Mittwoch, 15. Mai 2024

"Das Gegenteil von Erfolg" von Eleanor Elliott Thomas


Es ist nicht alles Gold, was glänzt…

In “Das Gegenteil von Erfolg”, dem Debütroman der australischen Autorin Eleanor Elliott Thomas (übersetzt von Claudia Voit) geht es um eine Frau, 39, namens Lorrie. Sie lebt mit ihrem Mann Paul in einer Vorstadt von Melbourne und arbeitet seit vielen Jahren bei der Stadtverwaltung. Sie hat zwei Mädchen (2 und 6 Jahre) und eigentlich könnte ihr Leben glücklich sein. Aber das ist es nicht, denn sie versucht als Working Mom zwischen Job und Familie hin- und her zu jonglieren, wie so viele Frauen um die vierzig das müssen. Bei der Stadtverwaltung leitet sie ein Projekt namens “Green Cities”, wo es um Stadtbegrünung geht und dabei arbeitet sie mit dem zwielichtigen Geschäftsmann Sebastian Gulp zusammen, der das Projekt finanzieren soll. Das wiederum stößt ihrer besten Freundin, der Dokumentarfilmerin und Künstlerin Alex, sauer auf, die Kontakte zu einer radikalen Umweltgruppe hat, die es genau auf diesen Sebastian Gulp abgesehen hat. Und dann kommt es auch noch zu Liebesverwirrungen rund um Ruben, den Anwalt von Gulp und Lorries Ex-Freund und um dessen Frau Zoe…

Die eigentliche Handlung dieses Romans passiert an nur einem einzigen Tag. Allerdings geschieht das hier nicht auf die experimentell-kunstvolle “Ulysses”-Art und Weise. Die sehr karge und unspektakuläre, nach hinten raus auch sehr an den Haaren herbeigezogene, Handlung wird durch erzählte Erinnerungen der beiden Protagonistinnen Lorrie und Alex unterfüttert. Es wird also viel mehr erzählt als gezeigt, was ja eher ein Indikator für Trivialliteratur ist. Mich persönlich hat auch gestört, dass überhaupt nicht auf die Jahreszeit eingegangen wird, in der sich das Ganze abspielt. Aber das ist nur ein persönlicher Spleen von mir. Ich brauche einfach eine jahreszeitliche Einordnung des Geschehens, für andere mag das irrelevant sein.

Die Protagonistin Lorrie hat mich oft an eine australische “Mama-Version” von Bridget Jones denken lassen: Sie kämpft mit ihrem Gewicht,  den Ungerechtigkeiten der Lohnarbeit, den Meinungen ihrer Mutter und ganz allgemein den gesellschaftlichen Erwartungen, hat aber anders als die “Ursprungs-Bridget” bereits die perfekte Familie, wie sie es nicht müde wird zu betonen. Ihr Erzählstrang ist bemüht witzig, manchmal habe ich zwar leicht geschmunzelt, oft war mir die versuchte Komik aber einfach unangenehm und eher was zum Fremdschämen (und ich mag Humor eigentlich, wenn er gut ist). Denn es geht ins Slapstickhafte, zum Beispiel wenn sie die ganze Zeit ihren “perfekten” Kollegen Harry wegen seiner “Minihände” bodyshamed - und das obwohl sie selbst von ihrer eigenen Mutter gebodyshamed wird und das gar nicht lustig findet. Außerdem hat mich ihre ganze Charakterisierung gestört: Als Kind hochbegabt (come on…), aber betont ständig, dass sie eine Versagerin ist, weil sie u.a. als Teenie nach kurzer Zeit aus ein paar Jobs geflogen ist, weil sie zu gutmütig und naiv war. Und eben (Spoiler) die Stelle als Teamleiterin bei der Stadtverwaltung nicht bekommt. Andererseits genießt sie es, Mutter zu sein und sagt, dass das ihrem Leben einen kompletten Sinn gäbe. Für mich haben sich ihre Positionen oft widersprochen, so als hätte die Autorin nicht aufgepasst was Lorrie in einem früheren Kapitel von sich gegeben hat.

Alex hingegen ist eher die bisexuelle Melbourne-Version von Carrie Bradshaw aus “Sex & the City” - ein künstlerischer Freigeist, der noch nach der richtigen Beziehung, Berufung und eigenen Identität sucht. Ihre Storyline hat mir etwas besser gefallen, weil sie weniger stark überzeichnet war und ihre Persönlichkeit nicht so widersprüchlich rüberkam wie Lorries.

Ich habe das Gefühl, in diesem Roman wurden Themenkomplexe wie Queerness und Klimawandel als Aufhänger benutzt, um im Grunde die Geschichte einer frustrierten “Normalo-Frau” (nichts gegen “Normalo-Frauen”) zu erzählen. Ich möchte jetzt nicht direkt Greenwashing und Queerbaiting unterstellen, aber das Ganze hat so ein “Gschmäckle”, wie man im Schwäbischen sagt. Leider kann ich euch den Roman nicht empfehlen. Selbst als leichte Chicklit, die ich früher durchaus öfter gelesen habe, hat es für mich nicht funktioniert, da im Ganzen zu bemüht und gewollt und literarisch eben einfach nicht gut.

Ein Wort muss ich leider noch über die Goldfolierung des Buchcovers verlieren. Leider hat sich diese bei mir sowohl vorne, als auch hinten, als auch am Buchrücken abgelöst. Deshalb die Warnung, das Lesen dieses Buches kann zu “goldenen Händen” führen, muss aber nicht (ich habe jetzt sowohl von mehreren Leser:innen gehört, bei denen es auch so war, als auch bei solchen, bei denen es nicht so war). Ein sehr freundlicher und positiver Austausch mit dem Dumont-Verlag zu diesem Thema fand ebenfalls statt. Herzlichen Dank dafür.

Herzlichen Dank an Lovelybooks und natürlich Dumont für das Rezensionsexemplar!



Sonntag, 12. Mai 2024

"Convenience Store Woman" von Sayaka Murata

“Convenience Store Woman” - ein hochgelobter Kurzroman der japanischen Bestseller-Autorin und Literaturpreisträgerin Sayaka Murata (*1979). Auf Deutsch als “Die Ladenhüterin” beim Aufbau Verlag erschienen. Ich habe die englische Übersetzung von Ginny Tapley Takemori (Granta Books) gelesen.

Es geht um die Protagonistin und Ich-Erzählerin Keiko Furukura, 36, die seit 18 Jahren in einem Convenience Store, auf Japanisch Konbini, arbeitet, die es in Japan an jeder Ecke gibt. Sie ist dort angestellt, seit es den Store gibt und die einzige Mitarbeiter:in, die seit Anfang an dabei ist. Ihr geplantes Studium hat sie nicht weitergeführt und nie woanders gearbeitet. Ihr Privatleben ist ähnlich unspektakulär: Während ihre jüngere Schwester bereits Mann und Kind hat, hatte Keiko noch nie eine Beziehung oder s*xuelle Erfahrungen. Auch war sie noch nie verliebt und hat nur eine einzige Freundin (Miho). Sie lebt in einem bescheidenen Einzimmerappartement und arbeitet 5 Tage die Woche im Store. Ihr Alltag plätschert so dahin, bis eines Tages eine Aushilfe namens Shiraha ihr bislang unaufgeregtes Leben durcheinander wirbelt.

Keiko ist wenig empathisch bzw. kann sich in andere nur schwer einfühlen. Ihre Emotionslosigkeit ist aber nicht nur auf andere bezogen, auch in ihrem Inneren sind starke Gefühle kaum auszumachen. Zudem kommt, dass sie nicht weiß welche Reaktionen in bestimmten gesellschaftlichen Situationen von ihr erwartet werden. Soziale Konventionen sind ihr nur insoweit nicht fremd, sofern sie sich auf ihre über Jahre perfektionierten Tätigkeiten im Store beziehen. 

Sehr kunstvoll gemacht finde ich die Tatsache, dass Keiko quasi mit ihrem Umfeld “verschmilzt”, also immer mehr ein Teil vom Convenience Store wird - quasi Mimikri. Sie adaptiert nicht nur den Sprachduktus ihrer Kolleg:innen, sie kauft ihre Kleidung auch bei dem Laden ein, bei dem ihre Kollegin Mrs. Izumi einkauft, weil sie denkt, dass Frauen in ihrem Alter sich so kleiden müssen, um sich ihrer gesellschaftlichen Umwelt anzupassen.

Für Keiko bedeutet die Monotonie der immer gleichen Handlungen, die im Store ausgeführt werden, die ultimative Form von Sicherheit. Sie möchte ihr Leben gar nicht wirklich ändern, obwohl fast alle Außenstehenden das von ihr erwarten. Einzig das Altern schreckt sie, denn dadurch ist ihrer sinnvollen Tätigkeit ein absehbares Ende gesetzt.

Dieses Buch ist ein Statement, weil es die Wertigkeit von “prekären” und von der Gesellschaft als niedrig eingestuften Arbeitsverhältnissen betont. Auch Mitarbeiter:innen in Convenience Stores sind ein wichtiges Rad im gesellschaftlichen Gefüge. Der Roman ist zudem autofiktional. Auch Sayaka Murata hat 18 Jahre in einem Konbini gearbeitet, bevor sie sich Vollzeit dem Schreiben widmete. Zudem hat mir gefallen, dass endlich mal das Thema “Erwachsene ohne Beziehungserfahrung” literarisch verarbeitet wurde. Oft fühlen sich diese Menschen als Außenseiter:innen, unansehnlich und nicht liebenswürdig. Es ist gut, dass das Thema mal angesprochen wird, gerade in unserer s*xualisierten Gesellschaft, in der Erwachsene ohne entsprechene Erfahrungen oft stigmatisiert werden und sich nicht trauen sich zu outen. 

Alles in allem ein sehr guter Kurzroman, der zum Nachdenken anregt. Empfehlung!


Freitag, 10. Mai 2024

"Love me Tender" von Constance Debré


“Homosexualität bedeutet für mich einfach Urlaub von allem.” (S. 27)

Die 47-jährige Ich-Erzählerin des Romans “Love me Tender” (Aus dem Französischen von Max Henninger, Matthes & Seitz Berlin) von Constance Debré erfindet sich komplett neu. Wie Phönix aus der Asche taucht sie aus ihrem konventionellen Pariser Leben mit Mann, Sohn und prestigeträchtigem Job als Strafverteidigerin auf: “Von nun an bin ich ein einsamer Cowboy.” (S. 21). Sie häutet sich wie eine Schlange, wird extreme Minimalistin, Großstadtnomadin, steigt sexuell komplett auf Frauen um und schreibt ein Buch - über sich und ihre Sicht der Dinge.

Es handelt sich hierbei um einen autofiktionalen Roman. Nicht nur ist Constance Debré (geboren 1972) auf dem Cover abgebildet, die Biographie der Autorin und der Ich-Erzählerin überschneiden sich komplett: Erfolgreiche Anwältin aus prominenter französischer Familie (Mutter adeliges Model, früh verstorben, Vater Journalist mit Kontakten in höchste Staatskreise), verheiratet, mit Sohn, legt ihr altes Ich ab, wird Schriftstellerin und schläft mit Frauen. Dabei kämpft sie um das Sorgerecht für ihren Sohn, das ihr aufgrund von Anschuldigungen ihres Ex-Mannes ihren Lebenswandel betreffend entzogen wird.

Die Ich-Erzählerin hat eine sehr nüchterne Weltsicht, man könnte schon sagen, desillusioniert. Sie sagt sich von allem los, was nach Angepasstheit aussehen könnte, steigt komplett aus aus dem Hamsterrad des Gewöhnlichen. Das Leben als kurzweiliges Abenteur, das herkömmliche humanistische Ideale wie Liebe, Familie und Sicherheit nicht mehr nötig hat. Die Ich-Erzählerin macht sich viele Gedanken zum Thema Mutterschaft und wie viel Unfreiheit in dieser liegt. Sollte man sich nicht auch von der Familie oder dem eigenen Kind “trennen” dürfen? “Du darfst mich hassen. Das ist sogar ein Erfordernis der Liebe, zu hassen. Es gibt keine Liebe ohne Hass. [...] Ein Kind muss seine Eltern hassen, vor allem ein Sohn seine Mutter.” (S. 67)

Natürlich spielen auch konventionelle Rollenbilder und deren radikale Ablehnung durch die Protagonistin, auch bei ihren gleichgeschlechtlichen Affairen, eine große Rolle. Wir kennen das Narrativ “Frau, gefangen im bürgerlichen Leben, die in ihren mittleren Jahren plötzlich ausbrechen will” von anderen französischen Autorinnen wie Leïla Slimani oder Maria Pourchet. Debré präsentiert sozusagen die queere Variante des Stoffes, allerdings erzählt sie auch ihre eigene Geschichte, was das Ganze sehr besonders macht.

Ich mag die erzählerische Kraft und Intensität, die in diesem schmalen, unaufgeregten Werk steckt, unglaublich gerne. Die Ich-Erzählerin reduziert sich nicht nur auf das unbedingt Notwendige in ihrem Leben, sondern sie wählt auch die Worte, die sie benutzt, um uns von ihrem Schmerz und Triumph zu erzählen, sehr sorgfältig aus: kondensiert, clean, kathartisch. Ein Buch, das mich sehr begeistert und überrascht hat und das man sicher mehr als einmal lesen kann. Ich hoffe sehr, dass auch die anderen Bücher der Autorin bald auf Deutsch erscheinen werden, sonst muss ich mich auf das Abenteuer “lire en Français” einlassen. Unbedingte Empfehlung. 

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Dienstag, 7. Mai 2024

"Trophäe" von Gaea Schoeters

Im Herzen der moralischen Finsternis

"Hoch über ihren Köpfen gleitet geräuschlos eine weiße Eule über den schwarzen Himmel. Ein Schatten. Ein Geist. Ein Vorbote des Todes. Niemand bemerkt sie.” (S. 158) - Gänsehaut!

Es wird schwierig, diesen außergewöhnlichen Roman “Trophäe” von Gaea Schoeters (aus dem Niederländischen von Lisa Mensing) zu besprechen. Nicht nur hat die halbe Buchwelt ihn bereits gelesen und gefeiert, sondern ich war auch bei einer Lesung der Autorin und habe ihre Worte dazu noch sehr genau im Ohr. Sich ganz davon zu lösen scheint mir nahezu unmöglich - und vielleicht auch nicht nötig - aber ich möchte gern hauptsächlich eigene Worte finden, um dieses ganz besondere Buch zu rezensieren.

Hunter White, der Name ist Programm und Parabel zugleich, ist gefährlich. Er ist gefährlich, weil er sich seinen eigenen moralischen Kodex zusammengestellt hat. Eine Sicht der Dinge, die mit einer humanen Ethikvorstellung nicht mehr viel zu tun hat: “ Wenn Ranger Wilderer erschießen, ist das [...] erlaubte Notwehr; wenn Wilderer auf Ranger schießen, ist das Mord.” (S. 57). Er glaubt, nur er habe die Lizenz zum Töten, zumindest zum Töten des von ihm mit einem 6-stelligen Betrag “bezahlten” Nashorns. Der Jäger aus der westlichen Welt, der eigentlich Börsenspekulant und Immobilienmagnat ist, kommt nach Afrika und erkauft sich beim zwielichtigen Ranger Van Heeren schlicht und einfach das Recht, eines der in Afrika heimischen Tiere, ein Spitzmaulnashorn, zu jagen. Er will seine “Big Five” vollmachen. Doch der Schuss geht im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten los. Um seine Frustration zu bekämpfen, sucht er sich ein neues Ziel aus und zwar eines, das noch viel fragwürdiger erscheint: einen indigenen Jäger…

Obwohl ich seit Kindheit Vegetarierin bin und mit Jagd nichts am Hut habe, bin ich schlicht und einfach fasziniert von diesem Buch, in dem es eigentlich nur ums Töten geht. Obwohl ich an manchen Stellen den Würgereiz kaum unterdrücken konnte, konnte ich das Buch dennoch kaum aus der Hand legen. Paradox, aber genau das leistet gute Literatur, nämlich dass man plötzlich eine völlig andere Position einnehmen kann als die eigene. Wie die Autorin es geschafft hat, den afrikanischen Busch und die dortigen Vorgänge von ihrem belgischen Schreibtisch aus zum Leben zu erwecken, ist aller Ehren wert. Sie hat, so sagt sie und so wird es in “Trophäe” mehr als deutlich, sehr viel und gründlich recherchiert: Wann jagen Skorpione (nicht bei Vollmond), können Laufkäfer rückwärts laufen (nein), welche Savannengeräusche sind zu welcher Tages- und Nachzeit hörbar, wie greifen die bestimmten Tierarten an und wie gefährlich sind sie. Die Liste ist beliebig erweiterbar. 

Die Welt der indigenen Jäger zu “erlesen” war eine ganz besondere Erfahrung, die wohl wenig Außenstehende in der Realität wirklich zu sehen bekommen. Sie tanzen im Buch andere Tänze als für die zahlenden weißen Touris. Die metaphysische Komponente des Romans hat mich gleichermaßen irritiert und fasziniert, wenn auch aus einer sehr nüchternen Beobachter-Perspektive heraus. Tanz, Trance und Träume: “Niemand ist noch jemand, niemand ist noch er selbst, jeder ist jeder und alle sind eins.” (S. 158) Auch Hunter wird von Erinnerungen heimgesucht, vor allem an seinen Vater und Großvater, die selbst Jäger waren. Ihre Erfahrungen und Jagd-Geschichten vermischen sich mit der afrikanischen Realität und Umwelt vor seinen Augen: Tagträume, Halluzinationen.

Hunter ist, so sagte die Autorin, eher eine Parabel als ein realitätsnaher Protagonist. Deswegen auch der plakative Name Hunter White. Er steht für etwas, für den “White Gaze”, also die weiße Sicht auf Afrika, natürlich extrem zugespitzt. Auch seine Frau, die als Charakter nur ganz am Ende kurz auftaucht, aber in Hunters Gedankenwelt eine größere Rolle spielt, kommt mir sehr überzeichnet vor. Ihre Schrumpfkopfsammlung und Vorliebe für Mumien ist schon sehr bizarr und ich kann mir keinen weiblichen (vernünftigen)  Menschen vorstellen, der wirklich so einer morbiden Leidenschaft nachgeht. 

Als mir die Autorin nach der Lesung das signierte Buch überreichte, sagte sie mit einem Augenzwinkern: “Ich würde ja sagen ‘viel Spaß’, aber…”. Nein, Spaß im herkömmlichen Sinne hat man beim Lesen dieses Buches sicher nicht. Schoeters spielt mit unseren Moralvorstellungen und bringt uns an die Grenzen des Erträglichen. All das in einer glasklaren Erzählweise, in der kein Wort überflüssig ist. Ein faszinierender Roman, den sicher keiner, der ihn liest, je vergessen wird. 


Samstag, 4. Mai 2024

"Die Brontës gingen zu Woolworths" von Rachel Ferguson


“Vor drei Jahren wurde mir ein Heiratsantrag gemacht. Obgleich ich denjenigen wirklich gernhatte, konnte ich seinen Antrag nicht annehmen, denn ich war gerade in Sherlock Holmes verliebt. Der Meisterdetektiv, seine Persönlichkeit und sein Verstand weckten damals so heftige Gefühle in mir, dass kein lebender Mann damit konkurrieren konnte.” (S. 12)

Ihr werdet jetzt vielleicht sagen: Ja gut, im Zeitalter von “Bookboyfriends” (und “-girlfriends”) nichts Neues, ich war auch schon schwer verliebt in so ein fiktives Exemplar. Aber diese Worte spricht die 20-jährige Ich-Erzählerin Deirdre im Roman “Die Brontës gingen zu Woolworths” von Rachel Ferguson. Er erschien im Jahr 1931, wurde aber erst 2023 von Sabine Reinhardus für den Nagel & Kimche-Verlag ins Deutsche übersetzt. Eine wiederentdeckte Klassikerin sozusagen.

Dieser Roman ist verrückt - anders verrückt. Die Familie Carne besteht seit dem Tod des Vaters aus der Mutter, Mrs. Carne und ihren drei Töchtern Katrine, Schauspielerin, Deirdre, Journalistin und der jungen Sheil, die von einer Hauslehrerin unterrichtet wird. In ihrem Londoner Stadthaus haben sie sich ihre eigene Fantasiewelt erschaffen: Sie spielen Rollenspiele, imitieren (berühmte) Persönlichkeiten und werfen sich gegenseitig Insider-Witze zu. Sie haben sich eine fiktionale Bubble aufgebaut, die für Außenstehende schwer zu durchdringen ist. Eine der “Obsessionen” der Familienmitglieder ist der ältere, kürzlich zum Ritter geschlagene Richter Sir Herbert Toddington, den die Mutter Mrs. Carne bei Gericht kennenlernte, als sie dort als Geschworene tätig war. Die Familienmitglieder nehmen ihn als Figur in ihre fiktive Welt mit auf. Doch als sie ihn und seine Frau Mildred wirklich kennenlernen und Umgang mit ihnen pflegen, steht der von der Familie Carne selbstgesponnene Kokon aus Fiktionalität plötzlich auf dem Kopf. Und als sie bei ihrem Familienurlaub in Yorkshire im Rahmen einer Séance die Brontë-Schwestern “treffen”,
haben die Carnes plötzlich mehr Besucher:innen, als ihnen lieb ist…

Die Außenansicht auf die Familie Carne liefert die nüchterne und pflichtbewusste Hauslehrerin Agatha Martin. Sie kann mit der exzentrischen Art der Familie, für die sie arbeitet, so gar nichts anfangen und lässt sich in Briefen an die eigene Familie über deren Kapriziosität aus. Wir als Lesende sind sicher an vielen Stellen ähnlich verwundert wie die Gouvernante und froh, dass wir nicht wie Ms. Martin mit der Familie Carne zusammenleben müssen.

Das Buch ist dialoglastig, skurril, witzig und - für einen klassischen Roman - total abgedreht. Ein Text, der mich sehr überrascht und stellenweise verwirrt hat. Ein quirliges Kuddelmuddel an intertextuellen und kulturhistorischen Referenzen, das aber sicher seine moderne Leserschaft finden wird. Hat Spaß gemacht!


Donnerstag, 2. Mai 2024

Realtalk: Bloggerboxen und Rezensionsexemplare


Realtalk Bloggerboxen/Rezensionsexemplare: Ich habe nochmal, auch angeregt durch eure wertvollen Kommentare (vielen Dank) zu meinem letzten Realtalk, über das Thema intensiver nachgedacht, also vor allem über die Boxen, die Buch-Blogger:innen mit einer gewissen Followeranzahl (meist ab 1500) bekommen. Meistens machen die Blogger:innen ein Unboxing, in dem sie sich für die Box bedanken und erzählen, wie toll sie ist und wie gespannt sie auf das Buch sind. Einige Zeit später folgt dann meist die Rezension. Das soll Aufmerksamkeit für das Buch schaffen. Soweit, so unangenehm. Denn warum kann Literatur nicht mehr für sich selbst stehen? Braucht es für die Blogger:innen, die diese Boxen bekommen, einen zusätzlichen Anreiz, das Buch zu lesen und vorzustellen? Warum denken die Verlage, dass gerade diese Bücher zusätzliche Promotion brauchen? 

Klar könnte man darüber nachdenken, ob Rezensionsexemplare an sich (ohne Box) auch die Meinung beeinflussen. Würde man das Buch lesen, wenn man es nicht als Rezensionsexemplar erhalten hätte? Ich kann nur für mich sprechen: Ich beziehe die meisten Rezensionsexemplare seit vielen Jahren über vorablesen (herzlichen Dank an dieser Stelle) oder lovelybooks, wo es ohnehin eine Verlosung ist. Das finde ich fair und so können auch Leser:innen, die nicht direkt bloggen, an Rezensionsexemplare kommen. Aber ich bewerbe mich natürlich nur, wenn mich ein Buch aufgrund der Leseprobe wirklich interessiert. Alles andere wäre ja kontraproduktiv, denn ich muss das Buch ja lesen und rezensieren. Das trifft auch auf die wenigen Bücher zu, die ich direkt bei einem Verlag (kommt fast nie vor, weil ich dafür auch für die meisten zu klein bin und diese oft erst ab 1000 IG-Follower:innen mit Blogger:innen zusammenarbeiten), einer Agentur wie Buchcontact bzw. dem Bloggerportal (auch hier herzlichen Dank, denn die meisten Bücher bekomme ich seit Jahren trotz “weniger” Follower:innen) anfrage. Die allermeisten Bücher kaufe ich mir selbst und kleinere Verlage will ich sowieso unterstützen, da würde mir gar nicht einfallen, um ein Rezensionsexemplar zu bitten. (Außer, es wird mir explizit angeboten von den Autor:innen oder Verlagen). Diese Info nur, um es für euch transparenter zu machen, wie ich bezüglich meiner Rezensionen von außen unterstützt werde. Ich bin sehr dankbar dafür.

Aber zurück zu den Bloggerboxen. Was löst das in uns “Nicht-Begünstigten” aus, wenn andere ihre Bloggerboxen in die Kamera halten? Wollen wir unbedingt zum Buchladen rennen und uns das Buch besorgen? Auch wenn wir es nicht umsonst mit Postkarten, Tote-Bag und Tasse mit Covermotiv bekommen? Denn diese Goodies sind natürlich exklusiv, nur die Auserwählten bekommen sie. Nachkaufen bei Gefallen: Meist nicht möglich, denn sie wurden im Regelfall exklusiv für die Boxen produziert. Ein Produkt nur für Auserwählte. Und auserwählt wird man nur, wenn man eine gewisse Reichweite hat - that's the game.

Dass das alles bei vielen eher doch ein wenig Neid und Ablehnung auslöst, dürfte auf der Hand liegen. Manche mag es auch völlig kalt lassen. Bei mir ist dieses neidvolle Unbehagen allerdings meistens nicht auf die Box selbst gerichtet, weil ich die meisten Bloggerbox-Bücher nicht gerne lesen würde (ich sehe den Zusammenhang zwischen in Wahrheit eher mittelmäßiger Literatur und Bloggerbox immer stärker), sondern tatsächlich auf die Likes und Kommentare der (größeren) Verlage, die es natürlich toll finden, wenn man das Unboxing und die Rezension, die sich aus der “liebevoll gepackten” Box ergeben, auch posted. Ich habe es schon an der ein oder anderen Stelle und auch im letzten Realtalk erwähnt, will es aber noch ein letztes Mal wiederholen: Kleinere Blogger:innen wie ich können von Likes und Kommentaren der großen Verlage (kleinere Verlage sind da oft ganz anders und bei diesen bedanke ich mich an dieser Stelle dafür, dass sie sich auch für die kostenlose Werbung für ihre Bücher mit Likes, Comments und Shares bedanken ❤) oft nur träumen. Und dabei sind es genau diese Verlage, die oft mehrere Angestellte haben, die sich nur mit Social Media befassen und man könnte eigentlich meinen, dass die auch mal die Posts durchschauen, in denen sie getagged werden. So viele werden das pro Tag (zumindest bei deutschen Verlagen) auch nicht sein. Aber nein, hat man die erforderliche Reichweite nicht, kann man noch so gute Rezensionen schreiben, man wird meist ignoriert. (Positive Ausnahmen gibt es aber natürlich wie den Suhrkamp und den Hanser Verlag).

Und da kommt doch eine gewisse Frustration auf, denn auch wenn das Buchbloggen ein freiwilliges Hobby ist, man investiert doch seine Zeit und einiges an Herzblut. Und ich muss nicht mit Geschenken überschüttet werden, damit ich ein Buch lese. Aber ein freundliches Wort, das motiviert - zumindest mich - ungemein. Hierbei auch vielen Dank für all eure Kommentare. Jedes positive Wort wird von mir geschätzt und ich bedanke mich ganz herzlich für all euren Support, in welcher Form auch immer! ❤️

Zusammengefasst: Ich finde, die Verlage tun sich mit dem doch recht “aggressiven" Marketinginstrument Bloggerbox keinen wirklichen Gefallen und fördern damit den Konkurrenzkampf und die Ungleichbehandlung unter Bloggenden. Letztlich sind die großen Verlage in der Buchbubble wie die antiken Götter, die ihre Gunst durch die Bloggerboxen zeigen. Und die Gunst fällt nur auf die, die genug Follower:innen haben, alle anderen werden weitgehend ignoriert, egal ob sie Werbung in Form von Rezensionen und Buchtipps machen oder nicht. Für mich ist das Kapitalismus und eine Form von (mir fällt kein besseres Wort ein) “Vetternwirtschaft”. Wir müssen zurückkommen zu einer weniger kapitalistisch ausgerichteten Form von Literaturbewertung. Denn: Es zählt doch eigentlich nur das, was zwischen zwei Buchdeckeln steht und genau das sollten wir letztendlich bewerten.