Kafka - sein Tod jährt sich dieses Jahr ja zum 100sten mal - schrieb in einem seiner Briefe, “man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen [...] [und] mit einem Faustschlag auf den Schädel” wecken. Ich weiß nicht, ob sich Lana Lux dieses Zitat besonders zu Herzen genommen hat, als sie ihren dritten Roman “Geordnete Verhältnisse” geschrieben hat. Jedenfalls musste ich an diese Worte denken, als ich den Roman beendet hatte. Das Buch ist nämlich eines, das bei manchen Lesenden eine solche drastische Wirkung zu haben vermag. Es ist ein unbequemer und verstörender Roman über zwei Menschen, die eine neue Form des Zusammenlebens, der zwischenmenschlichen Koexistenz ausprobieren und letztlich an ihren eigenen Persönlichkeiten, die von Kindheitstraumata und psychischen Krankheiten beherrscht werden, scheitern.
Es geht um die beiden Protagonist:innen Philipp und Faina, die einander seit ihrer gemeinsamen Grundschulzeit alles bedeuten. Vor allem Philipp ist auf Faina bis zur Obsession fixiert. Philipp wächst zunächst in Gelsenkirchen bei seiner Tante und deren Familie auf, da seine eigene Mutter alkoholkrank ist und nicht für ihn sorgen kann. Als er sechs Jahre alt wird, holt ihn diese zu sich und die gemeinsame Zeit mit ihr ist von Höhen, aber noch weitaus mehr von Tiefen geprägt. In der dritten Klasse lernt er Faina kennen, die aus der Ukraine stammt und seit wenigen Monaten mit ihrer jüdischen Familie in Deutschland lebt.
Nicht nur eine imminente Seelenverwandtschaft und der jeweils bei beiden unterschiedlich ausgeprägte dysfunktionale Familienhintergrund ist es, der die Außenseiter:innen miteinander verbindet, sondern auch ihr äußeres marginalisiertes Erscheinungsbild: Sie sind beide von Natur aus rothaarig, sommersprossig und extrem hellhäutig, eine Steilvorlage für Mobbing seitens der Mitschüler:innen und in Philipps Fall sogar der eigenen katholischen Tante, die in ihm den reinkarnierten Satan zu erkennen vermag. Philipp und Faina beginnen eine Freundschaft, die mit zunehmendem Alter der beiden in eine Schieflage gerät, sprich: Aus der Freundschaft wird eine toxische Abhängigkeit voneinander, die zusammen mit Philipps Hang zur Aggressivität eine fatale Mixtur ergeben. Als die bisexuelle Faina nach einem Auslandsaufenthalt von einer Affäre schwanger wird und sich von ihrer Lebensgefährtin trennt, bietet sich für den asexuellen Philipp die Möglichkeit, mit Faina eine Familie nach dem Modell des Co-Parenting zu gründen. Wird sich sein Wunsch nach “geordneten Verhältnissen” erfüllen? Wer die Autorin Lana Lux und ihre Werke kennt, kann sich sicher sein, dass die Antwort auf diese Frage nur “nein” lauten kann.
Ich hatte etwas Probleme die Chronologie der Beziehung von Philipp und Faina richtig zu erfassen. Da die meisten Ereignisse rückblickend erzählt werden, wird viel ausgelassen, was man sich beim Lesen erschließen muss. Manche Dinge werden nicht richtig erklärt und entweder ist die Logik bzw. Reihenfolge der Handlungselemente falsch oder ich habe es nicht richtig verstanden. Irgendwie dachte ich anhand ihrer erzählten Gedanken, Faina wurde Anfang 2012 schwanger (weil sie sowas sagt wie das Jahr 2012 wäre auch schon auf dem Weg ein schlechtes zu werden und da war es April 2012). Und dann ist es aber im nächsten Kapitel Sommer 2013 und sie ist im 6. Monat. Philipp erzählt außerdem, dass sie nach einem Scan nach Hause gekommen sei und gesagt habe, das Baby sei ein Junge. Später erfahren wir aber, dass sie ein Mädchen bekommen hat. Wieso, weshalb, warum wird nicht erklärt, also ob sich die Ärztin geirrt oder Faina ihn angelogen hat. Philipps Geburtstag, gleich im ersten Satz genannt, ist der 3. März und Faina sagt später bei dem Code zum Kleiderschrank 1303, dass das sein Geburtstag sei. Ich weiß bei solchen Logik- Inkongruenzen immer nicht, ob es Fehler des Lektorats sind, oder ob ich irgendetwas nicht kapiere.
Wie auch immer, die Story ist hoch interessant und originell, weil sie Aspekte in sich vereint, die für mich in der aktuellen Belletristik noch nicht sehr prominent stattfinden. Zum Beispiel einen männlichen Protagonisten zu präsentieren, der asexuell ist. Es wird im Buch leider - anders als bei Fainas Bisexualität - nicht explizit so genannt, aber aus Philipps Gedankenstrom und seinen Handlungen kann man das ganz klar so herauslesen. Sexualität ist für ihn ein Graus und eine niedere widerwärtige Handlung, die er nicht mal mit Faina möchte, der einzigen Person, die er auf Dauer ertragen kann. Er “liebt” sie auf einer Ebene, die jenseits aller Körperlichkeit liegt. Er sagt einmal so in etwa, er sieht sie als externalisierten Teil von sich selbst. Im Grunde liebt er also wahrscheinlich nur sich selbst, was auch sein aggressives Verhalten gegenüber Faina erklären würde. Schließlich hat er auch für alle anderen Menschen meist nur Verachtung übrig.
Das Thema Co-Parenting ist auch eines, über das ich noch nicht oft etwas gelesen habe.
Leider sind sowohl die Asexualität als auch das Co-Parenting im Roman negativ konnotiert, weil Philipp kein positiv besetzter Charakter ist und das Co-Parenting sehr schnell zum Scheitern verurteilt ist. Auch Fainas Bisexualität wird in ihrem Fall zur Hypersexualität, weil sie bis zu ihrer Schwangerschaft ein überaus aktives Sexleben (sowohl privat als auch beruflich als Sexarbeiterin) führt. Hier werden die beiden queeren Lebensstile Ace und Bi zu Extremen stilisiert und letztlich gegeneinander ausgespielt.
Man könnte sagen, “Geordnete Verhältnisse” ist ein utopischer Roman, denn er erzählt von einer Utopie, der Utopie der Normalität und ihrer gewaltsamen Dekonstruktion. Wir moderne Menschen des 21. Jahrhunderts wünschen uns manchmal nichts mehr als ein Leben, das sich durch Ordnung und Klarheit auszeichnet. Allzu oft wird uns dieser Wunsch aber verwehrt, sei es durch eine traumatische Kindheit oder toxische Beziehungen im Erwachsenenalter. Ein feministischer Roman ist dieses Buch ganz klar, denn es erzählt von einer Frau, die in einer sozialen, psychischen und materiellen Abhängigkeit zu einem Mann gefangen ist. Das Machtgefälle zwischen Frau und Mann wurde von Lana Lux’ präziser Prosa, die nicht selten auch Momente des Komischen enthält, gekonnt eingefangen. Zudem geht es darum, wie unsere Herkunft uns determiniert sowie um Fragen der Integration. Ein wirklich sehr gelungener Roman, den ich allen ans Herz legen möchte, die auch etwas härteren Lesestoff gut aushalten können.
Triggerwarnungen: Gewalt, Femizid, psychischer Missbrauch, Drogen, Alkohol
Herzlichen Dank an Hanser Berlin und vorablesen für das Rezensionsexemplar!
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