Samstag, 4. Mai 2024

"Die Brontës gingen zu Woolworths" von Rachel Ferguson


“Vor drei Jahren wurde mir ein Heiratsantrag gemacht. Obgleich ich denjenigen wirklich gernhatte, konnte ich seinen Antrag nicht annehmen, denn ich war gerade in Sherlock Holmes verliebt. Der Meisterdetektiv, seine Persönlichkeit und sein Verstand weckten damals so heftige Gefühle in mir, dass kein lebender Mann damit konkurrieren konnte.” (S. 12)

Ihr werdet jetzt vielleicht sagen: Ja gut, im Zeitalter von “Bookboyfriends” (und “-girlfriends”) nichts Neues, ich war auch schon schwer verliebt in so ein fiktives Exemplar. Aber diese Worte spricht die 20-jährige Ich-Erzählerin Deirdre im Roman “Die Brontës gingen zu Woolworths” von Rachel Ferguson. Er erschien im Jahr 1931, wurde aber erst 2023 von Sabine Reinhardus für den Nagel & Kimche-Verlag ins Deutsche übersetzt. Eine wiederentdeckte Klassikerin sozusagen.

Dieser Roman ist verrückt - anders verrückt. Die Familie Carne besteht seit dem Tod des Vaters aus der Mutter, Mrs. Carne und ihren drei Töchtern Katrine, Schauspielerin, Deirdre, Journalistin und der jungen Sheil, die von einer Hauslehrerin unterrichtet wird. In ihrem Londoner Stadthaus haben sie sich ihre eigene Fantasiewelt erschaffen: Sie spielen Rollenspiele, imitieren (berühmte) Persönlichkeiten und werfen sich gegenseitig Insider-Witze zu. Sie haben sich eine fiktionale Bubble aufgebaut, die für Außenstehende schwer zu durchdringen ist. Eine der “Obsessionen” der Familienmitglieder ist der ältere, kürzlich zum Ritter geschlagene Richter Sir Herbert Toddington, den die Mutter Mrs. Carne bei Gericht kennenlernte, als sie dort als Geschworene tätig war. Die Familienmitglieder nehmen ihn als Figur in ihre fiktive Welt mit auf. Doch als sie ihn und seine Frau Mildred wirklich kennenlernen und Umgang mit ihnen pflegen, steht der von der Familie Carne selbstgesponnene Kokon aus Fiktionalität plötzlich auf dem Kopf. Und als sie bei ihrem Familienurlaub in Yorkshire im Rahmen einer Séance die Brontë-Schwestern “treffen”,
haben die Carnes plötzlich mehr Besucher:innen, als ihnen lieb ist…

Die Außenansicht auf die Familie Carne liefert die nüchterne und pflichtbewusste Hauslehrerin Agatha Martin. Sie kann mit der exzentrischen Art der Familie, für die sie arbeitet, so gar nichts anfangen und lässt sich in Briefen an die eigene Familie über deren Kapriziosität aus. Wir als Lesende sind sicher an vielen Stellen ähnlich verwundert wie die Gouvernante und froh, dass wir nicht wie Ms. Martin mit der Familie Carne zusammenleben müssen.

Das Buch ist dialoglastig, skurril, witzig und - für einen klassischen Roman - total abgedreht. Ein Text, der mich sehr überrascht und stellenweise verwirrt hat. Ein quirliges Kuddelmuddel an intertextuellen und kulturhistorischen Referenzen, das aber sicher seine moderne Leserschaft finden wird. Hat Spaß gemacht!


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