Samstag, 30. September 2023

"Feuer" von Maria Pourchet


Von Gustave Flaubert über André Bréton (der den Begriff 1937 "erfand") bis Leïla Slimani - die "Amour Fou" ist ein Lieblingsmotiv der französischen Literatur. Auch Maria Pourchet hat sich in "Feuer" (Frz. "Feu", übersetzt von Claudia Marquart, erschienen bei @luchterhand_verlag) diesem Thema gewidmet. 

Laure ist 41 Jahre alt und Literaturprofessorin (ja, sie ist in der internationalen Literaturgeschichte als Protagonistin nicht allein mit diesem Job, wie ich immer zu betonen pflege) an einer Pariser Universität. Sie hat eine 17-jährige Tochter, Véra, Ergebnis eines One-Night-Stands, die sie viele Jahre alleine erzogen hat. Mit Anton, einem Arzt, ist Laure seit einigen Jahren verheiratet. Mit ihm hat sie nochmal eine Tochter bekommen, Anna, die in die Grundschule geht. Die über Jahre aufgebaute Patchworkidylle beginnt zu bröckeln: Véra, die als Freigeist und Feministin den Unterricht sabotiert und schwänzt, sorgt für Probleme. Ihr Abitur ist in Gefahr. Außerdem liebt Laure ihren pragmatischen Ehemann Anton nicht mehr, die Leidenschaft ist auf der Strecke geblieben.
Für ein Kolloquium über "unsere Epoche" sucht Laure einen Banker, der über die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftswelt referieren soll. Sie trifft auf Clément. Der knapp Fünfzigjährige hat im Leben nichts, außer seinem Berner Sennenhund "Papa", eine religiöse alte Mutter und sehr viel Geld, mit dem er nichts anzufangen weiß. Es kommt, wie es kommen muss: Die beiden beginnen eine Affäre, die zum Wendepunkt ihrer beiden Leben werden soll…

Die Handlung des Romans spielt hauptsächlich während des ersten Corona-Jahres. Masken am Restauranttisch sind Pflicht, es wird von Ansteckungsgefahr, FFP2-Masken und neuen Virusvarianten gesprochen. Eigentlich eine Situation, die eine spontane Affäre nahezu unmöglich macht. Was ich sehr ungewöhnlich und lebensnah fand, ist die Tatsache, dass einfach mal thematisiert wird, dass es per se schon schwierig genug für eine verheiratete Frau mit zwei Kindern und Vollzeitjob ist, eine Affäre logistisch in die Tat umzusetzen - von Corona mal abgesehen. Zumal Laure auch noch in einem Vorort wohnt, der eine Stunde mit der Bahn entfernt ist, die Affäre und ihr Job als Professorin aber in Paris stattfinden. Außerdem sind sie von Anfang Juli bis August drei Wochen im Familienurlaub in Italien, den Laure am liebsten "schwänzen" würde, um bei ihrem Geliebten in Paris zu bleiben…

Was an diesem Roman besonders ist: Der Mann ist nicht der aktive Part. Er ist nicht derjenige, der die Affäre vorantreibt, unbedingt möchte. Es findet sozusagen eine Rollenumkehr statt. Der männliche Part hat Probleme mit dem tatsächlichen Akt, der langjährige Konsum von Internet-Pornos zollt seinen Tribut. Teilweise wird Laure Clément gegenüber sogar übergriffig, drängt ihm zum Sex. Laure steht unangemeldet vor seiner Tür, wenn Clément einfach nur einen ruhigen Samstag mit Joggen, Pornos und seinem kranken Hund verbringen will. Um die Unterschiedlichkeit ihrer Hauptcharaktere zu unterstreichen, benutzt Pourchet die allegorischen Gegensätze Feuer und Eis. Laure ist gleichzusetzen mit Feuer, sie "brennt" für die Affäre, während Clément, der bei der "EisBank" arbeitet, für die Kälte bzw. Eis steht. Sie sagt ihm, dass sie ihn liebt, er ist "emotional nicht verfügbar", wie man in amerikanischen Datingshows sagen würde.

Was macht diesen Roman so gut? Immerhin war er für den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis, nominiert. Er ist ein schonungsloser Kommentar auf "unsere Epoche" und ihre vielen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten, vor allem auch im Zwischenmenschlichen. Nicht nur die Corona-Situation macht es schwierig, Bindungen mit anderen Menschen einzugehen. Wir selbst sind es, die uns oft die größten Steine in den Weg legen. Auch die Erzählweise dieses Romans ist ungewöhnlich und sehr experimentell. Es wird abwechselnd aus Laures und Cléments Sicht erzählt. Laures Geschichte wird in der zweiten Person erzählt, die Erzählinstanz spricht Laure mit "Du" an. Die Du-Anrede erzeugt zugleich Unmittelbarkeit und Distanz. Cléments Innensicht bekommen wir aus der Ich-Perspektive dargeboten und zwar erzählt er die Geschichte seinem todkranken Hund. Bei der Ich-Perspektive ist es das teilweise Stakkato-Hafte des Inneren Monologs, das fasziniert. Wobei durch den Adressaten der Erzählung eine gute Portion Skurrilität hinzukommt.

"Feuer" ist ein sehr komplexer Roman, der viel möchte, aber auch viel erreicht. Das Ende war mir etwas zu skurril und hat viele Fragen offen gelassen, vor allem was die mentale Gesundheit von Clément angeht. 
Herzlichen Dank an das Bloggerportal von Randomhouse für das Rezensionsexemplar! Ich weiß das wirklich zu schätzen.


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