Samstag, 30. September 2023

"Feuer" von Maria Pourchet


Von Gustave Flaubert über André Bréton (der den Begriff 1937 "erfand") bis Leïla Slimani - die "Amour Fou" ist ein Lieblingsmotiv der französischen Literatur. Auch Maria Pourchet hat sich in "Feuer" (Frz. "Feu", übersetzt von Claudia Marquart, erschienen bei @luchterhand_verlag) diesem Thema gewidmet. 

Laure ist 41 Jahre alt und Literaturprofessorin (ja, sie ist in der internationalen Literaturgeschichte als Protagonistin nicht allein mit diesem Job, wie ich immer zu betonen pflege) an einer Pariser Universität. Sie hat eine 17-jährige Tochter, Véra, Ergebnis eines One-Night-Stands, die sie viele Jahre alleine erzogen hat. Mit Anton, einem Arzt, ist Laure seit einigen Jahren verheiratet. Mit ihm hat sie nochmal eine Tochter bekommen, Anna, die in die Grundschule geht. Die über Jahre aufgebaute Patchworkidylle beginnt zu bröckeln: Véra, die als Freigeist und Feministin den Unterricht sabotiert und schwänzt, sorgt für Probleme. Ihr Abitur ist in Gefahr. Außerdem liebt Laure ihren pragmatischen Ehemann Anton nicht mehr, die Leidenschaft ist auf der Strecke geblieben.
Für ein Kolloquium über "unsere Epoche" sucht Laure einen Banker, der über die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftswelt referieren soll. Sie trifft auf Clément. Der knapp Fünfzigjährige hat im Leben nichts, außer seinem Berner Sennenhund "Papa", eine religiöse alte Mutter und sehr viel Geld, mit dem er nichts anzufangen weiß. Es kommt, wie es kommen muss: Die beiden beginnen eine Affäre, die zum Wendepunkt ihrer beiden Leben werden soll…

Die Handlung des Romans spielt hauptsächlich während des ersten Corona-Jahres. Masken am Restauranttisch sind Pflicht, es wird von Ansteckungsgefahr, FFP2-Masken und neuen Virusvarianten gesprochen. Eigentlich eine Situation, die eine spontane Affäre nahezu unmöglich macht. Was ich sehr ungewöhnlich und lebensnah fand, ist die Tatsache, dass einfach mal thematisiert wird, dass es per se schon schwierig genug für eine verheiratete Frau mit zwei Kindern und Vollzeitjob ist, eine Affäre logistisch in die Tat umzusetzen - von Corona mal abgesehen. Zumal Laure auch noch in einem Vorort wohnt, der eine Stunde mit der Bahn entfernt ist, die Affäre und ihr Job als Professorin aber in Paris stattfinden. Außerdem sind sie von Anfang Juli bis August drei Wochen im Familienurlaub in Italien, den Laure am liebsten "schwänzen" würde, um bei ihrem Geliebten in Paris zu bleiben…

Was an diesem Roman besonders ist: Der Mann ist nicht der aktive Part. Er ist nicht derjenige, der die Affäre vorantreibt, unbedingt möchte. Es findet sozusagen eine Rollenumkehr statt. Der männliche Part hat Probleme mit dem tatsächlichen Akt, der langjährige Konsum von Internet-Pornos zollt seinen Tribut. Teilweise wird Laure Clément gegenüber sogar übergriffig, drängt ihm zum Sex. Laure steht unangemeldet vor seiner Tür, wenn Clément einfach nur einen ruhigen Samstag mit Joggen, Pornos und seinem kranken Hund verbringen will. Um die Unterschiedlichkeit ihrer Hauptcharaktere zu unterstreichen, benutzt Pourchet die allegorischen Gegensätze Feuer und Eis. Laure ist gleichzusetzen mit Feuer, sie "brennt" für die Affäre, während Clément, der bei der "EisBank" arbeitet, für die Kälte bzw. Eis steht. Sie sagt ihm, dass sie ihn liebt, er ist "emotional nicht verfügbar", wie man in amerikanischen Datingshows sagen würde.

Was macht diesen Roman so gut? Immerhin war er für den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis, nominiert. Er ist ein schonungsloser Kommentar auf "unsere Epoche" und ihre vielen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten, vor allem auch im Zwischenmenschlichen. Nicht nur die Corona-Situation macht es schwierig, Bindungen mit anderen Menschen einzugehen. Wir selbst sind es, die uns oft die größten Steine in den Weg legen. Auch die Erzählweise dieses Romans ist ungewöhnlich und sehr experimentell. Es wird abwechselnd aus Laures und Cléments Sicht erzählt. Laures Geschichte wird in der zweiten Person erzählt, die Erzählinstanz spricht Laure mit "Du" an. Die Du-Anrede erzeugt zugleich Unmittelbarkeit und Distanz. Cléments Innensicht bekommen wir aus der Ich-Perspektive dargeboten und zwar erzählt er die Geschichte seinem todkranken Hund. Bei der Ich-Perspektive ist es das teilweise Stakkato-Hafte des Inneren Monologs, das fasziniert. Wobei durch den Adressaten der Erzählung eine gute Portion Skurrilität hinzukommt.

"Feuer" ist ein sehr komplexer Roman, der viel möchte, aber auch viel erreicht. Das Ende war mir etwas zu skurril und hat viele Fragen offen gelassen, vor allem was die mentale Gesundheit von Clément angeht. 
Herzlichen Dank an das Bloggerportal von Randomhouse für das Rezensionsexemplar! Ich weiß das wirklich zu schätzen.


Dienstag, 26. September 2023

"Infamous" von Lex Croucher

London um 1818 (Mary Shelley hat zum Zeitpunkt der Handlung "Frankenstein" bereits geschrieben und Lord Byron lebte noch): Die 22-jährige Edith (genannt Eddie) Miller wünscht sich nichts mehr als Schriftstellerin zu werden. Ihre beste Freundin Rose Li, mit der sie in letzter Zeit immer öfter Küssen "übt", möchte schnellstmöglich heiraten, sie weiß nur noch nicht, wen. Als Edith ihren Jugendschwarm, den berühmt-berüchtigten Dichter Nash Nicholson kennenlernt, kann sie ihr Glück kaum fassen: Er ermutigt sie, ihren Roman zu vollenden und lädt sie zu diesem Zweck ein, den Herbst mit ihm und seiner Künstler-Entourage auf seinem Landsitz zu verbringen. Dieser entpuppt sich als auf einer winzigen Insel gelegenes Herrenhaus, das schon bessere Tage gesehen hat. Verwunschener Gothic-Flair und die Gesellschaft von Künstlern - was will man mehr, um Inspiration zu erlangen? Dass Rose und ihr Verlobter, der Kaninchen züchtende Gentleman Albert Rednock, ebenfalls eingeladen wurden, lässt Eddies Herz - zumindest im Fall von Rose - höher schlagen. Doch im Laufe der Zeit mehren sich die Zeichen, dass Nash nicht der ist, der er zu sein vorgibt. Und Eddie beginnt sich zu fragen, ob es ihm wirklich nur darum geht, der Mentor einer aufstrebenden jungen Schriftstellerin zu sein…

Während Crouchers erster Roman "Reputation" die Persiflage eines klassischen Jane-Austen-Romans war, wo u.a. gesellschaftliche Konventionen und der Heiratsmarkt der damaligen Zeit karikiert wurden, ist "Infamous" eine ironische Auseinandersetzung mit den "Romantic Poets". Byron, Keats, die Shelleys, etc., waren ein unkonventioneller Gegenentwurf zum damaligen Establishment. Sie machten nicht nur Kunst, ihr Leben sollte auch als künstlerischer Akt verstanden werden. Nash Nicholson, der Protagonist von "Infamous" ist ganz klar nach dem Vorbild der Romantic Poets gezeichnet. Natürlich hat der extrovertierte Dichter auch eine Meinung zu seinem Konkurrenten Lord Byron. Er hasst seinen ehemaligen Schulkamerad nämlich, weil dieser als Dichter um einiges erfolgreicher ist als der wahrscheinlich nicht minder gutaussehende Nash. Eddie hingegen ist als Protagonistin sehr geradlinig: Sie weiß was sie will, zumindest was ihre schriftstellerischen Ambitionen betrifft. Dass ihre Beziehung zu Rose mehr sein könnte als Freundschaft, will sie sich aber zunächst nicht eingestehen.

Wie bereits in "Reputation" geht es auch in "Infamous" um toxische Männlichkeit, Mansplainig und hegemoniale Männlichkeit. Der gönnerhafte Schriftsteller, der die weibliche Kollegin nicht wirklich ernst nimmt und eigentlich ganz andere Motive hat. Anhand von positiv besetzten männlichen Charakteren wird aber auch aufgezeigt, dass es auch anders geht. Außerdem haben wir - wie immer bei Croucher - queere Figuren, auch die Protagonistin Eddie ist bisexuell. 

Ein wirklich schöner, amüsanter und anspruchsvoller historischer Unterhaltsroman über die Herausforderungen einer (queeren) weiblichen Schriftstellerin im frühen 19. Jahrhundert. Für alle, die diesen Themenkomplex mögen, sehr empfehlenswert.




Montag, 25. September 2023

In eigener Sache: Interview bei Leserkanone.de

Wer hätte gedacht, dass ich mal ein Interview geben darf? Vielen Dank an das Team von Leserkanone, dass ihr auf mich zugekommen seid. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht.

Das Ergebnis gibt es hier:


Mittwoch, 20. September 2023

"The Lamplighters" von Emma Stonex


Der Beruf des Leuchtturmwärters gehört der Vergangenheit an. Längst hat die Technik den Menschen aus diesem seltenen und auch etwas seltsamen, von vielen Menschen romantisch verklärten Job verdrängt. Leuchttürme gibt es noch, aber Menschen wohnen und arbeiten - bis auf ganz wenige Ausnahmen - nicht mehr in ihnen, auch wenn es uns so mancher moderne Liebesroman (à la Städterin in Lebenskrise renoviert Cottage in Irland und trifft total gutaussehenden, aber abweisend wirkenden Leuchttumwächter) gerne vorgaukeln möchte.

Dass der Beruf alles andere als romantisch ist, wird im Roman "The Lamplighters"/"Die Leuchtturmwärter" von Emma Stonex von Anfang an klar gemacht. Aus der Perspektive der drei Leuchtturmwärter Arthur (um die fünfzig), Bill (Mitte dreißig) und Vince (Anfang zwanzig) erfahren wir vom wahren Alltag eines Leuchtturmwächters im Jahr 1972 an der Küste Cornwalls. Damals war die Technik schon weit fortgeschritten, aber noch nicht so weit, dass es keiner bemannten Leuchttürme mehr bedurfte. Stonex beschreibt sehr gut den streng getakteten Alltag der Männer und das klaustrophobische Gefühl der Enge. Wie in einem Gefängnis können die Männer den Turm wegen dessen exponierten Lage im Meer nicht einfach so verlassen. Sie sind aufeinander angewiesen und müssen den jeweils anderen blind vertrauen. Es gibt keinen, der für ihre psychische oder physische Gesundheit sorgt, außer sie selbst.

Aber dies ist kein fiktiver Erlebnisbericht über das Leben auf einem Leuchtturm. Die drei Männer verschwanden im Dezember 1972, wenige Tage vor dem neuen Jahr und bevor Bill wieder für einige Zeit an Land durfte, spurlos aus dem Leuchtturm. Dieser kann nur durch ein Boot angefahren werden. Die schwere Tür ist von innen verriegelt, beide Uhren sind um 8.45 Uhr stehen geblieben, es ist ein Tisch für zwei gedeckt und im Logbuch steht ein Sturm, der so nicht stattgefunden hat. Ein Regenmantel von drei hängt noch an seinem Haken. (Das alles klingt höchst mysteriös, der Roman basiert aber tatsächlich auf einer wahren Geschichte, die sich 1900 auf einer unbewohnten schottischen Insel zugetragen haben soll: Auch hier verschwanden drei Wächter spurlos aus ihrem Leuchtturm.)

20 Jahre später, im Jahr 1992, will ein Autor von maritimen Spannungsromanen ein Buch über das "Maiden Rock Mystery" schreiben. Helfen sollen ihm dabei die drei Frauen, die die Männer damals an Land zurück ließen: Helen, Ehefrau von Arthur, Jenny, Ehefrau von Bill und Michelle, Verlobte von Vince. Anhand der Ich-Perspektiven der drei Frauen sowie aus den Vergangenheits-Ich-Perspektiven ihrer drei Männer werden nach und nach die Geschichten dieser sechs Menschen enthüllt.

Durch das multiperspektivische Erzählen wird eine komplexe Spannung erzeugt. Auch ich wollte unbedingt wissen, wie die Geschichte aufgelöst wird. Allerdings ist die Handlung - bei aller Spannung - unglaublich deprimierend, zumindest für mich. Im Englischen gibt es ein Wort, was meiner Meinung nach perfekt zu diesem Buch passt: Es ist "bleak", also trist, trostlos. Mit jedem Kapitel wird das Ausmaß der Tragödie dieser sechs miteinander verwobenen Menschen immer größer und größer. Eigentlich müsste über dem Buch eine riesige Triggerwarnung stehen, denn kaum ein traumatisches Geschehen wird hier ausgespart. 

Wenn eine Lektüre einen total runterzieht und man das Gefühl hat, man wird mit den Figuren zusammen in einen Abgrund gerissen, dann kann ich so einen Roman nicht guten Gewissens empfehlen. Das war leider nix für mich.

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Donnerstag, 14. September 2023

"A Single Man" von Christopher Isherwood


"A Single Man" - Ich kannte den Film mit dem wunderbaren Colin Firth von 2009, allerdings habe ich leider bereits fast alles von der Handlung vergessen. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, ob ich den Film nicht nur zur Hälfte gesehen habe. Jedenfalls erzählt im Vorwort dieser Ausgabe Tom Ford, der Regisseur des Films, von seiner Begegnung mit dem Roman, aber auch mit dessen Autor Christopher Isherwood (1904-1986) selbst. "Never meet your heroes" könnte man sagen, denn Isherwood nahm bei der kurzen Begegnung kaum Notiz von seinem "Fan" Tom Ford.

In "A Single Man" erzählt Isherwood die Geschichte eines Trauerprozesses. Er erzählt davon, was von einem bleibt, wenn der jahrzehntelang geliebte Mensch plötzlich tot ist. 

Wir befinden uns im Kalifornien des Jahres 1962. Unser Protagonist George hat vor Kurzem seinen Lebensgefährten Jim durch einen Verkehrsunfall verloren. George, gebürtiger Brite und Anfang Fünfzig, ist Literaturprofessor (ja, ja, die LiteraturprofessorInnen in der Literatur, nicht gerade eine Minderheit…) an einer kleinen Uni. Wir erfahren etwas über seine StudentInnen (er hat zu jedem/r eine Meinung), weil wir ihn zu einem Seminar, das er abhält, begleiten. Er und Jim haben ein schönes, kleines Haus bewohnt, das von der Nachbarschaft abgetrennt, nur über eine Brücke zu erreichen ist. Geblieben ist George nur noch die Freundin Charley, ebenfalls Engländerin, von ihrem Ehemann getrennt und vom Flügge gewordenen Sohn frisch zurückgelassen worden. 

George ist kein sympathischer Protagonist. Er ist neurotisch, selbstgefällig, rassistisch, boshaft, eitel und verbittert, hegt Gewaltfantasien und verdächtigt fast alles und jeden, niedere Motive zu haben und latent homophob zu sein. Sobald George aber mit Wehmut an seinen verstorbenen Lebenspartner Jim denkt, wendet sich das Blatt. Er wird plötzlich zu einer menschlichen, zutiefst verletzlichen Person, die man einfach nur in den Arm nehmen und drücken möchte. Vor allem wenn alltägliche Situationen wie Einkaufen gehen und ein gemütlicher Leseabend auf der Couch in ihm schmerzvoll-schöne Erinnerungen an die gemeinsame Zeit entfachen und ihn sich seiner Einsamkeit nur allzu bewusst werden lassen.

Dafür, dass wir uns nicht zu sehr von Georges Trauer einnehmen oder von seinem perfiden Witz und seiner Ironie betören lassen, sorgt die auktoriale Erzählinstanz. Sie unterbricht die Passagen, in denen wir uns in Georges Gedanken befinden, immer mal wieder für kommentierende Betrachtungen seines Verhaltens. So wie George andere bewertet und in Schubladen steckt, wird er vom Erzähler seinerseits bewertet und dieser fordert die lesende Person auf, es ihm gleichzutun - eine Erzähler-Leser-Komplizenschaft gegen den Protagonisten? Es scheint so.

Was mich für dieses Buch wieder total eingenommen hat, ist die Tatsache, dass die Handlung an nur einem Tag und der darauf folgenden Nacht stattfindet. Sowas zieht mich immer magisch an, ich weiß auch gar nicht so richtig, warum. Vielleicht weil es die Essenz eines Lebens erzählerisch zu kondensieren versucht, was weiß ich.Ich mag es jedenfalls, was nicht heißt, dass ich keine Romane mag, in denen sich die Handlung über mehrere Jahre und Jahrzehnte erstreckt. 

"A Single Man" ist mit Sicherheit einer der ersten Romane - wenn nicht der erste - der eine gleichberechtigte schwule Lebenspartnerschaft im bildungsbürgerlichen Milieu erzählt. Zwei Männer, die wie in einer Ehe (nur ohne Trauschein) zusammenleben. Natürlich nicht ganz ohne Probleme, denn Jim war zuvor mit einer Frau verheiratet, auch sie kommt im Roman vor.

Der Roman ist mit Sicherheit auch ein spannendes Zeitdokument für das Amerika der frühen 1960er Jahre. Die politische Situation des Kalten Krieges mit der Angst vor Kommunisten und Nuklearschlägen schwingt im Text mit. Die Kuba-Krise im Herbst 1962 wird von Isherwood, der das Buch 1964 herausbrachte, indirekt mit reflektiert. Lesenswert.



Sonntag, 10. September 2023

"Zwei Wochen am Meer" von R.C. Sherriff


Erstmal gilt mein Dank der wunderbaren Schmökerbox, ohne deren Sommeraktion ich diesen Roman wahrscheinlich nie gelesen hätte. Und da wäre mir wirklich was entgangen. 

Der Roman "Zwei Wochen am Meer" ist 92 Jahre alt, so alt wie meine Oma es dieses Jahr noch wird. Er stammt von einem englischen Autor namens R. C. Sherriff (1896-1975), der mir ebenfalls bis dato nichts gesagt hat. Er verdiente sein Geld zunächst als Versicherungsbeamter und Dramatiker, später schrieb er in Hollywood Drehbücher. Karl-Heinz Ott, der Übersetzer dieser deutschen Neuausgabe, hat sein Leben im Nachwort nachgezeichnet und auch eine kleine Abhandlung über den Roman selbst verfasst. Sehr lesenswert, ich versuche trotzdem in meinen eigenen Worten etwas über das Buch zu sagen.

Die äußere Handlung dieses Romans ist alles andere als spektakulär: Wir begleiten Familie Stevens bei ihren jährlichen Ferien Anfang bis Mitte September - also genau zur jetzigen Jahreszeit - in Bognor Regis, einem englischen Seebad an der Südküste. Sie kommen hier seit ihrer Hochzeitsreise vor zwanzig Jahren jedes Jahr zur gleichen Zeit her. Immer steigen sie in der gleichen Pension, dem "Seaview" ab, die seit Jahren nicht wirklich modernisiert wurde. Die Familie besteht aus Mr. und Mrs. Stevens (er ist in seinen frühen Fünfzigern, sie in ihren späten Vierzigern, wenn ich richtig gerechnet habe), der Tochter Mary (20), dem Sohn Dick (17) und dem "Nachzügler" Sohn Ernie (10). Die Familie kommt aus der unteren Mittelschicht, sie hat ein bescheidenes Haus in einem Vorort von London. Mr. Stevens ist Büroangestellter in einem Lagerhaus, Mrs. Stevens Hausfrau. Die Tochter hat einen Job als Näherin/Verkäuferin in einem Modeladen, Sohn Dick hat seit Kurzem eine von seinem Vater vermittelte Stelle als Verkäufer in einem Schreibwarenladen. "Ich wollte über einfache Menschen schreiben, die normale Dinge tun", so Sherriff (Nachwort, S. 343).

Genau das Tun dieser "normalen Dinge", die Routinen, die wir alle erledigen müssen, bevor wir in die Ferien fahren und wenn wir bereits dort sind, macht tatsächlich den Reiz dieses Romans zum Großteil aus. Das Spannende ist: Was empfinden die Figuren vor und während dieser Ferien? Wie fühlen sie sich beim Verrichten alltäglicher Handlungen, wie dem Abschließen des Gartenschuppens, dem Aushändigen des Kanarienvogels an die einsame Nachbarin, dem Umstiegs-Aufenthalt auf dem Bahnhof Clapham Junction, der Mrs. Stevens regelmäßig in Angstzustände versetzt…Während die beiden großen Kinder der Stevens' über ihre Zukunft und ihre Gegenwart nachdenken, hängen Mr. und Mrs. Stevens gedanklich oft in der Vergangenheit fest. Über allem liegt eine gewisse Wehmut. Die Gewissheit, dass es die Ferien in dieser Familienkonstellation das letzte Mal geben könnte, hat sich zumindest bei den älteren Kindern schon im Bewusstsein festgesetzt, während die Eltern nur die Befürchtung hegen. Der abgewohnte Zustand des Hotels, der schlechte Gesundheitszustand der Inhaberin, das Flügge-werden der Kinder, das alles sind Anzeichen dafür, dass eine Ära zu Ende gehen könnte. Ob die Stevensens nächstes Jahr wiederkommen werden, erfahren wir leider nicht.

In diesem Roman geht es auch um die kleinen Entscheidungen, die wir treffen, die so große und nachhaltige Auswirkungen auf unser Leben haben können. Soll man sich die große, teurere Strandhütte mit Veranda leisten, um einen sehr viel komfortableren Urlaub zu haben als ohne diese zusätzliche Luxusausgabe? Auch die Vergangenheit wird in dieser Weise reflektiert. 

Mr. Stevens stellt sich in einem Kapitel, in dem er über seine Frau nachdenkt, einige "Was-wäre wenn-Fragen", die sich für ihn als schicksalhaft erwiesen haben: Was wäre, wenn er nicht von seinem Arbeitskollegen gefragt worden wäre, ob er das Musical besuchen möchte, in dem seine Schwester mitspielt. Er hätte wahrscheinlich nie seine Frau kennengelernt, die als Freundin der Schwester ebenfalls als Laiendarstellerin mitwirkte. Welches Leben würde man leben, wenn man nur eine Kleinigkeit anders gemacht hätte? Eine Frage, die ich mir auch selbst oft stelle.

In unserer schnelllebigen Zeit, in der wir immer schneller "herausragende Ereignisse" präsentieren sollen, die nach 24 Stunden schon Schnee von gestern sind, tut ein solcher "leiser" Roman, in dem es um nichts anderes geht als das normale Leben und seine Routinen, unglaublich gut. Der von mir seit vielen Jahren hochgeschätzte Kazuo Ishiguro hat den Roman während des ersten Corona-Lockdowns als Wiederentdeckung empfohlen. Die Parallelen zu seinem wundervollen Roman "Was vom Tage übrigblieb" werden vom Übersetzer im Nachwort nochmal beleuchtet. Eine rundum lesenswerte Geschichte aus einer anderen Zeit, aber doch so zeitlos und allgemeingültig, dass jede/r etwas darin zu finden und wiederzuerkennen vermag. 100%ige Leseempfehlung.



Donnerstag, 7. September 2023

"Die Erfindung des Lächelns" von Tom Hillenbrand


Obwohl ich selbst schon wie Millionen andere im Louvre vor der "Mona Lisa" stand und versucht habe, einen Blick durch die Menschenmenge auf sie zu erhaschen, habe ich mir nie wirklich Gedanken über die Provenienz des wohl berühmtesten Gemäldes der Welt gemacht. Dass Napoleon sie in seinem Schlafzimmer aufhängen ließ und dass sie 1911 gestohlen wurde und zwei Jahre lang als verschollen galt, wusste ich bis vor Kurzem gar nicht. Anscheinend war es der Raub, durch den die "Gioconda" den Status des berühmtesten Gemäldes der Welt erst endgültig manifestierte.

Tom Hillenbrand, den ich bislang nur von seinen Kulinarik-Krimis kannte, hat dieses Ereignis zum Zentrum seines historischen Romans gemacht.
Wie er im Nachwort sagt, orientierte sich der Autor am tatsächlichen Geschehen rund um den Raub. So erzählt er aus der Perspektive des Diebes, des italienischen Handwerkers Vincenzo Perrugia. Dieser arbeitete manchmal als Glaser im Louvre. Diese Gelegenheit und die Überzeugung, dass das Bild in sein Heimatland Italien gehöre, machten ihn zum Dieb.

Der Autor versammelt in seinem ambitionierten Gesellschaftsroman illustre Künstlerpersönlichkeiten der Realhistorie. Manchen begegnen wir nur flüchtig, wie Amedeo Modigliani, George Braques oder Henri Matisse. Sie sind in der Handlung lediglich Statisten. Ein anderer aber, ungleich berühmterer Maler, ist Protagonist, nämlich der 1911/1912 noch ganz junge Pablo Picasso. Zusammen mit dem Dichter Guillaume Apollinaire, der ebenfalls als Figur vorkommt, wurde er tatsächlich des Raubes der "Mona Lisa" verdächtigt.

Auch die Tänzerin Isadora Duncan ist eine Protagonistin im Roman. Sie beginnt eine Affäre mit der russischen Schneiderin Jelena, die außerdem Kommunistin ist. Jelena wird Mitglied der "Bonnot Bande", die 1911/1912 tatsächlich anarchistische Anschläge in Frankreich begann.

Hillenbrands Protagonisten und Protagonistinnen stellen sich existenziell bedeutsame Fragen: Was ist der Preis des Kampfes um eine gerechte Verteilung aller Güter? Imitiert das Leben die Kunst oder ist es umgekehrt? Welchen Wert haben unverkäufliche Bilder? Und: Sollte ich nicht lieber weniger Absinth trinken? ;-)

Der Aufhänger, Raub der "Mona Lisa", befindet sich in diesem Roman im Spannungsfeld sehr vieler Themenbereiche, die angeschnitten werden. Zunächst wären da die "-Muse(n)": Anarchismus/Kommunismus, Okkultismus/ Spiritismus, Expressionismus/Kubismus. Dazu kommen noch der Ausdruckstanz, den Isadora Duncan betreibt sowie die neuesten Verfahren der Kriminologie wie die Bertillionage. Außerdem geht es um die Museumsgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts (Zustand des Louvre, Verfahren der Museologie), Schriftstellerei, Journalismus und Wirtschaftsgeschichte der Zeit.
Es werden also sehr viele Themenbereiche hier in den Raum bzw. den Roman geworfen. Das fand ich teilweise ein bisschen "too much". Alles wird nur angerissen und nicht wirklich ausgezählt, obwohl der Roman sehr lang ist. Manches hätte ich gerne noch eingehender verfolgt, vieles halte ich für redundant. 

Obwohl es um einen Raub geht, es (Spoiler) einige Tote gibt und allerlei Verbrechen und es mit Juhel eine Ermittlerfigur als Protagonisten gibt, würde ich "Die Erfindung des Lächelns" nicht im eigentlichen Sinne als historischen Krimi bezeichnen. Es ist in meinen Augen vielmehr ein "historischer Gesellschaftsroman noir". 

Man merkt, dass in diesem Buch sehr viel Herzblut und Recherchearbeit stecken. Mit Sicherheit geht man aus der Lektüre klüger heraus, als man zuvor gewesen ist. Wer gerne romanhafte Wimmelbücher mit sehr viel "Überbau" liest, dem sei dieser - in meinen Augen mit Themengebieten überfrachtete - opulente Roman empfohlen. Literarischen Minimalisten würde ich aber eher sagen: Finger weg vom Mammutwerk über "La Gioconde"!



Montag, 4. September 2023

"Adam im Paradies" von Rakel Haslund-Gjerrild

Wenn mich ein Buch besonders stark berührt hat, wenn es mich mit seiner Wortmagie verzaubert und mich total in ein anderes Leben, in eine andere Zeit versetzt hat, dann fällt es mir besonders schwer, eine Rezension darüber zu schreiben. Was sollen meine ungelenken Worte über ein Buch aussagen, sie können höchstens bewirken, dass noch andere den Schatz entdecken, den ich schon gefunden habe. Und so versuche ich es mal wieder.

In diesem Fall hat alles mit meinem Besuch der Ausstellung "Flowers Forever. Blumen in Kunst und Kultur" in der Kunsthalle München an meinem Geburtstag im Mai begonnen. Ich sah dort ein Bild des mir bislang unbekannten dänischen Malers Kristian Zahrtmann (1843-1917): "Adam langweilt sich im Garten des Paradieses". Ein faszinierendes Gemälde. Wie exakt der Maler dieses Gefühl der Langeweile eingefangen hat, kontrastierend zum Überfluss der floralen Üppigkeit um Adam herum. Ein Bild, das in Erinnerung bleibt, nicht etwa (nur) wegen der kaum verhüllten Nacktheit des Modells inmitten der Blütenpracht, sondern vor allem eben wegen diesem fast genervten Gesichtsausdruck, der angesichts der paradiesischen Umgebung dekadent erscheint. 

Im Anschluss an die Ausstellung erfuhr ich, dass ein Roman zu diesem Gemälde existiert und dass die Autorin Rakel Haslund-Gjerrild und der Übersetzer Andreas Donat eine Lesung im Rahmen der Pride Weeks planen. Im Juni war ich dann dort und ließ mich ins Dänemark des frühen 20. Jahrhunderts entführen. (Lesung siehe Story-Highlight "Adam im Paradies") Ich erfuhr, dass die Autorin sieben Jahre an dem Roman geschrieben hat und sie sagte, wenn man sieben Jahre mit einer einzigen Person verbringt, sollte es besser eine ziemlich interessante Persönlichkeit sein. Auf Zahrtmann trifft dies zu, alleine seine Gemälde sind so "edgy", queer und teilweise so provokant und auch witzig, dass man nicht umhin kann, sich für die Hintergründe dieser Kunst, die gegen den Strich gekämmt zu sein scheint, zu interessieren. Zahrtmann war allem Anschein nach homosexuell, doch die Autorin stellt ihn als nicht als jemand dar, der seine Homosexualität ausgelebt hat. Die Sehnsucht nach einem Menschen aber, nach einer Beziehung, die ist dem Ich-Erzähler, der literarischen Persona Zahrtmann, eingeschrieben: "Welch großes Gut: nicht besitzen zu können, wonach es einen verlangt. Gerade in der Sehnsucht, glaube ich, liegt Glück."

Die literarische Figur Zahrtmann scheint sich mit dem Alleinsein abgefunden zu haben, anders als seine Haushälterin Frau Hessellund, die 33-jährige Witwe mit Kind, die dem alternden Maler als Kontrastfigur entgegengesetzt wird. Sie empfindet das Alleinsein, das "Nichtmehrangefasstwerden" als innere Versteinerung. Für Zahrtmann ist seine Kunst das Ventil, in ihr kann er verliebt sein, kann nonverbale Zwiesprache mit den Modellen halten, die nicht selten Objekte seiner unausgesprochenen Begierde sind. Frau Hessellund, die Witwe eines Künstlers, durfte nicht selbst Künstlerin werden. Die Tragödie der Frauen wird in "Adam im Paradies" durch ihre Figur nicht ausgespart.

Zwischen den Erzählpassagen befinden sich - grau hinterlegt - historische Dokumente. In ihnen geht es u.a. um die "Sittenaffäre" in Dänemark 1906/07, ein Gerichtsverfahren, in dem homosexuelle Männer verhört und teilweise verurteilt wurden. Diese erschreckenden Zeitdokumente sollen die prekäre Lage illustrieren, in der sich queere Menschen zu der Zeit, in der der Roman spielt, befanden. In starkem Kontrast dazu stehen die Erzählpassagen, die, geschrieben aus der Ich-Perspektive von Zahrtmann, Szenen aus seinem Leben einfangen. Die Autorin erschafft in jeder dieser Szenen ein neues, reiches, von Schönheit überquellendes Gemälde. Ich musste öfter während der Lektüre innehalten und tief durchatmen, um die Schönheit und Reinheit der Worte, der Sprachbilder, die hier heraufbeschworen werden, zu verdauen. Kunst ist, wenn man innehalten muss.

Wer sich für queere Geschichte, Kunstgeschichte, die dänische Künstlerszene oder gar Kristian Zahrtmann selbst interessiert, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Und natürlich alle Personen, die hervorragende Literatur zu schätzen wissen. 

Aus dem Dänischen kongenial übersetzt von Andreas Donat.