich habe es nicht richtig verstanden. Irgendwie dachte ich anhand ihrer erzählten Gedanken, Faina wurde Anfang 2012 schwanger (weil sie sowas sagt wie das Jahr 2012 wäre auch schon auf dem Weg ein schlechtes zu werden und da war es April 2012). Und dann ist es aber im nächsten Kapitel Sommer 2013 und sie ist im 6. Monat. Philipp erzählt außerdem, dass sie nach einem Scan nach Hause gekommen sei und gesagt habe, das Baby sei ein Junge. Später erfahren wir aber, dass sie ein Mädchen bekommen hat. Wieso, weshalb, warum wird nicht erklärt, also ob sich die Ärztin geirrt oder Faina ihn angelogen hat. Philipps Geburtstag, gleich im ersten Satz genannt, ist der 3. März und Faina sagt später bei dem Code zum Kleiderschrank 1303, dass das sein Geburtstag sei. Ich weiß bei solchen Logik- Inkongruenzen immer nicht, ob es Fehler des Lektorats sind, oder ob ich irgendetwas nicht kapiere.

Wie auch immer, die Story ist hoch interessant und originell, weil sie Aspekte in sich vereint, die für mich in der aktuellen Belletristik noch nicht sehr prominent stattfinden. Zum Beispiel einen männlichen Protagonisten zu präsentieren, der asexuell ist. Es wird im Buch leider - anders als bei Fainas Bisexualität - nicht explizit so genannt, aber aus Philipps Gedankenstrom und seinen Handlungen kann man das ganz klar so herauslesen. Sexualität ist für ihn ein Graus und eine niedere widerwärtige Handlung, die er nicht mal mit Faina möchte, der einzigen Person, die er auf Dauer ertragen kann. Er “liebt” sie auf einer Ebene, die jenseits aller Körperlichkeit liegt. Er sagt einmal so in etwa, er sieht sie als externalisierten Teil von sich selbst. Im Grunde liebt er also wahrscheinlich nur sich selbst, was auch sein aggressives Verhalten gegenüber Faina erklären würde. Schließlich hat er auch für alle anderen Menschen meist nur Verachtung übrig.

Das Thema Co-Parenting ist auch eines, über das ich noch nicht oft etwas gelesen habe. 

Leider sind sowohl die Asexualität als auch das Co-Parenting im Roman negativ konnotiert, weil Philipp kein positiv besetzter Charakter ist und das Co-Parenting sehr schnell zum Scheitern verurteilt ist. Auch Fainas Bisexualität wird in ihrem Fall zur Hypersexualität, weil sie bis zu ihrer Schwangerschaft ein überaus aktives Sexleben (sowohl privat als auch beruflich als Sexarbeiterin) führt. Hier werden die beiden queeren Lebensstile Ace und Bi zu Extremen stilisiert und letztlich gegeneinander ausgespielt. 

Man könnte sagen, “Geordnete Verhältnisse” ist ein utopischer Roman, denn er erzählt von einer Utopie, der Utopie der Normalität und ihrer gewaltsamen Dekonstruktion. Wir moderne Menschen des 21. Jahrhunderts wünschen uns manchmal nichts mehr als ein Leben, das sich durch Ordnung und Klarheit auszeichnet. Allzu oft wird uns dieser Wunsch aber verwehrt, sei es durch eine traumatische Kindheit oder toxische Beziehungen im Erwachsenenalter. Ein feministischer Roman ist dieses Buch ganz klar, denn es erzählt von einer Frau, die in einer sozialen, psychischen und materiellen Abhängigkeit zu einem Mann gefangen ist. Das Machtgefälle zwischen Frau und Mann wurde von Lana Lux’ präziser Prosa, die nicht selten auch Momente des Komischen enthält, gekonnt eingefangen. Zudem geht es darum, wie unsere Herkunft uns determiniert sowie um Fragen der Integration. Ein wirklich sehr gelungener Roman, den ich allen ans Herz legen möchte, die auch etwas härteren Lesestoff gut aushalten können.

Triggerwarnungen: Gewalt, Femizid, psychischer Missbrauch, Drogen, Alkohol 

Herzlichen Dank an Hanser Berlin und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

Samstag, 17. Februar 2024

"Krummes Holz" von Julja Linhof


Neulich habe ich in einem Feuilleton-Artikel gelesen, dass Romane, deren Handlung in einer ländlichen Gegend bzw. der Provinz angesiedelt ist, derzeit einen Boom erfahren würden. Erzähler:innen hätten die Natur und die rurale Umgebung als Schauplatz wiederentdeckt. Das Stichwort Heimatroman ist seit jeher eher negativ behaftet, erlebt aber im Bereich der Belletristik eine intellektuelle Umwidmung. Die Probleme und Traumata, die ein Aufwachsen auf dem Land neben der räumlichen Weite, die es bietet, auch bedeuten können, sind dann oft Gegenstand solcher Romane. Auch Julja Linhof hat sich in ihrem Debütroman "Krummes Holz (benannt nach einem Zitat von Kant, das sie ihrem Buch voranstellt), an das Thema Land herangewagt.

Die Handlung spielt völlig im ländlichen Nordrhein-Westfalen. Zum erzählten Zeitraum später mehr. Es geht um den 19-jährigen Jirka (eigentlich Georg). Der Internatsschüler war seit fünf Jahren nicht auf dem elterlichen Hof, auf dem sein Vater Georg, die demente Großmutter Agnes und die Schwester Malene leben. Auf dem landwirtschaftlichen Betrieb von Jirkas Familie wird vor allem Getreide angebaut, das Anbauen von Obst im großen Stil ist allerdings gescheitert.
Neben Georg, Malene und - zumindest früher- wechselnden Saisonarbeitern, arbeitet auch der knapp zehn Jahre ältere Leander auf dem Hof, der Sohn des ehemaligen Verwalters. Was zwischen Jirka und Leander in der Vergangenheit vorgefallen ist, erfahren wir stückchenweise. Auch die jeweils mit großen Problemen und gegenseitigen Verletzungen behaftete Beziehung Jirkas zu seinen Familienmitgliedern wird nach und nach deutlich. Erzählt wird die Geschichte einzig aus der Perspektive Jirkas. Die Gegenwartshandlung wird unterbrochen von Flashbacks, in denen der Protagonist gedanklich die Vergangenheit heraufbeschwört. Es sind Dinge, Orte, Räume und die Umgebung rund um das elterliche Haus, die diese Erinnerungen jeweils triggern und zum Vorschein bringen. Zeit wird fluide und was gestern oder heute ist und war wird immer mehr zu einem Ganzen: “Ich starre in den offenen Kühlschrank, während Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen und eins werden.” (S. 203)

Was mich etwas stört, sind die nicht vorhandenen Zeitangaben bzw. der kryptische Umgang damit. Ich bin kein großer Fan davon, wenn man sich in Romanen als Leser*in mühsam erarbeiten muss, in welchem Jahr oder gar Jahrzehnt man sich befindet. Natürlich gibt es versteckte Hinweise im Setting, die auf die 1980er Jahre hindeuten: Walkman, Wählscheibentelefone, Neue Deutsche Welle im Radio, Zwanzigmarkscheine im Geldbeutel. Aber es wird nicht eine Jahreszahl direkt genannt. Die demente Großmutter wird einmal von Jirka gefragt, welches Jahr wir haben, aber sie antwortet nicht. Warum solche Infos, die den Lesenden zur Orientierung dienen würden, ausgelassen werden, verstehe ich nicht. Warum um den Zeitpunkt der Handlung so ein Geheimnis machen? Thematisiert wird, dass Jirkas Vater im Krieg war und damit die Generation der Kriegsheimkehrer, die ihre Traumata nicht aufarbeiten konnten oder durften und stattdessen ihre Familie tyrannisierten. Gegessen darf nur, solange der Hausherr isst. Solche Sachen, die heute jeder als Psychoterror erkennt.

Dass mit Jirka ein queerer Protagonist erzählt wird, ist ein großes Plus dieses Romans. Auch hier wäre es interessant gewesen, etwas näher auf die gesamtgesellschaftliche Situation der Zeit einzugehen, schließlich wurden homosexuelle Beziehungen auf dem Land vor 30,40 Jahren noch anders gelebt als heute.

Bildgewaltig ist dieser Roman, auch wenn die Metaphorik manchmal etwas über das Ziel hinausschießt, was bei einem Debütroman nicht unüblich ist. Die Atmosphäre auf dem Land zur Erntezeit im Sommer wird sehr schön wiedergegeben, auch die Spannungen unter den Charakteren werden anschaulich ausgearbeitet.

Das Buch hat einen spröden Charme, der sich für mich erst im letzten Drittel vollends entfalten konnte. Vor allem die Beziehung zwischen Jirka und Leander hat mir sehr gut gefallen, leider endet der Roman genau an dem Punkt, wo es interessant geworden wäre. Das Ende in Bezug auf Georg hat dem ganzen Roman einen leicht grotesk-unrealistischen Anstrich verliehen, den ich nicht unbedingt gebraucht hätte.

Im Ganzen hat mir die Geschichte aber etwas gegeben und ich kann sie allen empfehlen, denen die Themen queere Liebe, Heimkehr und Provinzsetting am Herzen liegen.