Mittwoch, 24. April 2024

"The Dangerous Kingdom of Love" von Neil Blackmore


Seid ihr interessiert am Genre “Queer Historical Novel”, in dem queere Charaktere und ihre Lebenswelten im historischen Kontext erzählerisch ausgearbeitet werden? Liebt ihr es, die Intrigenspiele an Königshäusern aus fernen Jahrhunderten so hautnah mitzubekommen, als wärt ihr eine Maus unter einem brokatbesetzten Mantel eines verschlagenen Höflings? Mögt ihr vielschichtige Ich-Erzähler:innen und Protagonist:innen, die die Leser:innen ansprechen und sie zu Kompliz:innen machen? Mögt ihr augenzwinkerndes, humorvolles Erzählen, was aber dennoch nachdenklich macht? Ihr lest gerne auf Englisch bzw. euch macht es nichts aus, wenn ein englischsprachiges Buch noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde?

Wenn ihr nun all diese Fragen mit “ja” beantwortet habt, dann schnappt euch “The Dangerous Kingdom of Love” von Neil Blackmore und fangt an zu lesen.

Der Roman beruht - zumindest was den Großteil seines historischen Personals betrifft - auf wahren Tatsachen. Wir schreiben zunächst das Jahr 1613. Der Ich-Erzähler dieses Romans ist niemand geringeres als Francis Bacon (1561-1626), englischer Philosoph, Staatsmann und Schriftsteller. Bereits in der “Author's Note” schwärmt selbiger in höchsten Tönen von seinem schlagfertigen Protagonisten und Ich-Erzähler: “Oh, and Francis Bacon changed the world." And he changed your life.” Welche modernen Errungenschaften auf Bacon zurückgehen, kann man im Internet nachlesen. Aber zurück zum eigentlichen Plot: Bacon ist am Hof von König James (Jacob) I. als Staatsbeamter und königlicher Berater hoch angesehen. Doch mehr Einfluss auf den homosexuellen König als Bacon hat dessen Günstling und Liebhaber, der Höfling Robert Parr. Was ein offenes Geheimnis ist: Der unverheiratete Bacon ist selbst dem eigenen Geschlecht zugeneigt. Als Parr vom König mit der adeligen Frances Howard verheiratet wird, verlässt er auch James’ Bett, nimmt aber weiterhin Einfluss am höfischen Geschehen. Die verschmähte Königin Anne und ihr Vertrauter Bacon schmieden ein Komplott: Sie wollen einen neuen - jungen und wunderschönen - Günstling für das Schlafgemach des Königs. Dieser wird nicht schnell aber schließlich doch gefunden: George Villiers, der Sohn eines Landadeligen, soll den Platz von Robert Carr einnehmen. Doch als Bacon den jungen Mann kennenlernt, befördert er George nicht nur an die Seite des Königs, sondern auch noch direkt in sein eigenes Herz…

Im Roman geht es vor allem darum, am Beispiel von Bacon aufzuzeigen, wie schwierig das Leben für queere Menschen in früheren Jahrhunderten war. S*x war zwar zu bekommen, aber jedes Mal mit vielen Gefahren verbunden. Auch Bacon riskiert im Roman fast sein Leben, als er die schnelle Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses sucht. An Liebe oder eine Beziehung zwischen Menschen des gleichen Geschlechts war nicht mal zu denken. Schließlich riskierte man, wenn man als “Sodomite” angeklagt wurde, die Verurteilung und sichere Hinrichtung. Deshalb nennt Bacon die Liebe ein “gefährliches Königreich”. Als er sich in George verliebt, phantasiert dieser, wie es wäre, wenn sie heterosexuelle Eheleute wären, ein einfacher “country husband and his wife”. Und tatsächlich ist es auch diese “Kuschelszene”, in der George diese Phantasie gesteht, die die Leser:innen mitten ins Herz treffen dürfte. Zwar durfte sich der König einen Liebhaber halten (er war der König), aber selbst für einen Staatsmann wie Bacon war eine Offenbarung der eigenen Homosexualität ein Ding der Unmöglichkeit. 

Bei aller Tragik, bei allen Intrigen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (es gibt sogar ein Mordkomplott), die in diesem Buch beschrieben werden, vermittelt uns Blackmores Version von Bacon seine Geschichte in einem augenzwinkernd-selbstironischen Ton. Es gibt in diesem Roman Sätze, die haben fast schon das Niveau eines Aphorismus von Oscar Wilde, wenn Blackmore sie nicht bei ihm geklaut hat (“You never expect beautiful people to be funny.” S. 122). Außerdem werden die historischen Persönlichkeiten nicht wenig durch den Kakao gezogen. So ahmt Blackmore (Bacon) den schottischen Slang von James I. (“Beicon, there ye fucking are!”, S. 11) so herrlich nach, dass ich innerlich oft Tränen gelacht habe. Als Shakespeare-Fan kann ich allerdings Bacons Abneigung gegen den “Bard” nicht teilen. Shakespeare wird bei ihm als wenig schlagfertiger Bühnenschreiberling dargestellt, sein Zeit- und Berufsgenosse Ben Johnson kommt da schon etwas besser weg.

Dieser historische Roman ist einfach ein Wechselbad der Gefühle mit einem ganz starken Protagonisten und Ich-Erzähler. Um es auf Englisch zu sagen (weil das auf Deutsch ziemlich merkwürdig klingen würde): I very much enjoyed myself while reading it. I hope you do, too.

Freitag, 19. April 2024

"Der Hirtenstern" von Alan Hollinghurst


Der Begriff “L'art pour l'art” bezeichnet ja eine Kunst, die nur um ihrer selbst willen existiert. Sie hat keinerlei “Sinn und Zweck”, keine politische Botschaft oder sonst ein Anliegen - sie “ist” einfach. Oft musste ich an diese Kunstströmung denken, als ich “Der Hirtenstern” von Alan Hollinghurst gelesen habe. Denn der Protagonist Edward Manners zelebriert die Kunst der Begierde um ihrer selbst willen. Die Verliebtheit in seinen Schüler Luc ist nichts anderes als praktizierter Hedonismus.

“Der Hirtenstern” ist bereits 30 Jahre alt. 1994 wurde er auf die Shortlist des Booker Prize gesetzt. Erst im Jahr 2022 wurde “The Folding Star” für den Albino Verlag von Joachim Bartholomae ins Deutsche übersetzt. 

Die Handlung des Romans spielt sich im Herbst 1991 ab. Der 33-jährige Engländer Edward Manners kommt als Privatlehrer in eine nicht genannte mittelgroße alte belgische Stadt in Flandern - man vermutet es ist Brügge. Der homosexuelle Manners erkundet abends die örtliche Schwulenszene und unterrichtet tagsüber zwei männliche Teenager in Englisch, Marcel und Luc. Marcel ist der Sohn des Direktors eines Kunstmuseums, das den Werken des verstorbenen (fiktiven) Malers Edgard Orst (er spielt eine wichtige Rolle im Roman) gewidmet ist, Edward wird sein Assistent. Edward verliebt sich aber in den siebzehnjähren Luc, der davon erstmal lange nichts mitbekommt. Die Verliebtheit ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans sowie das Empfinden des Ich-Erzählers Edward.

Hollinghursts Prosa ist allererste Sahne. Der Mann kann absolut mit Worten umgehen und aus ihnen Kunst schaffen. Nicht umsonst wurde der Roman 1994 auf die Shortlist des Booker Prize gesetzt, als queere Thematiken in der Literatur noch lange nicht selbstverständlich waren.

Es gibt so Sätze in diesem Buch, die sind so blumig und gespickt mit Metaphern, dass ich einfach pure Begeisterung dafür empfinde. Z.B.: “Sie benutzte immer dasselbe Parfüm, einen wundervollen Duft, der alte Klöster, Tanten, Landhäuser voller Gobelins und vertrocknete Blüten in einer Porzellanvase gewesen war, bevor er zu dem wurde, was immer er jetzt war, eingefangen in stilvolle Phiolen, die ein Herbalist aus Mayfair an gepuderte Witwen in schwarzen Pumps verkaufte.” (S. 221f.) Oder: “Ich spürte, wie der Geist der Zeit, den ich heraufbeschworen hatte, an mir vorbeizog wie ein nächtlicher Wind in den Wäldern, der um einen einsamen Schuppen oder eine lang verlassene Nissenhütte weht, wo zwei Jungen bei einem dürftigen Feuer aus Zweigen und Abfall hocken und plaudern.” (S. 347). Sorry, aber in solche Sätze kann ich mich einfach reinsetzen. Wenn sie ein Getränk wären, würde ich sie ausschlürfen und mich daran berauschen. Das ist für mich Literatur! Hier muss natürlich auch dem Übersetzer Joachim Bartholomae Beifall gezollt werden.

Es geht in diesem Roman - für ein literarisches Buch - sehr viel und explizit um S*x (ich verfremde das Wort, um Bots abzuhalten). Zum einen wird der S*x zwischen dem Protagonisten und seinen Fast-Lebensgefährten Cherif und Matt ausführlich beschrieben. Durch das “Fetischbusiness” des extrovertierten Matt wird das Thema zusätzlich in den Fokus gerückt. Er klaut u.a. getragene Unterwäsche aus Schwimmbädern und verkauft sie zu horrenden Preisen weiter. Außerdem kopiert und verkauft er Schwulenpornos, damals noch als VHS-Kassetten, die er mit der Post unter die Leute bringt.

Was Hollinghurst meisterhaft einander gegenüberzustellen vermag, ist die Banalität von S*x im Gegensatz zur Erhabenheit des Begehrens. Während S*x wie alle körperlichen Bedürfnisse eigentlich ein ziemlich simpler Vorgang und vom Prinzip Essen bzw. dem Gegenteil davon furchtbar ähnlich ist, spielt sich die eigentliche Erotik immer im Kopf ab. Nicht umsonst ist das Gehirn das größte S*xualorgan des Menschen. Und was ist schon ein erfülltes Bedürfnis im Gegensatz zum Begehren, zur Erotik des “Vielleicht”. Sind es nicht die unerwiderten, einseitigen Liebesgeschichten, die uns ein Leben lang verfolgen? Das Motiv, Kunst zu schaffen, entsteht oft durch einen Mangel heraus. Der Mangel ist der Zustand, der uns hoffen und wünschen lässt. Und diesen Zustand hat mir Hollinghurst meisterhaft erzählt.

Dennoch muss ich leider sagen, dass ich dann doch froh war, als ich diesen 620-Seiten langen Roman beendet hatte. Für mein Empfinden ist das Buch wirklich gute 200 Seiten zu lang. Hollinghurst verliert sich oft so in Details, Kleinigkeiten und Verkünstelungen, die ich als redundant empfand. Auch die ganze Background-Story um Edgard Orst war mir viel zu ausufernd. Im Mittelteil, als Edward zur Beerdigung seines Ex-Freundes nach England reist, kommen so viele Szenen mit random eingeführten Personen vor, die ich einfach nur überflüssig fand. Also ein bisschen muss ich leider sagen, dass dieser Roman “zurecht” etwas übergangen wird im Gegensatz zu anderen Werken des Autors. Nichtsdestotrotz finde ich die Übersetzung hervorragend, die Covergestaltung ist auch sehr stimmig und jede/r soll sich natürlich selbst ein Bild machen, ob es ihm/ihr genauso geht. Im Albino-Verlag ist auch die “Schwimmbadbibliothek” erhältlich, das nächste Buch von Hollinghurst, das ich lesen werde.

Fazit: Sprachlich erste Klasse, aber vom Unterhaltungsaspekt (also wie angenehm das Buch im Ganzen zu lesen ist) eher schwierig und leider viel zu lang.

Montag, 15. April 2024

"Leute von Früher" von Kristin Höller

Schein und Sein im Wattenmeer 

Untergegangene Inseln tragen immer gerne zur Mythenbildung einer Kultur bei. In der Nordsee ist es die Insel Strand mit dem legendären untergegangenen Ort Rungholt, der die Menschen an der Künste und darüber hinaus noch bis heute fasziniert. Obwohl es die Insel Strand heute nicht mehr als Ganzes gibt (die Reste der Insel sind heute die Inseln Nordstrand, Pellworm und die Hallig Nordstrandischmoor), bezeichnet Kristin Höller ihren Schauplatz in “Leute von Früher” schlichtweg als Insel “Strand”.

Auf Strand heuert die 29-jährige Marlene aus Hamburg als Saisonkraft in einem Museumsdorf an. Schnell wird das Leben zwischen Containerunterkunft und Kostümgrenze mit ihrem Arbeitsplatz im Kramladen bei Arno zur eingespielten Routine. Ihr Leben in Hamburg, die noch junge Beziehung zu Paul, ihre besten Freund:innen Luzia und Robert, die Eltern, die einen Prozess am Laufen haben - alles nur noch eine ferne Erinnerung. Dazu trägt auch die geheimnisvolle Janne bei, die in der Fischräucherei arbeitet. Die Frauen kommen sich näher, doch was ist auf der Insel im Wattermeer überhaupt echt und was nur Kulisse?

Dieser Roman ist Eskapismus pur. Ich möchte nach der Lektüre jetzt bitte auch gerne ganz dringend nach Strand, um kostümiert in diesem Dorf zu arbeiten. Ich will mit den Bewohner:innen der Insel das Johannisfest feiern, ich möchte eine Janne und ihren Räucherduft kennenlernen, ich will diesen älteren Kollegen beobachten, der immer die Sportschau auf dem Handy schaut. Natürlich möchte ich auch mit Arno und seinen Kindern einen Auflauf essen und mir von Barbara die Karten legen lassen. Aber wenn ich dann so darüber nachdenke: Vielleicht möchte ich es auch wieder nicht - und das hat nicht nur mit den Geistern der Insel zu tun, sondern auch mit dem steigenden Meeresspiegel…

Erzählweise und Sprachstil dieses auch optisch wunderschön gestalteten Buches sind unaufgeregt, bildhaft und gleichzeitig schnörkellos modern. Es wird in jedem Fall eine bestechend maritime und mystische Atmosphäre erzeugt, ohne dass es jemals “drüber” ist. Wer Freude an metaphorischen Umschreibungen für das lesbische Liebesspiel hat, wird hier auch einige finden, ich sage nur Austern und Orangenschale. Man sollte auch für magischen Realismus etwas übrig haben, denn ganz ohne ihn kommt dieses Buch nicht aus. 

Was mir besonders gefallen hat, ist die Topographie der Insel. Hier wird eine sehr spannende erzählerische Welt erschaffen, die einem schon nach kurzer Zeit sehr vertraut vorkommt. Obwohl dem Buch keine “Landkarte” beigegeben ist, baut sich die Insel im Kopf der Leser:innen zu einem perfekten Mikrokosmos auf - vom reetgedeckten Edeka, über den “Friedhof der Namenlosen” bis hin zur Fischräucherei und Jannes Zuhause in der ehemaligen Vogelwarte. Auch die ganze Mystik und Legendenbildung, um die sich alles dreht, hat mich hier nicht abgeschreckt, sondern zur Spannung des Plots beigetragen. Die erzählerische Detailverliebtheit hat mir ebenfalls sehr gefallen, vor allem wenn es um die genaue Beschreibung der Nahrungsmittel, das Umetikettieren, die Fischereiprodukte, etc. ging. Das Thema Schein und Sein wurde jedenfalls für meine Begriffe perfekt umgesetzt.

Was soll ich noch sagen, außer: Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und kann es allen empfehlen, die gute Geschichten zu schätzen wissen.

Herzlichen Dank an Suhrkamp und Vorablesen für das Rezensionsexemplar!




Samstag, 13. April 2024

"Sämtliche Erzählungen" von Franz Kafka


Kafka lesen: 100 Jahre später…

Kafka liefert Literaturwissenschaftler:innen auf der ganzen Welt seit über 100 Jahren Stoff für ihre Abhandlungen. Und doch ist sein Werk nach wie vor schier unergründlich. Nicht umsonst gibt es den Begriff “kafkaesk”, der für das Enigmatische seines Schreibens sinnbildlich geworden ist. Obwohl ich Germanistik (Neuere deutsche Literatur) im Hauptfach studiert und auch Deutsch Leistungskurs im Gymnasium hatte, habe ich bisher in meinem Leben nur wenig Kafka gelesen. “Der Prozess” und “Das Schloss” standen natürlich im Studium auf der Leseliste, ebenso “Die Verwandlung”, was ich bereits in der Schule lesen durfte. Die Erzählung über Gregor Samsa, der sich in einen nahezu immobilien Käfer verwandelt, ist auch das Werk von Kafka, das mich bisher am meisten beeindruckt hat und ergo besonders in Erinnerung geblieben ist. Nun also wollte ich es mal wieder mit Kafka versuchen - wann, wenn nicht in einem “Kafka-Jahr”?

100 Jahre werden im Juni dieses Jahres 2024 vergangen sein seit dem Tod des legendären Franz Kafka mit nur 40 Jahren, Versicherungsangestellter aus Prag, juristischer Doktor, kränklicher Junggeselle mit wechselnden Frauenbekanntschaften und Freund von Max Brod. Ja, dieser Freund ist immens wichtig für die Kafka-Rezeption, denn ohne ihn gäbe es viele seiner Werke nicht zu lesen und sein Nachruhm wäre wahrscheinlich ungleich geringer. Kafkas letzter Wille ist allgemein bekannt: Alles Unveröffentlichte sollte vernichtet werden - zum Glück hat Brod sich nicht daran gehalten. 

Kafka lesen ist kathartisch. Es ist wie ein reinigendes Gewitter, das durch dein Inneres zieht und bei dem du nicht weißt, ob Schäden entstanden sind oder ob die Kulissen deines Selbst für immer weggefegt wurden. Bei Kafka geht es oft um die Themen Schlafen und Träumen und oft wissen die Lesenden nicht, was Wirklichkeit und was Traumdarstellungen sind. Unzuverlässige Erzähler gibt es zu Hauf und manchmal ist die Erzählinstanz eben ein Hund ("Forschungen eines Hundes”) - oder ein Mensch, der in einen Käfer verwandelt wurde. Kafka lesen und danach wieder langsam in die Realität auftauchen ist wirklich wie das Erwachen aus einem skurrilen Traum voller undeutbarer Symbole und langer Gänge, die zu keinem Ziel führen. 

Bei der Lektüre dieser vor über 100 Jahren entstandenen Erzählungen ist mir mal wieder klar geworden, wie gnadenlos modern und gleichzeitig zeitlos Kafka eigentlich ist. Wenn ich zum Beispiel an das Fragment “Der Heizer” denke, wo einfach ein sexueller Angriff von einer Frau bzw. Vergewaltigung eines Mannes durch eine Frau erzählt wird. “Das Urteil”: Erschütternd und surreal, wie die Verurteilung des Sohnes durch den Vater tatsächlich vom Sohn an sich selbst qua Sprung in den Tod vollzogen wird. Dazu die bitteren, abgeklärten Schlussworte, die jedem einen Schauer über den Rücken jagen müssen: “In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.” Von der kühlen Grausamkeit, die “In der Strafkolonie” beschrieben wird, brauchen wir gar nicht sprechen. Und “Die Verwandlung”: Immer noch ein wahnsinnig guter Text über das Individuum als Außenseiter, das Ich in Diskrepanz zu seinem (familiären) Umfeld. Am Ende beeindrucken mich immer wieder die starken Schlusssätze der mitunter recht kurzen Prosatexte, schmerzhaft und klar wie Peitschenhiebe.

Und dann trotz aller Schwere doch immer: die unfreiwillige Komik des Ganzen! Die Absurdität des Lebens auf die Spitze getrieben oder zu einem skurrilen Traumbild verzerrt. Grotesk, witzig, das ist Kafka eben auch. Und wer hätte gedacht, dass folgende Geste, die heute als “typisch deutsch” in Memes zu finden ist, schon bei Kafka steht (In: “Entlarvung eines Bauernfängers”): “”So!”, sagte ich und klatschte in die Hände zum Zeichen der unbedingten Notwendigkeit des Abschieds. Weniger bestimmte Versuche hatte ich schon einige gemacht. Ich war schon ganz müde.”” (S. 15)

Ich weiß nicht wie es euch geht, aber mich erreicht dieser kafkasche Humor, der ihm übrigens auch in der ARD-Miniserie zugeschrieben wird, die ich euch auch sehr empfehlen kann.

Viele Dinge bei Kafka bleiben aber eben auch rätselhaft: Beschreibt er in “Kleine Frau” eine toxische Beziehung und ist das, was er als “Klette” bezeichnet, für moderne Begriffe eine Art “Stalkerin”? Ich weiß es nicht, aber das ist auch eher Aufgabe der Kafka-Forschung, diese Dinge zu ergründen. Die Erzählungen aus dem Nachlass, herausgegeben von Max Brod, kommen teilweise noch sehr viel rätselhafter rüber für mein Empfinden, als die von Kafka veröffentlichten Texte. Man merkt eben, es sind Fragmente, so wie “Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande”, wo einfach Seiten fehlen und der Lesefluss unterbrochen ist.

Nun noch ein paar Worte zu der von mir gelesenen Ausgabe von Kafkas sämtlichen Erzählungen des Anaconda-Verlags, die mir freundlicherweise als Rezensionsexemplar vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt wurde. Erstmal besticht die wunderschöne Hardcover-Schmuckausgabe durch ihre Gestaltung mit Goldfolie und Käfer-Bett-Motiv. Mit 10 Euro ist sie auf dem Gebiet der Schmuckausgaben ein wahres Schnäppchen und es gibt bereits weitere Klassiker in der Reihe (z.B. “Frankenstein” von Mary Shelley). Natürlich muss man bedenken, dass dies KEINE kritische Ausgabe ist. D.h. es wird auf ein Vor- und Nachwort sowie auf Fußnoten, die bei wissenschaftlichen Ausgaben essentiell sind, verzichtet. Wem dies nicht wichtig ist, weil er/sie den reinen Text ohne Drumherum und Erklärungen genießen möchte, für den/die ist diese Anaconda-Ausgabe genau richtig. Auch für alle Bibliophilie veranlagten Lesenden, die einfach eine schöne Kafka-Ausgabe im Regal stehen haben möchten. 

Wenn man mich nun fragen würde: Sollte man im Jahr 2024 noch/wieder Kafka lesen bzw. damit anfangen. Meine klare Antwort lautet: Ja, unbedingt!

Danke an den Anaconda Verlag und das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar!

Dienstag, 9. April 2024

"Die Schattenmacherin" von Lilly Gollackner


Obwohl ich keine Biologin bin, habe ich einmal aufgeschnappt, dass Männer Mangelwesen seien und dass das ihnen eigene Y-Chromosom quasi nur ein kaputtes X sei. Die weitaus geringere Lebenserwartung von Männern und die höhere Sterblichkeit männlicher Säuglinge unterstreichen diese These. Dass es einmal keine Männer mehr geben könnte, weil sie quasi einer biologischen Auslese zum Opfer gefallen sind, ist dennoch eine seltsam groteske Überlegung - aber ist sie wirklich so weit hergeholt? Genau ein solches Szenario - eine Welt, die nur noch aus weiblichen Wesen besteht - entwirft Lilly Gollackner in ihrem Roman “Die Schattenmacherin”, erschienen im März 2024.

Die Welt im Jahr 2068 ist eine andere, wie wir sie heute kennen. Männer gibt es schon lange nicht mehr, im Jahr 2034 wurden alle “androtoken Homo Sapiens” von einer mysteriösen Seuche hinweggerafft. Eine Welt, die durch Klimawandel, Verdichtungskriege und Umweltzerstörung ziemlich klein und fast unbewohnbar geworden ist, in der Pflanzen ein Vermögen kosten und man sich ohne “Protektionscreme” und Schutzmaßnahmen keinesfalls der unbarmherzig brennenden Sonne aussetzen darf - ein Horrorszenario. Eine Welt, in der nur noch 283 469 Menschen leben…

Im Mittelpunkt der Handlung steht zum einen Ruth, seit 2036 “die Präsidentin” der noch bewohnbaren Welt, die mit ihren 70 Jahren von einer Jüngeren, Ania, abgelöst werden soll. Die Präsidentin hat in dieser potenziellen Zukunftswelt die Entscheidungsgewalt über “die fünf Bereiche, auf denen unsere Gemeinschaft fußt: Versorgung, Technologie, Wasser, Fortpflanzung und Sicherheit” (S. 66). Ruth hat Probleme mit ihrer Absetzung, mit ihrem “zukunftslosen” Dasein: “Was sie nicht akzeptieren kann, ist der emotionale Kontrollverlust. Dieses Fallen, Stürzen in die Erinnerung, ausgelöst durch Blicke und Gerüche. Als würde sich das Hier und Jetzt zersetzen in den Nebelgranaten des gelebten Lebens.” (S. 42) 

Mir hat diese Klima-Dystopie literarisch sehr gefallen und mich thematisch gleichzeitig schockiert. Sie holt uns aus unserer gedanklichen Komfortzone und führt uns mit erschreckend nüchterner Präzision die möglichen Folgen eines menschengemachten Klimawandels vor Augen. Natürlich können nicht mal Zukunftsforscher:innen voraussagen, wie genau die Zukunft tatsächlich wird, aber Gollackner zeichnet in ihrem Roman eine mögliche Version derselben: Die freie Natur ist aufgrund der unbarmherzigen Sonneneinstrahlung ohne Schutzmaßnahmen unbetretbar geworden, die verbliebenen (weiblichen) Menschen leben unter gläsernen Kuppeln, Wälder sind absolute Schutzzonen, Wasser ein seltenes Gut. Ruth erinnert sich wie sie vor 40 Jahren (also etwa in unserer Gegenwart) Pola kennenlernte und diese damals schon vor der Wasserknappheit gewarnt hatte: “Versiegelung, trockene Böden, ausbleibende Regenphasen. Leergepumpte Grundwasserreservoirs.” (S. 48) Außerdem wird der Menschheit in dieser Phase klar, dass das “Patriarchat als Mittäter an der Vernichtung der Lebensgrundlagen” (S. 48) anzusehen ist: “Eine Frau zu sein, war das schon ein politischer Akt?” (S. 48)

“Die Schattenmacherin” ist ein feministisches Manifest, das für Vielfalt - auch menschliche - plädiert. Außerdem werden moralisch-ethische Fragen und der menschliche Umgang mit schweren Verlusten anhand der Protagonistin Ruth thematisiert. Das Buch macht außerdem mehr als deutlich, dass wir unsere Zukunft letztlich selbst in der Hand haben. Wir dürfen nicht zulassen, dass es eine solche Horror-Zukunft wie in “Die Schattenmacherin” sein wird und deswegen sollten wir sofort alles dafür tun, unseren Planeten zu retten. Wenn das nur so einfach getan wäre wie gesagt und nicht die größte Kollektivaufgabe, vor der die Menschheit vermutlich jemals gestanden ist…

Ich muss die Lektüre dieses Romans wohl etwas länger sacken lassen. Wenn einem eine solch erschreckende Zukunftsvision in so klaren und eindrücklichen Bilder vorgezeichnet wird, dann macht das etwas mit einem. Auch bin ich mir sicher, dass der Terminus “Androtoke” niemals mehr aus meinem passiven Wortschatz verschwinden wird. Schwere Themen auf relativ wenig Seiten sehr gekonnt umgesetzt - ich bin begeistert, bedrückt und bezaubert von diesem Buch. Letzteres vor allem von seinem Ende, das Hoffnung macht, Hoffnung auf eine bessere Zukunft!

Herzlichen Dank an Kremayr Scheriau und Buchcontact für das Rezensionsexemplar!

Dienstag, 2. April 2024

"Ein schönes Ausländerkind" von Toxische Pommes

Wer “Toxische Pommes” (im Folgenden von mir “Pommes” genannt, weil sie ihr Buch auch so signiert hat) von ihren Internetvideos her kennt, weiß, dass es kaum eine*n Content Creator*in gibt, die beißende Gesellschaftskritik so humorvoll/ironisch/satirisch verpacken kann wie sie. Und auch beim Romandebüt der mit Vornamen eigentlich Irina heißenden Wiener Juristin dürfte so mancher/m Leser:in oft das Lachen im Hals stecken bleiben.

Pommes beschreibt in ihrem Roman mit dem provokanten Titel “Ein schönes Ausländerkind” (dessen Cover mit der Fotografie eines ausgestopften Babylammes, was laut Nachwort ziemlich schwer zu finden war, nicht weniger provokativ anmutet) die Geschichte ihres eigenen Aufwachsens in autofiktionaler Form, sprich: Es handelt sich um einen Roman mit einer namenlosen Ich-Erzählerin, der sich stark an der Biographie seiner Autorin orientiert, ohne eine 1:1-realistische Abbildung derselben zu sein.

Die Ich-Erzählerin beschreibt, wie sie mit ihren Eltern, die serbischer (Vater) bzw. montenegrinischer (Mutter) Abstammung sind, ihre Heimat Kroatien als kleines Kind während der Balkankriege der 1990er Jahre verlassen hat, um in Österreich sesshaft zu werden.

Der Roman erzählt von der Fallhöhe, die die Immigration in ein anderes Land mit sich bringt: Die Mutter, die eigentlich studierte Pharmazeutin ist, muss in Österreich als Putzkraft/Nanny bzw. “Mädchen für alles” bei der Familie arbeiten, bei der sie kostenlos im ehemaligen Haus der Großmutter wohnen können. Der Vater, eigentlich Schiffsbauingenier, bekommt in Österreich keine Arbeitsgenehmigung und ist zu einem Dasein als unfreiwilliger Hausmann verdammt. Dies macht etwas mit seiner Psyche, er kümmert sich zwar liebevoll um seine Tochter, zieht sich aber immer mehr in sich selbst zurück.

Und da sind natürlich die vielen Vorurteile, die Menschen anderer Herkunft oft entgegengebracht werden. Pommes beleuchtet sozusagen die Fallstricke der Integration. Als Immigrat:in muss man häufig um so viel besser sein als die besten “Einheimischen”, um mithalten zu können. Das bekommt auch die Ich-Erzählerin zu spüren, als sie, obwohl sie Klassenbeste in ihrer Grundschulklasse war, vom Lehrer nur eine Empfehlung für die Hauptschule bekommt. Und als sie später dank des Einsatzes ihrer Mutter doch auf dem Gymnasium landet, gibt ihre Deutschlehrerin ihr trotz Bestleistungen keine Einser, weil sie Vorurteile hat und scheinbar zwischen “guten” und “schlechten” Ausländerkindern unterscheidet.

In diesem Roman geht es aber nicht nur um Fragen der Migration und Identitätsfindung in der neuen Heimat, sondern es wird uns auch eine ganz besondere Vater-Tochter-Beziehung erzählt. Während die Mutter nur mehr oder weniger als Statistin der dreiköpfigen Kleinfamilie fungiert und als Ernährerin eher mit Abwesenheit glänzen muss, ist der Vater rund um die Uhr für das Wohl und Wehe der heranwachsenden Tochter zuständig. Daraus entwickelt sich ein intensives Band zwischen den beiden. Es ist wirklich ganz rührend beschrieben, wie der Vater unfreiwillig immer kleiner und “unsichtbarer” und die Tochter immer “größer”, selbständiger und klüger wird. Aufgrund dessen driften die beiden wieder etwas auseinander, auch wenn die tiefe Beziehung trotz allem bestehen bleibt. Selten habe ich eine so anrührende Vater-Tochter-Beziehung gelesen.

Durch die vielen kurzen Kapitel, die jeweils ein bestimmtes Thema behandeln, ist der Roman ziemlich kurzweilig. Man kann also auch mal schnell auf dem Klo ein Kapitel lesen, wenn man das möchte, ohne von seinen Mitmenschen für eine/n Dauersitzer:in gehalten zu werden. Auch möchte uns die Autorin scheinbar die in den Balkanländern gesprochenen Sprachen (Im Roman “B/K/M/S” genannt) näherbringen, denn es gibt viele Dialogpassagen, vor allem zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Vater, die auf Kroatisch (?) geschrieben und dann in Klammern auf Deutsch übersetzt wurden. Das finde ich ziemlich gut, trägt es doch zur Authentizität des Ganzen auf bezaubernde Weise bei.

Ich kann nur sagen: Lest diesen Roman unbedingt. Er ist kurzweilig, authentisch, humorvoll, herzerwärmend und klug. Ich kann mir gut vorstellen, dass es eine Fortsetzung gibt, denn leider war er auch viel zu schnell zu Ende.

Triggerwarnungen: Fremdenfeindlichkeit, Tierquälerei, Krankheit (Krebs)


Donnerstag, 28. März 2024

"Sieben Sekunden Luft" von Luca Mael Milsch


Luca Mael Milsch erzählt in “Sieben Sekunden Luft” die aufwühlende Geschichte einer toxischen Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich einander nicht ausgesucht haben und doch für immer verbunden sind: Mutter und Tochter: “…egal, wie weit du weglaufen willst und wirst. Sie bleibt.” (S. 150) Gemeint ist die Mutter. Von Ex-Partner:innen kann man sich trennen, so etwas wie eine Ex-Mutter gibt es nicht. Die Tochter ist Selah, die Mutter wird nur “Mama” genannt, den Schritt zur Individuation der Mutter-Figur durch die Gabe eines Namens geht die Erzählinstanz nicht. Das passt ins Gefüge des Textes, denn die Mutter ist übermächtig-gottgleich in dieser Beziehung und das Göttliche hat - ich spreche hier nur für den westlichen Kulturkreis - ja auch keinen Namen außer der Bezeichnung selbst.

Wir bekommen Selahs Leben in vier Zeitebenen erzählt. 1995: Die Stimme des 11-jährigen Kindes Selah, die bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufwächst. Die Mutter hat einen Bürojob und wechselnde Männerbekanntschaften. Sie lässt ihre Tochter spüren, dass es nicht einfach ist, ein Kind ohne Unterstützung durch den Selah unbekannten Vater, der keine Alimente zahlt, durchzubringen. Ohne Zweifel hat sie narzisstische Züge, sie verlangt von ihrer Tochter Gehorsam und vor allem, dass Selah keine Probleme macht, als Persönlichkeit quasi unsichtbar ist und in der Schule sowie im Klavierunterricht brilliert. Selah macht sich klein, bekommt eine Essstörung, wird gemobbt, sexuell angegriffen und homophob beleidigt, denn sie kleidet sich nicht typisch mädchenhaft. Von all dem bekommt die Mutter nichts mit. 2006: Selah als junge Frau im Studium, das sie nicht ernst nehmen kann, orientierungslos. Sie lebt in einem WG-Zimmer und immer noch mit den Geistern der Vergangenheit zusammen. Die Beziehung zur Mutter: Schwierig und distanziert. 2017: Selah auf einer dreimonatigen Auszeit an der Ostsee mit Hund, ihr Job in der Pflege hat sie aufgerieben, die Vergangenheit reflektierend. 2023: Selah ist in einer festen Beziehung mit Ava, sie haben ein Pflegekind. Selah ist Musikerin und glücklich in einem familiären Umfeld. Allerdings steht die durch den Tod einzig mögliche Trennung von der Mutter bevor, die unheilbar an COPD erkrankt ist. Ein langsamer und nochmal alles aufwühlender Abschied.

Was mir sofort aufgefallen ist, ist die unglaublich authentische Erzählstimme. So würde ein echter Mensch tatsächlich denken, habe ich mir sehr oft gedacht, als ich Selahs innerem Monolog lauschen durfte. In diesen Worten steckt keinerlei Künstlichkeit, obwohl sie überaus kunstvoll gewählt sind. Hier ist kein Satz, keine Aussage überflüssig. In Selahs Worten manifestiert sich all das Ungesagte, all das, was gegenüber ihrer Mutter nicht artikuliert werden durfte. Selahs Mutter hat gegenüber ihrer Tochter nur eine Meinung gelten lassen - und das ist ihre eigene. Die Tochter musste sich unterordnen, Dinge machen, die ihrem Wesen zutiefst gegen den Strich gingen. Ich spreche hier nicht davon, die Spülmaschine auszuräumen, wenn man keinen Bock darauf hat. Selah wurde als Individuum nicht gesehen. Und das schlägt sich auf die Psyche eines Kindes nieder und gipfelt in mangelndem Selbstbewusstsein und Schlimmerem.

Vieles, was hier geschrieben wurde, hat Allgemeingültigkeit. Selahs Reflektionen sind starke Aussagen und ich habe mir viele Sätze rausgeschrieben, weil sie so unglaublich wahr und gut sind. Zum Beispiel diesen Abschnitt: “das gegenseitige Verletzen, versehrte Körper unter einem Dach, sich gegenseitig versehrende Menschen, eine Familie.” (S. 202) Oder:

"Du hast nie verstanden, warum Menschen nicht ihre Ruhe haben wollen, und bist erschrocken, wie sehr du es an manchen Tagen schaffst, so zu tun, als seist du einer von ihnen." (S. 134) 

Ich habe oft mit Selah mitgeführt, weil ich viele ihrer Gedanken sehr gut nachvollziehen kann.

Das Motiv des Luftholens zieht sich leitmotivisch durch den Roman und ist auch in die formale Gestaltung des Textes eingeflossen (S. 175-182). Nach einem Leben voller äußerer Zwänge und teilweisen Fremdbestimmung, ist da der Wunsch bzw. vielmehr der Drang, einmal ganz bei sich zu sein und einfach mal tief durchatmen, “aufatmen”, wie sie es nennt, zu können - und wenn es nur für sieben Sekunden ist.

Das versöhnliche Ende dieses Romans macht Hoffnung und auch wenn Selah nur eine Romanfigur ist, so freue ich mir diesen Menschen, der sich am Ende des Textes endlich selbst gefunden hat und nun freier atmen kann.

Dieses Buch ist ein Debütroman und als solcher von höchster literarischer Qualität. Ich würde mich schwer über die Jury wundern, wenn er nicht zumindest auf die Longlist des Deutschen Buchpreises kommen würde. Ein absolut perfekter Roman, an dem es nichts, aber auch gar nichts auszusetzen gibt. Dennoch möchte ich auf die zahlreichen sensiblen Inhalte in diesem Roman hinweisen. Triggerwarnungen: Homophobie/Queerfeindlichkeit, toxische Eltern-Kind-Beziehung, psychische Erkrankungen, Vergewaltigung, Mobbing, Essstörung, Krankheit/Sterben

Herzlichen Dank an Lovelybooks für die Leserunde mit Autor:in, dem Haymon-Verlag für das Rezensionsexemplar und Luca Mael Milsch für diesen wunderbaren Text.


Dienstag, 26. März 2024

"Das Mörderarchiv" von Kristen Perrin

Es gibt Romane, in denen steht die Auseinandersetzung des orientierungslosen Individuums mit einer scheinbar sinnentleerten Welt im Vordergrund- und es gibt solche, die dienen der reinen Unterhaltung der Leser:innen. “Das Mörderarchiv” gehört sicher zu letzter Kategorie, wobei die beiden Protagonistinnen, also Frances in der Vergangenheit und Annabelle in der Gegenwart, sich schon in einer ziemlich zeichenhaft-komplizierten Welt befinden, die eine Bedrohung für sie darstellt. Der einen, Frances, droht aufgrund einer Prophezeiung, die ihr als

Teenagerin gemacht wurde, die sichere Ermordung. Folgende Worte, die ihr von einer Jahrmarkt-Wahrsagerin als 17-jährige gesagt wurden, werden sie ihr ganzes restliches Leben begleiten: “Ich sehe bleiche Knochen in deiner Zukunft. Dein langsames Hinscheiden beginnt [...] sobald du die Königin in der Hand hältst.” (S. 10). Außerdem solle Frances noch auf den Vogel achten, der Verrat bringen würde. “Aber Töchter sind der Schlüssel zur Sühne.” Sie soll “die eine rechte” an sich binden. “Die Zeichen führen zu deinem Mörder.” Der anderen, Annabelle, droht der Entzug ihres Millionenerbes und vor allem der ihres Elternhauses in London-Chelsea, in dem sie auch mit Mitte 20 noch mit ihrer Künstlerinnen-Mutter, Frances’ Nichte Laura, lebt. Denn: Es kommt wie es kommen muss, Frances wird ermordet und Annie (Annabelle) muss den/die Mörderin ihrer Großtante finden. Gut dass die zu Lebzeiten ein prall gefülltes “Mörderarchiv” angelegt hat…

Wenn ich Krimis lese, dann ist das englische Herrenhaus schon eines meiner beliebtesten Settings. Gravesdown Hall - oh ja, sprechende Namen sind in diesem Roman ein großes Thema - ist natürlich ein Paradebeispiel dafür. Und auch  im dazugehörigen Dorf “Castle Knoll” ist alles so, wie es in einem englischen Cosy-Krimi sein soll. Es gibt - und ohne sie wäre dieser Krimi sinnlos - zahlreiche Verdächtige mit typischen Berufen (Gärtner, Chauffeur:in, Dorfärztin, Tierärztin, etc.), die alle ziemlich überzeichnet sind. Und dennoch: Es hat bei mir leider nicht “Klick” gemacht bei diesem Buch. 

Warum? Naja, hauptsächlich hätte ich mir gedacht, das titelgebende “Mörderarchiv” würde eine weitaus größere Rolle spielen als es das letztlich tat. Ich dachte halt, Annie nimmt sich jeweils eine verdächtige Person vor und dann die zugehörige Akte, aber das war nicht so. So dass wir selbst anhand der Indizien, die Frances so akribisch angelegt hat, nach und nach auf den Täter/die Täterin kommen. Stattdessen wird immer wieder direkt aus dem Tagebuch von Frances aus den 1960ern berichtet.

Ich fand es leider - bis auf die Grundidee - nicht überzeugend. Täter:in hat mich leicht überrascht, aber das Motiv hat mich nicht aus den Socken gehauen. Spannung war für mich ebenfalls kaum gegeben.

Fazit: Ein mittelguter Cosy-Krimi mit nettem Setting, den man nicht gelesen haben muss. Aber die Fotos sind nicht schlecht, oder? 😉

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Mittwoch, 20. März 2024

"Die Entflammten" von Simone Meier


Wenn man über ein Gericht sagt, es wäre “interessant” gewesen, dann ist das meistens kein Kompliment für die Köchin oder den Koch. Mir will allerdings vor allem das Adjektiv “interessant” in den Kopf kommen, wenn ich an den Roman “Die Entflammten” von Simone Meier denke, der momentan gefühlt in aller Hände und Köpfe ist. Formulieren wir es aber anders, denn dieses Buch ist keineswegs mit einem schlecht schmeckenden Essen zu vergleichen. Ich bin froh, dass mir diese Geschichte erzählt wurde, die ich so noch nicht kannte.

Es ist einerseits die Geschichte der historischen Johanna van Gogh-Bonger (1862-1925). Sie war die Witwe von Vincent van Goghs Bruder Theo van Gogh und machte die Werke ihres Schwagers durch geschicktes Kunstmanagement und Marketing posthum weltberühmt. Und genau über diese ihre zentrale Lebensleistung wurde mir leider zu wenig berichtet. Es wird so anerzählt, wie in etwa der Vertrieb der Kunstwerke und die Logistik des Verschickens war, dass die Bilder schlecht verpackt wurden und Beschädigungen erlitten, aber nur ganz kurz. Und dass sie ja die geniale Idee hatte, das Werk Vincents durch den Vertrieb von Postkarten niederschwellig zugänglich zu machen, das wird nur von einem ihrer späten Freunde lobend eingeworfen. Ich hätte sie gerne erlebt, wie ihr das alles eingefallen ist, aber letztendlich wird aus diesem Lebenswerk der Johanna van Gogh-Bonger, weswegen sie heute in die Kunstgeschichte eingeschrieben und unvergessen ist, nur eine kleine Episode gemacht. Und das ist schade.

Aber nun kommen alle Aspekte, die mir gefallen haben und die ich positiv hervorheben möchte: Das Buch hat zwei Erzählstränge, die zwar getrennt sind, aber sich an manchen Stellen berühren bzw. ineinanderfließen. Durch die beiden Erzählstränge ist der Roman sehr abwechslungsreich. Die Geschichte von Jo wird einmal aus ihrer Perspektive und einmal aus der Zukunftsperspektive von Gina beleuchtet. Gina ist die junge Autorin aus der Gegenwart, die Johanna van Gogh-Bongers Geschichte aufschreibt. Sehr metatextuell, denn wir lesen quasi Ginas Buch. Die junge Frau stolpert etwas orientierungslos durch ihr Kunstgeschichte-Studium, bis sie auf Johannas Geschichte aufmerksam wird. Gina sagt über Jo: “Eine junge Frau wie ein Stück Brot, unscheinbar und zugleich lebensnotwendig” (S. 100). Jo ist eine sehr pragmatische, geschäftstüchtig auftretende Protagonistin, heute würde man sagen eine “Macherin”. Wahrscheinlich ist es diese “no nonsense”-Einstellung, die ihr letztlich den Erfolg gebracht hat. Bemerkenswert war für mich: Jo machte als Frau bereits Ende des 19. Jahrhunderts einen Abschluss in englischer Literaturgeschichte. Die Abhängigkeit von einem Mann wollte sie nie und nach der nur sehr kurzen Ehe ist sie ihr auch entkommen. Johanna wurde zwar durch einen anderen Mann reich, aber das kam durch ihre eigene Initiative.

Es geht in diesem Roman nicht nur um den Vertrieb und die Vermarktung von Kunst, sondern auch darum, was Kunstrezeption mit uns machen kann, was Kunst in der Lage ist, in uns auszulösen. Gina erlebt folgendes, als sie vor Vincents blühendem Mandelzweig steht: “Ich stand davor, ich wollte meine Hand ausstrecken, wollte sie in den Blüten kühlen [...] das Bild wühlte mich ungewöhnlich auf, die Endzeit der Schönheit, dachte ich, und brach mitten in einem nüchternen Museumssaal in Tränen aus.” (S. 157) 

Gina sagt, ihr Schreiben sei “impressionistisch”, das ihres Vaters, der bislang aber nur ein Buch veröffentlichen konnte, wäre es auch und letztlich kann man auch Simone Meiers Art und Weise einen Text zu formulieren als “impressionistisch” bezeichnen. Ihre Wortwahl ist bildhaft, ihre Szenen und Zeitebenen fließen ineinander über, alles wirkt ein bisschen verschwommen.
Sehr interessant und originell finde ich, dass Gina und Jo an ein paar Stellen miteinander in einen Dialog treten. Hier berühren sich und verschwimmen die Zeiten, die Plotstränge und letztlich die beiden Protagonistinnen zu einer.

Das Buch selbst will ein sprachliches Gemälde sein und schafft dies auch an manchen Stellen. Sprache und Ausdrucksweise sind intellektuell gehoben, was angesichts des Themas zwar passend erscheint, was man aber als Leser:in auch mögen muss.

Fazit: Ein wirklich sehr gut erzählter Roman, in dem ich mir ein Weniger an “
Männern in Särgen” und ein Mehr an historischen Frauen im Kunst-Business gewünscht hätte.

Triggerwarnungen: Tod/Sterben/(exhumierte) Leichen, (psychische) Krankheiten

[Unbezahlte Werbung, Buch gekauft bei Schmökerbox]


Donnerstag, 14. März 2024

"Der Stich der Biene" von Paul Murray


“Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.“ Dieses sehr berühmte Zitat aus “Anna Karenina” lässt sich auch auf “Der Stich der Biene” von Paul Murray (übersetzt von Wolfgang Müller, erscheint am 14.3.2024 bei Kunstmann) und auf die dort im Fokus stehende irische Familie Barnes übertragen. Sie sind unglücklich - warum und vor allem wie es zu diesem negativen Status Quo ihrer Gefühlswelten kam - erfahren wir in diesem 700 Seiten umfassenden Meisterwerk der modernen Erzählkunst. Fun fact: Paul Murray hat das Manuskript tatsächlich zunächst mit der Hand geschrieben und es dann erst digitalisiert. Eine unfassbare Leistung angesichts der enormen Seitenzahl - und eine sehr unmittelbare Art zu schreiben.

“The Bee Sting” war 2023 für den Booker Prize nominiert und stand sogar auf der Shortlist. Aus der englischsprachigen Bücher- und Rezensent:innen-Welt gab es fast nur positive Stimmen und man kann nur mutmaßen, warum es letztlich ein anderer irischer Autor mit dem Vornamen Paul war, der den renommierten Preis abgeräumt hat (Paul Lynch für “Prophet Song”). Das Buch heißt auf Deutsch übrigens nicht “Der Bienenstich”, was die genauere Übersetzung von “The Bee Sting” wäre, weil man es sonst im deutschsprachigen Raum mit einem Kuchen verwechseln könnte. Gehaltvoll und reich an geistigen Kalorien ist dieses Werk aber allemal.

Das übergreifende Thema des Romans sind Lebensentscheidungen - und Lebenslügen. Was bewegt uns, genau diese Entscheidungen zu treffen, die wir getroffen haben? Warum unterdrücken wir Teile unseres wahren Ichs, nur um anderen zu gefallen bzw. in die traditionellen Raster einer Gesellschaft zu passen? Und: spielt das Schicksal eine Rolle? Wäre alles anders gekommen, wenn die Braut am Hochzeitstag nicht von einer Biene gestochen wäre? Würde jemand ein urbanes, queeres Leben in der Großstadt führen, wenn nicht ein ihm nahestehender Mensch bei einem Autounfall gestorben wäre, dessen “Platz” und Rolle er eingenommen hat?

Gibt es sowas wie valide Omen, Vorsehung, Wahrsagen - und Geister? Was macht der Verlust der einzigen wahren Liebe mit einem Menschen?

Diese Fragen - und noch viele mehr - stellt sich der Roman anhand des Fallbeispiels der scheinbaren irischen Durchschnittsfamilie Barnes, die bei genauer Betrachtung - und die Betrachtung ist mit 700 Seiten sehr genau - alles andere als durchschnittlich ist. Ihr psychologischer und ökonomischer Verfall wird eindringlich dargestellt. Man könnte das Werk von der Dynamik, Disposition und Thematik her gut mit Thomas Manns “Buddenbrooks” vergleichen: “Der Stich der Biene” handelt nämlich auch vom “Verfall einer Familie”, wie es bei Thomas Mann im Untertitel seines Nobelpreis-Werks heißt.

“Der Stich der Biene” fühlt sich stellenweise an, als würde man das Protokoll einer sehr intensiven Therapiesitzung lesen, bei der die tieferen Schichten des Bewusstseins der literarischen Figuren nach und nach freigelegt werden. Es fügen sich immer mehr Puzzleteile zusammen, die am Ende ein großes Ganzes ergeben, auf dem die gegenwärtige verfahrene Situation zusammen mit den Versatzstücken aus der Vergangenheit abgebildet ist. Das Ende ist aber entsprechend offen - jeder kann sich seine/ihre eigene Meinung bilden, was nun genau geschehen wird.

Die Erzählweise ist multiperspektivisch. Der Roman wird aus den unterschiedlichen Perspektiven der vier Mitglieder der Kernfamilie erzählt: Zunächst Cass, die Tochter, die kurz vor ihrem Schulabschluss steht und der Provinz sowie der angespannten familiären Situation durch die Aufnahme aufs Trinity College Dublin entfliehen möchte. Dann PJ, der zwölfjährige “Nachzügler”, der den drohenden finanziellen Ruin der Familie auch körperlich zu spüren bekommt. Die Geschichten der beiden Jugendlichen sind voll mit Jugendsprache, Kraftausdrücken und Chat-Konversationen. Ganz anders nimmt sich da plötzlich die Perspektive der Mutter Imelda aus. Ihre Sicht wird sehr unmittelbar im inneren Monolog bzw. Gedankenstrom erzählt, wobei die Interpunktion ausgesetzt ist und wir nur an der Großschreibung erkennen können, wenn ein neuer Satz beginnt. Das ist natürlich eine Hommage an Murrays berühmten Landsmann James Joyce und das letzte Kapitel von “Ulysses”. Die Unmittelbarkeit, die hier erzeugt wird, ist bestechend. Komplettiert wird das Ganze durch die Perspektive des “Familienoberhaupts” Dickie, der gegen die drohende Insolvenz seines Autohauses und gegen seine wahre Identität ankämpft. Während die Kinder sich vor allem mit ihrer Gegenwart und der Zukunftsangst auseinandersetzen, sind die Geschichten der beiden erwachsenen Familienmitglieder von der Vergangenheit geprägt. Wie wurden sie zu den Menschen, die sie jetzt sind. Schön und wichtig, wenn es um die Fiktionalisierung unserer gegenwärtigen Lebenswelt geht, finde ich auch den queeren Aspekt des Buches. Damit hätte ich zunächst nicht gerechnet und ich will diesbezüglich auch nicht zu viel verraten, nur dass es ihn eben gibt.

Umwelt- und Klimaschutz sind Themen, die ebenfalls eine wichtige Rolle im Roman spielen. Cass beginnt sich während ihrer fortgeschrittenen Schulzeit mit Klimafragen auseinanderzusetzen und begeistert auch ihren Vater dafür. Als Inhaber eines Autohauses zweifelt er zunehmend an seinem Beruf. Bei ihm trägt die Zunahme des ökologischen Bewusstseins quasi zum ökonomischen Verfall der Familie bei. Die prekäre Lage der dysfunktionalen Familie Barnes ist außerdem ein Symbol für die verheerende Lage, in der sich die ganze Welt angesichts des Klimawandels - genau jetzt in unserer Gegenwart, in der wir alle gemeinsam auf diesen Planeten leben, der kurz vor der Zerstörung steht - befindet. Der Mikrokosmos Barnes spiegelt den Makrokosmos Erde. Daher auch das offene Ende: Es ist unklar, ob die Menschheit es schaffen wird, das Ruder noch herum zu reißen, genauso unklar ist es, ob die Familie Barnes selbiges schafft. So viel sei gesagt: Die Vorzeichen sind keinesfalls positiv und eine Tragödie ist wesentlich wahrscheinlicher als ein Schauspiel mit freudigem Ausgang. Einer der unheilsschwangeren Sätze, die mir im Gedächtnis geblieben sind, lautet: “Man konnte die Menschen, die man liebte, nicht schützen - das war die Lektion der Geschichte, und deshalb bedeutete die Liebe zu jemandem, sich einer drastisch erhöhten Leidensstufe auszuliefern.” (S. 442)

Der Roman lässt sich nicht mal eben schnell “weglesen”. Für dieses Buch braucht man Zeit, Energie und die Bereitschaft, sich wirklich voll und ganz auf diese Geschichte - in all ihren Facetten und kleinsten Verästelungen - einzulassen, sonst funktioniert es nicht. Hat man aber seinen Teil als Leser:in eingebracht, dann wird man mit einem erzählerischen Opus Magnum belohnt, das einen nicht selten verzaubert und zur Selbstreflektion anregt - und das ist ja der Sinn und Zweck von Literatur.

Herzlichen Dank an den Kunstmann-Verlag und Lovelybooks für das Rezensionsexemplar!

Diesen Buchrücken liebe ich übrigens ganz besonders.


Mittwoch, 13. März 2024

"Der Wald" von Eleanor Catton


Ein Roman über die Tragödien unserer Zeit

Was sind die tragischen Figuren unserer Gegenwart? In Shakespeares Dramen waren es die Herrscher und die Usurpatoren, die sich nicht selten eine Schlacht um den Thron lieferten. Heutzutage sind es immer mehr die Weltpolitiker, Tech-Magnaten und Großindustriellen und auf der anderen Seite Klimaschützer:innen wie Greta Thunberg und ihre Bewegung “Fridays for Future”. Die einen kämpfen für sich selbst bzw. ihr Image, die anderen für nichts weniger als die Zukunft unseres Planeten. Eleanor Catton, die jüngste Booker-Prize-Trägerin aller Zeiten (sie gewann den Preis 2013 für “The Luminaries”) hat sich in ihrem Roman “Birnam Wood” (auf Deutsch schlicht “Der Wald”, übersetzt von Meredith Barth und Melanie Walz) ebenfalls mit dem Kampf Gut gegen Böse, Wirtschaft vs. Umwelt, Kapital vs. Moral auseinandergesetzt. Nicht umsonst heißt das Kollektiv, das die Protagonistin Mira gegründet hat, “Birnam Wood”, ein Begriff der Shakespeares Tragödie “Macbeth” entnommen ist. 

Worum geht es? Neuseeland im Jahr 2017. In Christchurch gibt es seit einigen Jahren das Guerrila-Gardening-Kollektiv “Birnam Wood”. Die Gründerin Mira und ihre gute Freundin Shelley stehen an einem Wendepunkt. Shelley möchte die Gruppe verlassen und Mira driftet ein bisschen orientierungslos dahin. Mira wird auf ein Grundstück in Thorndike am Rande des Korowai-Nationalparks aufmerksam, das sich perfekt für ihre gärtnerischen Aktivitäten eignen würde. Dieses Grundstück des gerade zum Ritter geschlagenen Schädlingsbekämpfers Owen Darvish wiederum möchte der durch Drohnen reich gewordene amerikanische Milliardär Robert Lemoine erwerben, um dort einen Bunker zu bauen. Er bietet Mira und “Birnam Wood” an, ihre Pflanzungen auf dem Gelände zu betreiben, außerdem will er sie mit einer großen Summe finanzieren. Ist dies die Rettung des Kollektivs oder ein Pakt mit dem Teufel?

In ihrem Roman wirft Catton viele Fragen auf, die wir uns als Menschen des 21. Jahrhunderts stellen müssen. Zum Beispiel, wie weit Digitalisierung und Selbstoptimierung gehen dürfen. Ob es nicht zutiefst menschlich ist, Fehler machen zu dürfen und nicht perfekt zu sein. Was wären Kunst und Kultur, wenn sie nicht das menschlich Fehlerhafte zum Thema hätten? Was macht dieses Streben nach Perfektion und Unsterblichkeit mit uns? Tony ist die Figur im Roman, die den Selbstoptimierungswahn, die Skrupellosigkeit und Amoralität, die in der Figur des Lemoine auf die Spritze getrieben wird, anprangert. Mira, die Gründern von Birnam Wood, ist hin- und hergerissen zwischen dem charismatischen Multimillionär, der sich Unsterblichkeit erkaufen will und dem erfolglosen Gelegenheitsjournalisten, der das menschlich Fehlerhafte, aber auch das uns Menschen inhärente Streben nach moralischem Handeln verkörpert. Wer wird am Ende mit seinen Positionen reüssieren? Oder kann niemand gewinnen, weil wir am Ende alle in einem Boot sitzen? Zentral ist auch die Frage, wie weit Überwachung gehen darf. Sind Drohnen nicht zutiefst unmoralisch und wird uns diese Technik nicht letztlich mehr Schaden als Nutzen bringen?

Ich betonte immer wieder gerne in meinen Rezensionen, wie sehr ich es mag, wenn ein Roman durch Originalität besticht. “Der Wald” ist mal wieder so ein Buch. Die Konstellation Guerilla-Gardening-Kollektiv trifft shady Multimilliardär-Prepper ist definitiv eine, die mir so noch nie erzählt wurde. Außerdem ist mir Neuseeland als literarischer Schauplatz auch relativ neu.

Für einen literarischen Roman ist “Der Wald” ungeheuer fesselnd. Der Plot ist einfach spannend im klassischen Sinne. Man will unbedingt wissen, welchen Schachzug die handelnden Personen bzw. Parteien als nächstes ausführen. Die berühmte “Sogwirkung” ist meiner Meinung nach voll gegeben. Es wechseln sich Phasen der eingehenden Charakterisierung der einzelnen Personen mit solchen der Plotentwicklung ab, wobei im letzten Drittel die Handlung erst richtig an Fahrt aufnimmt. Ab diesem Zeitpunkt kann man wegen der Spannung und des rasanten Erzähltempos das Buch nur noch schwer aus der Hand legen. Ökothriller ist meines Erachtens wirklich die richtige Gattungsbezeichnug.

Die Übersetzung ist zu Beginn etwas holprig und gestelzt, wird dann aber zunehmend besser. Manchmal gibt es aber nach wie vor kleine Ungereimtheiten. Zum Beispiel bezeichnet eine Person eine andere als “du Dreck” (S. 480). Würde man das so sagen? Ich kenne das Original nicht, könnte man aber vorstellen dass so etwas gesagt wurde wie “you piece of shit”, was ich dann eher als “Du Drecksack”, “Du Abschaum” oder “Du Dreckstück” übersetzt hätte. Was ich ebenfalls nicht ganz nachvollziehen kann, ist die Entscheidung des Verlags, das Buch “Der Wald” statt “Birnam Wood” zu nennen. Selbst wenn einem der Begriff Birnam Wood nichts sagt und man nicht weiß dass es ein Zitat aus “Macbeth” ist, so kann man das erstens googeln und zweitens wird es im Text ausführlich erklärt. Finde ich etwas schade dass man hier den deutschen Leser*innen so wenig zutraut, zumal ja nicht wirklich ein “Wald” eine Rolle spielt im Roman. Dann hätte man eher sowas wie “Das Kollektiv” nehmen sollen.

Ein weiteres Manko ist meines Erachtens, dass es den Charakteren oft an Tiefe fehlt. Vor allem Lemoine ist sehr klischeehaft gezeichnet und Mira und Shelley sind als Persönlichkeiten zu flach und austauschbar. Alles in allem ist das Buch dennoch ein sehr spannender literarischer Gegenwartsroman, der viele Fragen unserer Zeit aufwirft und mit einem der krassesten Enden schockiert, die ich seit Langem gelesen habe, welches ich mir aber trotzdem etwas anders gewünscht hätte. 

Triggerwarnung: Drogenmissbrauch, Gewalt, Mord, Umweltzerstörung

[Werbung, da Rezensionsexemplar] Herzlichen Dank an den btb-Verlag sowie das Bloggerportal von Randomhouse für das Rezensionsexemplar

Freitag, 8. März 2024

"Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten" von Annabelle Hirsch

Zum Weltfrauentag gibt es heute einen Sachbuch-Tipp von mir. 

Als ich neulich am Bücherschrank war, stand ganz oben in der ersten Reihe ein rotes, sehr neuwertig wirkendes Hardcover, das sofort meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat. Es war “Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten” von Annabelle Hirsch, 2022 im Kein & Aber Verlag erschienen. Ich blätterte das Buch durch und es sagte: “Nimm mich mit, füge deinem Bücherregal ein weiteres Objekt hinzu.”

Menschen, ich muss euch sagen, dieses Buch ist wirklich ein Fest. Es enthält tatsächlich feministische Objektgeschichte von ca. 30.000 vor Chr. bis in die 10er Jahre unseres Jahrhunderts hinein. Ob es eine Nonnenkrone, Hannah Arendts Edelweißbrosche oder eine Au Bon Marché-Rechnung aus dem Frankreich der 1860er Jahre ist - ein faszinierendes Kompendium weiblicher Dinge. Die Autorin sagt in der Einleitung, dass die Objekte, die sie gesammelt hat und von denen sie erzählt, “vom Alltag der Frauen erzählen, von kleinen und großen Momenten.” Es sind “Objekte, die mit Themen verbunden sind, die Frauen tangier[en], Körper, Sex, Liebe, Arbeit, Kunst, Politik.” Dabei möchte die Autorin in “Die Dinge” quasi mal hier und dort eine Tür zu einem imaginierten “Flur der Vergangenheit” öffnen und jeweils eine Story zu dem ausgewählten Objekt erzählen. Aber sie erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern möchte uns dazu ermuntern, selbst nachzuforschen und weitere Geschichten von (weiblichen) Dingen zu recherchieren und weiterzuerzählen.

Dieses Buch ist sicher nicht dafür gedacht, es an einem Stück komplett durchzulesen, auch ich habe das nicht getan. Aber um immer mal wieder reinzuschmökern, dafür ist dieses Sachbuch über weibliche Objektgeschichte, das es mittlerweile auch als Taschenbuch gibt, perfekt.



Donnerstag, 29. Februar 2024

"Yellowface" von Rebecca F. Kuang


Über Autor:innenschaft, Shitstorms und Pancakes

Marilyn Monroe sagte einst “Neid ist der Schatten, den der Erfolg wirft”. Neid gibt es überall, wo Menschen in gesellschaftlichen Beziehungen zueinander stehen. Neid gibt es auch in einer Branche, mit der wir Leser:innen es tagtäglich indirekt zu tun haben: der Buchbranche. Selten ist es allerdings, dass dieser Neid offen thematisiert wird. Meistens findet er nur hinter verschlossenen Türen der Verlage und Autor:innenaccounts statt. Wirklich niemand möchte gerne zugeben, dass er/sie neidisch ist. Neid lässt einen schlecht und missgünstig wirken und keine/r möchte am Ende des Tages überhaupt neidisch sein, wenn er/sie in den Spiegel schaut. 

Auch June, die Protagonistin von Rebecca Kuangs Roman “Yellowface” (übersetzt von Jasmin Humburg, auf Deutsch erschienen bei @eichborn) möchte nicht neidisch sein auf ihre Freundin Athena Liu - und ist es trotzdem. Athena, die wunderschöne Schriftstellerin mit asiatischem Migrationshintergrund, die es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschafft hat. Athena ist alles, was ihre Collegefreundin June gerne wäre, vor allem aber lebt sie als erfolgreiche Schriftstellern ihren Traum, während Junes Romandebüt floppte und sie einem Brotjob nachgehen muss. Doch als Athena bei einem Treffen der beiden, in Washington D.C. lebenden Freundinnen, stirbt, bietet sich June die Gelegenheit ihres Lebens: Sie klaut das gerade fertiggestellte Manuskript von Athenas Geheimprojekt “Die letzte Front”. Ob sie damit durchkommt oder nicht, darum geht es in “Yellowface”.

Kuang karikiert in ihrem Roman die US-amerikanische Buchbranche und seziert ihre Mechanismen und Praktiken, die mitunter alles andere als einwandfrei sind. Er führt einem die Tatsache vor Augen, dass diese Branche vor allem eins ist: schnelllebig. Selbst die Halbwertszeit von Bestsellern ist gering und sollten Bücher nicht zu Klassikern mutieren, werden sie schnell von Neuheiten verdrängt. Eine oberflächliche Branche wie so viele andere auch, die seit der Existenz des Internets allerdings genau beäugt wird. Autor:innen sind transparenter geworden und werden nicht selten zur Zielscheibe von Trollen. Wenn natürlich einem Autor/einer Autorin ein schwerwiegendes Vergehen anzulasten ist, wie im Fall von June das Plagiat, dann sind Shitstorms hausgemacht: Der Diebstahl von geistigem Eigentum ist kein Kavaliersdelikt. Urheberrecht und Autor:innenschaft sind nicht verhandelbar.

Ein weiteres Thema bringt der Roman zur Sprache: Darf man als weiße Autor:in überhaupt etwas über chinesische Zwangsarbeiter während des Ersten Weltkriegs schreiben oder ist das kulturelle Aneignung? Kein einfaches Thema und sicher ist es nicht eindeutig zu beantworten, wo die Grenzen zwischen Kunstfreiheit und kultureller Aneignung liegen. June jedenfalls ist der Meinung, dass die Verlagswelt heutzutage vor allem auf Autor:innen setzen würde, die queer sind und/oder über einen Migrationshintergrund verfügen würden - und dadurch würde sie als weiße heteronormative Frau ins Hintertreffen geraten. Letztlich gibt sie der Gesellschaft die Schuld für ihre Erfolglosigkeit und stellt das eigene Talent dabei nie wirklich in Frage. June belügt sich selbst und stellt ihren eigenen moralischen Kodex auf stumm.

June ist süchtig nach der Magie des Schreibens: “Schreiben heißt, etwas aus dem Nichts zu erschaffen, Türen zu anderen Welten zu öffnen. Schreiben gibt dir die Kraft dein eigenes Reich zu formen, wenn die Realität zu sehr schmerzt.” Das ist einer der wenigen Sätze, bei denen man eine Art Mitgefühl für June aufbringen kann. Die meiste Zeit gingen mir aber ihre Selbstgerechtigkeit und ihr Selbstmitleid auf die Nerven. 

“Yellowface” ist ein oberflächlich perfekter Roman über die Entstehung eines Romans, über das Schreiben eines Schlüsselromans und auch ein “Roman im Roman”. Meta- und Intertextualität lauern hier also überall. Die Geschichte ist unterhaltsam, der Stil ist geschliffen und passt perfekt zum Plot. Warum habe ich dann keine 5 Sterne gegeben? Ich kann nur eine vage Erklärung geben: Mir hat etwas gefehlt, das ich nicht benennen kann. Bei Menschen sagt man, es gibt “das gewisse Etwas”, also dieses bisschen Mehr, das uns jenseits aller Perfektion in den Bann zieht. Vielleicht kann man auch sagen: Charisma, dem Roman fehlt Charisma. Außerdem fehlt ihm eine sympathische und vielschichtige Protagonistin. Aber das mag vielleicht nur ich so sehen. Unterhalten wird einen dieser Roman auf jeden Fall, wenn man mal hinter die - überspitzt dargestellten - Kulissen der Verlagsbranche blicken will.

PS: Ach ja, ich kann jetzt wahrscheinlich nie wieder (amerikanische) Pancakes essen, ohne an eine gewisse Szene aus “Yellowface” zu denken. Also wenn ihr die Dinger mögt, lest das Buch lieber nicht.

Triggerwarnung: Cybermobbing, Rassismus, Tod

Herzlichen Dank an @eichbornverlag und @vorablesen für das Rezensionsexemplar!


Samstag, 24. Februar 2024

"Passing" von Nella Larsen

Triggerwarnung: In diesem Roman geht es um Rassismus. 

Hautfarbe ist eigentlich nur eine genetische Variation, so wie Augen- und Haarfarbe. Leider wird die Hautfarbe aber anders gesehen. Sie ist mit soziokultureller Bedeutung aufgeladen und Rassismus ist leider real und existent. Das war er auch schon so vor 200 und 100 Jahren, etc. Im Rahmen des “Black History Month” habe ich jetzt endlich ein Buch gelesen, das ich schon lange lesen wollte. Es macht den Rassismus im Amerika der 1920er Jahre so erfahrbar, wie ich es selten in der Literatur gelesen habe. Es handelt sich um “Passing” von Nella Larsen (1891-1964), eine Autorin, die in den Kreis der Autor:innen der “Harlem Renaissance” einzuordnen ist.

Wow, was für eine erzählerische Kraft steckt in diesem kleinen Büchlein, in diesem Kurzroman. Es geht um die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Schichten und die Frage, ob es durch die Hautfarbe für immer determiniert ist, zu welcher dieser Schichten man gehört. Ist ein “Passing” also ein Wechsel auf die andere Seite möglich? Ist es im Amerika der 1920er Jahre (die Handlung spielt 1925/27, der Roman ist 1929 erschienen) für eine Person of Colour machbar, diesen Seitenwechsel in eine vermeintlich “bessere” Schicht zu vollziehen? Ist es der gesellschaftliche Aufstieg wirklich wert, die eigenen Wurzeln, die Community, in der man aufgewachsen ist und die einen geprägt hat, hinter sich zu lassen und die eigene Herkunft zu verleugnen?

Es geht um die beiden Kindheitsfreundinnen Clare und Irene, beide eher hellhäutige schwarze Frauen aus Harlem, New York. Während Irene einen schwarzen Arzt heiratet und in der Black Community von Harlem lebt, versucht Clare als weiß durchzugehen und heiratet einen weißen  Mann aus Chicago. Clares Mann ist durch und durch Rassist und sie verschweigt ihm ihre wahre Ethnie. Die beiden Frauen treffen sich im Erwachsenenalter wieder und Clare möchte gern mit Irene befreundet sein. Die findet es aber schwierig, eine freundschaftliche Beziehung mit Clare aufzubauen, da sie sich ja für die Gesellschaft von weißen Menschen entschieden hat. Auch dass Clare ihrem Mann ihre wahre Herkunft verschweigt, wird immer mehr zu Irenes Problem und schließlich nimmt das Unglück seinen Lauf…

Der Rassismus in diesem Buch ist einfach erdrückend und schockierend. Es ist zum einen der Rassismus von Women of Colour, die gut situierte und in ihrem Beruf erfolgreiche weiße Männer geheiratet haben und nun ihr ethnisches Erbe hinter sich lassen wollen. Diese Frauen diskutieren beim Five o'Clock Tea darüber, wie schlimm es gewesen wäre, wenn ihre Kinder schwarz auf die Welt gekommen wären: “But, of course, nobody wants a dark child.” Und hat man diesen Schock gerade hinter sich als Leser:in, kommt auch schon der weiße Ehemann um die Ecke und begrüßt seine Frau vor ihren Freundinnen mit einem rassistischen Spitznamen (ohne ihre ethnische Herkunft zu kennen, einfach weil er findet, dass sie immer “dunkler” wird). 

Nella Larsen ist eine beeindruckende Autorin. Ihre Protagonistinnen Clare und Irene sind trotz der Kürze des Romans fein ausgearbeitet und wären nicht die historischen Marker, hätte man wirklich das Gefühl, man würde einen modernen Roman lesen. Leider ist auch der Inhalt erschreckend aktuell, wenn man sich die politische Lage derzeit wieder anschaut und mit der Situation vor 100 Jahren vergleicht. In jedem Fall ist dieses Buch ein Appell an die Menschlichkeit und daran, die eigenen Stereotype (wenn man sie denn haben sollte), zu hinterfragen und den Rassismus endlich in die Mottenkiste der Vergangenheit zu verbannen.

“Passing” ist für mich ein wiederentdeckter Klassiker, den ich wirklich allen empfehlen kann, die sich mit (historischem) Rassismus auseinandersetzen wollen.

Montag, 19. Februar 2024

"Geordnete Verhältnisse" von Lana Lux

Kafka - sein Tod jährt sich dieses Jahr ja zum 100sten mal - schrieb in einem seiner Briefe, “man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen [...] [und] mit einem Faustschlag auf den Schädel” wecken. Ich weiß nicht, ob sich Lana Lux dieses Zitat besonders zu Herzen genommen hat, als sie ihren dritten Roman “Geordnete Verhältnisse” geschrieben hat. Jedenfalls musste ich an diese Worte denken, als ich den Roman beendet hatte. Das Buch ist nämlich eines, das bei manchen Lesenden eine solche drastische Wirkung zu haben vermag. Es ist ein unbequemer und verstörender Roman über zwei Menschen, die eine neue Form des Zusammenlebens, der zwischenmenschlichen Koexistenz ausprobieren und letztlich an ihren eigenen Persönlichkeiten, die von Kindheitstraumata und psychischen Krankheiten beherrscht werden, scheitern. 

Es geht um die beiden Protagonist:innen Philipp und Faina, die einander seit ihrer gemeinsamen Grundschulzeit alles bedeuten. Vor allem Philipp ist auf Faina bis zur Obsession fixiert. Philipp wächst zunächst in Gelsenkirchen bei seiner Tante und deren Familie auf, da seine eigene Mutter alkoholkrank ist und nicht für ihn sorgen kann. Als er sechs Jahre alt wird, holt ihn diese zu sich und die gemeinsame Zeit mit ihr ist von Höhen, aber noch weitaus mehr von Tiefen geprägt. In der dritten Klasse lernt er Faina kennen, die aus der Ukraine stammt und seit wenigen Monaten mit ihrer jüdischen Familie in Deutschland lebt.

Nicht nur eine imminente Seelenverwandtschaft und der jeweils bei beiden unterschiedlich ausgeprägte dysfunktionale Familienhintergrund ist es, der die Außenseiter:innen miteinander verbindet, sondern auch ihr äußeres marginalisiertes Erscheinungsbild: Sie sind beide von Natur aus rothaarig, sommersprossig und extrem hellhäutig, eine Steilvorlage für Mobbing seitens der Mitschüler:innen und in Philipps Fall sogar der eigenen katholischen Tante, die in ihm den reinkarnierten Satan zu erkennen vermag. Philipp und Faina beginnen eine Freundschaft, die mit zunehmendem Alter der beiden in eine Schieflage gerät, sprich: Aus der Freundschaft wird eine toxische Abhängigkeit voneinander, die zusammen mit Philipps Hang zur Aggressivität eine fatale Mixtur ergeben. Als die bisexuelle Faina nach einem Auslandsaufenthalt von einer Affäre schwanger wird und sich von ihrer Lebensgefährtin trennt, bietet sich für den asexuellen Philipp die Möglichkeit, mit Faina eine Familie nach dem Modell des Co-Parenting zu gründen. Wird sich sein Wunsch nach “geordneten Verhältnissen” erfüllen? Wer die Autorin Lana Lux und ihre Werke kennt, kann sich sicher sein, dass die Antwort auf diese Frage nur “nein” lauten kann.

Ich hatte etwas Probleme die Chronologie der Beziehung von Philipp und Faina richtig zu erfassen. Da die meisten Ereignisse rückblickend erzählt werden, wird viel ausgelassen, was man sich beim Lesen erschließen muss. Manche Dinge werden nicht richtig erklärt und entweder ist die Logik bzw. Reihenfolge der Handlungselemente falsch oder ich habe es nicht richtig verstanden. Irgendwie dachte ich anhand ihrer erzählten Gedanken, Faina wurde Anfang 2012 schwanger (weil sie sowas sagt wie das Jahr 2012 wäre auch schon auf dem Weg ein schlechtes zu werden und da war es April 2012). Und dann ist es aber im nächsten Kapitel Sommer 2013 und sie ist im 6. Monat. Philipp erzählt außerdem, dass sie nach einem Scan nach Hause gekommen sei und gesagt habe, das Baby sei ein Junge. Später erfahren wir aber, dass sie ein Mädchen bekommen hat. Wieso, weshalb, warum wird nicht erklärt, also ob sich die Ärztin geirrt oder Faina ihn angelogen hat. Philipps Geburtstag, gleich im ersten Satz genannt, ist der 3. März und Faina sagt später bei dem Code zum Kleiderschrank 1303, dass das sein Geburtstag sei. Ich weiß bei solchen Logik- Inkongruenzen immer nicht, ob es Fehler des Lektorats sind, oder ob ich irgendetwas nicht kapiere.

Wie auch immer, die Story ist hoch interessant und originell, weil sie Aspekte in sich vereint, die für mich in der aktuellen Belletristik noch nicht sehr prominent stattfinden. Zum Beispiel einen männlichen Protagonisten zu präsentieren, der asexuell ist. Es wird im Buch leider - anders als bei Fainas Bisexualität - nicht explizit so genannt, aber aus Philipps Gedankenstrom und seinen Handlungen kann man das ganz klar so herauslesen. Sexualität ist für ihn ein Graus und eine niedere widerwärtige Handlung, die er nicht mal mit Faina möchte, der einzigen Person, die er auf Dauer ertragen kann. Er “liebt” sie auf einer Ebene, die jenseits aller Körperlichkeit liegt. Er sagt einmal so in etwa, er sieht sie als externalisierten Teil von sich selbst. Im Grunde liebt er also wahrscheinlich nur sich selbst, was auch sein aggressives Verhalten gegenüber Faina erklären würde. Schließlich hat er auch für alle anderen Menschen meist nur Verachtung übrig.

Das Thema Co-Parenting ist auch eines, über das ich noch nicht oft etwas gelesen habe. 

Leider sind sowohl die Asexualität als auch das Co-Parenting im Roman negativ konnotiert, weil Philipp kein positiv besetzter Charakter ist und das Co-Parenting sehr schnell zum Scheitern verurteilt ist. Auch Fainas Bisexualität wird in ihrem Fall zur Hypersexualität, weil sie bis zu ihrer Schwangerschaft ein überaus aktives Sexleben (sowohl privat als auch beruflich als Sexarbeiterin) führt. Hier werden die beiden queeren Lebensstile Ace und Bi zu Extremen stilisiert und letztlich gegeneinander ausgespielt. 

Man könnte sagen, “Geordnete Verhältnisse” ist ein utopischer Roman, denn er erzählt von einer Utopie, der Utopie der Normalität und ihrer gewaltsamen Dekonstruktion. Wir moderne Menschen des 21. Jahrhunderts wünschen uns manchmal nichts mehr als ein Leben, das sich durch Ordnung und Klarheit auszeichnet. Allzu oft wird uns dieser Wunsch aber verwehrt, sei es durch eine traumatische Kindheit oder toxische Beziehungen im Erwachsenenalter. Ein feministischer Roman ist dieses Buch ganz klar, denn es erzählt von einer Frau, die in einer sozialen, psychischen und materiellen Abhängigkeit zu einem Mann gefangen ist. Das Machtgefälle zwischen Frau und Mann wurde von Lana Lux’ präziser Prosa, die nicht selten auch Momente des Komischen enthält, gekonnt eingefangen. Zudem geht es darum, wie unsere Herkunft uns determiniert sowie um Fragen der Integration. Ein wirklich sehr gelungener Roman, den ich allen ans Herz legen möchte, die auch etwas härteren Lesestoff gut aushalten können.

Triggerwarnungen: Gewalt, Femizid, psychischer Missbrauch, Drogen, Alkohol 

Herzlichen Dank an Hanser Berlin und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

Samstag, 17. Februar 2024

"Krummes Holz" von Julja Linhof


Neulich habe ich in einem Feuilleton-Artikel gelesen, dass Romane, deren Handlung in einer ländlichen Gegend bzw. der Provinz angesiedelt ist, derzeit einen Boom erfahren würden. Erzähler:innen hätten die Natur und die rurale Umgebung als Schauplatz wiederentdeckt. Das Stichwort Heimatroman ist seit jeher eher negativ behaftet, erlebt aber im Bereich der Belletristik eine intellektuelle Umwidmung. Die Probleme und Traumata, die ein Aufwachsen auf dem Land neben der räumlichen Weite, die es bietet, auch bedeuten können, sind dann oft Gegenstand solcher Romane. Auch Julja Linhof hat sich in ihrem Debütroman "Krummes Holz (benannt nach einem Zitat von Kant, das sie ihrem Buch voranstellt), an das Thema Land herangewagt.

Die Handlung spielt völlig im ländlichen Nordrhein-Westfalen. Zum erzählten Zeitraum später mehr. Es geht um den 19-jährigen Jirka (eigentlich Georg). Der Internatsschüler war seit fünf Jahren nicht auf dem elterlichen Hof, auf dem sein Vater Georg, die demente Großmutter Agnes und die Schwester Malene leben. Auf dem landwirtschaftlichen Betrieb von Jirkas Familie wird vor allem Getreide angebaut, das Anbauen von Obst im großen Stil ist allerdings gescheitert.
Neben Georg, Malene und - zumindest früher- wechselnden Saisonarbeitern, arbeitet auch der knapp zehn Jahre ältere Leander auf dem Hof, der Sohn des ehemaligen Verwalters. Was zwischen Jirka und Leander in der Vergangenheit vorgefallen ist, erfahren wir stückchenweise. Auch die jeweils mit großen Problemen und gegenseitigen Verletzungen behaftete Beziehung Jirkas zu seinen Familienmitgliedern wird nach und nach deutlich. Erzählt wird die Geschichte einzig aus der Perspektive Jirkas. Die Gegenwartshandlung wird unterbrochen von Flashbacks, in denen der Protagonist gedanklich die Vergangenheit heraufbeschwört. Es sind Dinge, Orte, Räume und die Umgebung rund um das elterliche Haus, die diese Erinnerungen jeweils triggern und zum Vorschein bringen. Zeit wird fluide und was gestern oder heute ist und war wird immer mehr zu einem Ganzen: “Ich starre in den offenen Kühlschrank, während Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen und eins werden.” (S. 203)

Was mich etwas stört, sind die nicht vorhandenen Zeitangaben bzw. der kryptische Umgang damit. Ich bin kein großer Fan davon, wenn man sich in Romanen als Leser*in mühsam erarbeiten muss, in welchem Jahr oder gar Jahrzehnt man sich befindet. Natürlich gibt es versteckte Hinweise im Setting, die auf die 1980er Jahre hindeuten: Walkman, Wählscheibentelefone, Neue Deutsche Welle im Radio, Zwanzigmarkscheine im Geldbeutel. Aber es wird nicht eine Jahreszahl direkt genannt. Die demente Großmutter wird einmal von Jirka gefragt, welches Jahr wir haben, aber sie antwortet nicht. Warum solche Infos, die den Lesenden zur Orientierung dienen würden, ausgelassen werden, verstehe ich nicht. Warum um den Zeitpunkt der Handlung so ein Geheimnis machen? Thematisiert wird, dass Jirkas Vater im Krieg war und damit die Generation der Kriegsheimkehrer, die ihre Traumata nicht aufarbeiten konnten oder durften und stattdessen ihre Familie tyrannisierten. Gegessen darf nur, solange der Hausherr isst. Solche Sachen, die heute jeder als Psychoterror erkennt.

Dass mit Jirka ein queerer Protagonist erzählt wird, ist ein großes Plus dieses Romans. Auch hier wäre es interessant gewesen, etwas näher auf die gesamtgesellschaftliche Situation der Zeit einzugehen, schließlich wurden homosexuelle Beziehungen auf dem Land vor 30,40 Jahren noch anders gelebt als heute.

Bildgewaltig ist dieser Roman, auch wenn die Metaphorik manchmal etwas über das Ziel hinausschießt, was bei einem Debütroman nicht unüblich ist. Die Atmosphäre auf dem Land zur Erntezeit im Sommer wird sehr schön wiedergegeben, auch die Spannungen unter den Charakteren werden anschaulich ausgearbeitet.

Das Buch hat einen spröden Charme, der sich für mich erst im letzten Drittel vollends entfalten konnte. Vor allem die Beziehung zwischen Jirka und Leander hat mir sehr gut gefallen, leider endet der Roman genau an dem Punkt, wo es interessant geworden wäre. Das Ende in Bezug auf Georg hat dem ganzen Roman einen leicht grotesk-unrealistischen Anstrich verliehen, den ich nicht unbedingt gebraucht hätte.

Im Ganzen hat mir die Geschichte aber etwas gegeben und ich kann sie allen empfehlen, denen die Themen queere Liebe, Heimkehr und Provinzsetting am Herzen liegen.


Mittwoch, 14. Februar 2024

"Book Love" von Debbie Tung


Heute ist Valentinstag und ich habe beschlossen, einen Beitrag zu der Form der Liebe zu machen, die uns alle vereint. Egal welche sexuelle Orientierung wir haben, ob wir Single sind oder seit Jahren vergeben, ob wir Kinder und Familie haben, die wir lieben oder nicht. Die Liebe zu Büchern ist uns - zumindest hier bei #bookstagram - allen gemeinsam. Wer Bücher liebt, kann sich einer lebenslangen “Love Story” sicher sein und zudem Hunderte von Liebesgeschichten hautnah mit erleben.

Debbie Tung hat in ihrer Graphic novel “Book Love” (auf Deutsch unter demselben Titel bei Loewe Graphix erschienen) dieser Liebe ein Gesicht gegegeben und zwar in Form einer jungen Frau (ich würde sie so um die zwanzig schätzen), die Bücher und natürlich auch das Lesen über alles liebt. Dieses Buch ist einfach bezaubernd und ein Must Read für jeden Bücherwurm, das man - ohne Störungen - in weniger als einer Stunde verschlungen haben dürfte. Tung zeigt uns Szenen im Leben eines “Book Lovers”, die uns allen bekannt vorkommen dürften. Sie zeigt, was Bücher mit uns machen, welche emotionale Verbindung wir zu ihnen aufbauen können und welche Dramen daraus erwachsen, wenn der Beziehung “Book Lover” und Buch von der Außenwelt Steine in den Weg gelegt werden. Zum Beispiel in Form des Discount-Sticker, der nicht abgehen will und später Kleberückstände auf dem Cover hinterlässt (I'm also talking about you, Spiegel Bestseller!). Oder wenn wir am Lesen gehindert werden durch irgendeinen “Real Life Stuff”. Die Comics zeigen, dass wir durch Bücher klüger werden und allenfalls finanziell ärmer. Dass Bibliotheken und Buchläden unser zweites Zuhause sind. Dass wir einem Nervenzusammenbruch nahe sind, wenn wir bezüglich des Inhalts eines Buchs gespoilert werden. Die Schwächen von uns Bücherwürmern werden liebevoll karikiert: Brauchen wir ein und dasselbe Buch wirklich in mehreren Ausgaben? Müssen wir ein ausgelesenes Bibliotheksbuch nach der Rückgabe wirklich kaufen, weil es uns so gut gefallen hat, nur damit es bei uns im Regal rumsteht? Lesen wir lieber als uns mit gesellschaftlichen Konventionen auseinanderzusetzen? Die Antwort auf all diese Fragen lautet natürlich: Ja, meistens schon.
Das schönste Geschenk für uns Bücherwürmer sind natürlich Bücher, aber über die geschenkten Blumen freuen wir uns natürlich auch: Wir machen daraus ein tolles Buchfoto für Social Media. Gut dass uns Debbie Tung auch Buchtipps gibt (“Some Amazing Books”). Eins meiner Lieblingsbücher ist gleich das erste oben links auf der Empfehlungsliste - noch ein Grund “Book Love” zu lieben!

Also ich bin - passend zum Valentinstag - ganz verliebt in dieses Büchlein, das sich wirklich in jeder Bibliothek gut macht und das man immer wieder zur Hand nehmen kann und will. Lesen und freuen!


Donnerstag, 8. Februar 2024

"Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" von Haruki Murakami


Seit ich mich mit Buchbloggen beschäftige, schaue ich mit Faszination und Skepsis auf den Hype um den japanischen Autor Haruki Murakami. Die glühende, nahezu kultische Verehrung, die ihm zuteil wird, ist ein Phänomen, das ich sonst nur aus der Literaturwissenschaft kenne, wo diese Verehrung bereits lange verstorbenen klassischen Autor*innen entgegengebracht wird. Aber Murakami erfreut sich mit seinen frisch 75. Jahren zum Glück bester Gesundheit, sein Gesamtwerk ist (wahrscheinlich) noch nicht abgeschlossen und auch die jedes Jahr im frühen Oktober aufflammende Hoffnung, dass er nun endlich den Nobelpreis für Literatur erhalten möge, ist bei seinen Anhänger*innen noch nicht erloschen. Ich persönlich hatte bis zu “Die Stadt und ihre ungewisse Mauer” noch nichts von ihm gelesen. Im Haus meiner Mutter, wo die Bücher von mir lagern, die ich nicht unbedingt um mich haben muss, gilbt eine an die 20 Jahre alte englische Taschenbuchausgabe von “Kafka am Strand” vor sich hin. Wahrscheinlich habe ich während meines Studiums mal gehört, dass der Autor gut sein soll und es dann einfach nicht weiterverfolgt. 
Warum ich dann jetzt doch zum Bestseller und Hype-Buch des Jahres gegriffen habe? Die reine Neugier - und ein bisschen auch das omnipräsente Marketing sowie das Gefühl, ich könnte die beste Literatur des Jahres verpassen. Eigentlich wollte ich das Buch nach dem Kauf noch etwas länger auf dem SUB lassen, doch meine Tochter wollte unbedingt meine nächste Lektüre auswählen und wurde von dem pastellfarbenen Cover mit der schwarzen Schrift nahezu magisch angezogen. Und um Magie geht es ja auch in diesem Werk, wo das Irrationale zwischen dem Rationalen wie ein Fluss in seinem natürlichen Lauf hindurchfließt. Dieser Roman ist wie ein einziger großer surrealistischer Traum. Einer, den jemand bis ins kleinste Detail erinnert und aufgeschrieben hat. Nicht umsonst geht es ja in der Handlung um Traumleser und ein Archiv der Träume. Das Buch ist so vieles. Es ist kryptisch, skurril, kafkaesk, philosophisch, magisch, surreal. Es ist romantisch und melancholisch. Und noch so viel mehr.

Ich muss sagen, es hat ein wenig gedauert, bis ich mich in die Geschichte “reingefuchst” habe. Die imaginierte bzw. geträumte Story mit der Stadt innerhalb der Mauer wirkte auf mich sehr skurril und auch ein wenig befremdlich. Die Sache mit den Schatten trug noch mehr zu meiner Verwirrung bei, die Handlung in der Stadt ist eine einzige große Wiederholung und man hat das Gefühl, man würde sich zusammen mit den Figuren durch Wackelpudding bewegen. Ich dachte also schon: Murakami und ich, das wird nichts. Je mehr aber der Erzählstrang des Ich-Erzählers auf der “realen” Ebene ausgearbeitet wurde, desto mehr hat mir das Gelesene gefallen. Bei Teil II hatte mich dann der Sog erwischt und ich legte das Buch immer widerwilliger zur Seite. Das Ineinandergreifen von Magie und Realismus hat mich überzeugt und ich verstand immer mehr, warum Murakami so geliebt und verehrt wird.

Was mir auch sehr gefallen hat, war die Intertextualität und die vielen Metaebenen, die der Roman vorweisen kann. Murakamis Bücher werden ja häufig mit der Gattungszuschreibung “Magischer Realismus” in Verbindung gebracht. Gegen Ende des Romans (S. 557f) verwendet der namenlose Ich-Erzähler den Begriff quasi selbstreferenziell in Bezug auf “Die Liebe in Zeiten der Cholera” von Gabriel García Márquez, das seine Freundin aus dem Coffeeshop liest. Da der Ich-Erzähler als Buchhändler bzw. später als Bibliothekar arbeitet, kommen solche Referenzen häufig vor und auch literarische Vorbilder von Murakami, wie z.B. Kafka, werden im Laufe der Handlung erwähnt.

Und aus diesen Grund möchte ich diesen Leseeindruck - denn eine fundierte Rezension dieses 631 Seiten starken, von Ursula Gräfe kongenial übersetzten Werks traue ich mir nicht zu, da ich einfach keine Murakami-Kennerin bin - mit den Worten eines Dichters abschließen. Murakami hat seinem Roman ein Zitat aus “Kubla Khan” von Samuel Taylor Coleridge vorangestellt. Seltsamerweise habe ich auch oft, während ich den Roman gelesen habe, an ein Gedicht von Coleridge denken müssen. Dieses Gedicht ist für mich die Essenz dessen, welches Gefühl es erzeugt, “Die Stadt und ihre ungewisse Mauer” zu lesen und zu verinnerlichen.

What if you slept
And what if
In your sleep
You dreamed
And what if
In your dream
You went to heaven
And there plucked a strange and beautiful flower
And what if
When you awoke
You had that flower in your hand
Ah, what then?

(Samuel Taylor Coleridge)

Bin ich jetzt auch Murakami-Fan? Jein. Ich glaube nach diesem Roman bin ich erstmal vorsichtig interessiert, mehr von ihm zu lesen.