Montag, 28. Dezember 2020

"Die Bagage" von Monika Helfer


Intimer Blick ins Familienalbum

Monika Helfer erzählt in "Die Bagage" nichts weniger als die Geschichte ihrer Existenz, die sie wie jeder andere Mensch auch ihren Ahnen zu verdanken hat. Dafür blickt sie - durch die literarische Brille der Erzählerin (die aber mit der Autorin gleichzusetzen ist) quasi ins orale Erinnerungsalbum ihrer Herkunftsfamilie. Dieses setzt sich aus Geschichten zusammen, die ihr ihre hochbetagte Tante Kathe kurz vor ihrem Tod erzählte. Sie fügt die Geschichten in "Die Bagage" zu einem Ganzen zusammen. Sie erzählt, wie sie es erzählt bekommen hat, versucht aber die Lücken in der Überlieferung, also die Ereignisse, die Kathe nur indirekt mitbekommen hat, mit ihrer eigenen Vorstellungskraft zu schließen, sie literarisch zu verfeinern. Und doch bleiben bei ihr am Ende noch Fragen offen, wie zum Beispiel: "Warum haben sich meine Leute immer absichtlich abgesondert? Warum?"

Die Geschichte beginnt kurz vor der Zeugung der Großmutter der Erzählerin im Spätsommer 1914, irgendwo in einem kleinen Dorf in Österreich. Kennt man die Biografie der Autorin, kann man sich das Dorf und das Bundesland erschließen, für die Geschichte aber ist der Name des Ortes nicht relevant. Es könnte jedes kleine österreichische Dorf sein und die Familie jede arme Familie im Jahr 1914, ist es aber nicht. Es geht um die Familie Moosbrugger, vor allem um die Mutter, die schöne Maria, ihren Mann Josef und die zunächst vier gemeinsamen Kinder: Hermann, Katharina, Lorenz und Walter. Josef wird im September 1914 in den 1. Weltkrieg eingezogen. Der Bürgermeister soll "ein Auge" auf die Familie haben, während der Vater im Krieg ist. Als er Maria auf einen Markt in die nächst größere Stadt mitnimmt, lernt diese dort den Deutschen Georg kennen. Sie verliebt sich in ihn und er in sie, aber es bleibt eine kurze, nicht lebbare Liebe. Josef darf gelegentlich für kurze Zeit auf Heimaturlaub. Bei einem dieser Urlaube wird Grete gezeugt. Die Gerüchte über Maria und den Deutschen erreichen auch Josef und dieser hegt einen schlimmen Verdacht….

Gut gefallen hat mir, dass Monika Helfer ihre Figuren nicht nur als arm und von Geburt an determiniert darstellt, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut, die menschliche Bedürfnisse, ganz eigene Vorstellungen vom Glück und Träume haben. Dass diese meist an der Realität scheitern, ist die Tragik des Menschseins und das strahlt diese Geschichte für mich aus. Dennoch ist sie nicht fatalistisch und die Figuren bemitleiden sich nicht selbst (bis auf den Bürgermeister vielleicht).

Die große Frage des Romans ist im Grunde auch die nach der eigenen Verortung in der Genealogie einer Familie. An einer Stelle fragt sich die Erzählerin nämlich, wo "die Bagage" denn enden würde und ob sie selbst überhaupt noch dazugehöre bzw. ihre Familie, ihre Kinder und ihr Mann. Zieht sich ein roter Faden durch die Geschichte einer Familie, deren Teil man für alle Zeiten bleibt oder muss man sich selbst als eigene Bagage begreifen und seine selbst gegründete Familie als von der Vergangenheit unabhängig begreifen?

Obwohl Helfer ihre Figuren sehr profiliert darstellt und man sich ein genaues Bild der unterschiedlichen Charaktere machen kann, bleibt zwischen den Figuren und dem Leser eine gewisse Distanz. Es ist als würde man das Fotoalbum einer anderen Familie ansehen, nicht der eigenen. Man findet vieles interessant, hat Fragen, aber das Interesse bleibt oberflächlich und man hat das dumpfe Gefühl, dass einen diese intime Geschichte einer anderen Familie doch eigentlich nichts angeht. Dennoch möchte ich sagen, dass "Die Bagage" ein sehr fein gezeichnetes Zeitgemälde der bäuerlichen Lebenswelt des frühen 19. Jahrhunderts ist, rustikal erzählt und mit einem gewissen spröden Charme.

(Das Buch ist ursprünglich bei Hanser erschienen. Ich habe mir die Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg gekauft, weil ich das Cover schöner finde.)

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Montag, 21. Dezember 2020

"Lacroix und die stille Nacht von Montmarte" von Alex Lépic

 

Sozialkritischer Weihnachtskrimi voller Paris-Flair

[Kurzrezension]

Weiße Weihnachten in Paris gab es seit Jahren nicht mehr, aber diesmal scheint sich das Wunder anzubahnen. Commissaire Lacroix darf dieses Jahr in der Vorweihnachtszeit durch ein verschneites Paris stapfen und zwar in aller Ruhe, denn die Aufklärung eines Mordes steht momentan nicht auf seiner Tagesordnung. Dennoch macht sich beim modernen "Maigret", wie ihn die Presse - und zunehmend auch sein Umfeld - augenzwinkernd nennt, ein gewisses Unbehagen breit, als die gerade eben erst aufgebaute Weihnachtsdekoration in Form von Lichterketten im Stadtteil Montmartre geklaut wird. Eigentlich kein Fall für einen Kriminalpolizisten und dennoch: Lacroix möchte wissen, was dahintersteckt und begibt sich zu Ermittlungen ins alte Pariser Künstlerviertel "auf dem Berg". Dort wird er mit einigen mysteriösen Fällen von Vandalismus konfrontiert, die vermutlich einen konsumkritischen Hintergrund haben. Als aber ein Lebewesen Schaden nimmt wird Lacroix klar: Hier geht es um deutlich mehr, als um die Kommerzialisierung des Künstlerviertels Montmarte....

Es ist ein kluger dritter Lacroix-Krimi, den Alex Lépic alias Alexander Oetker (wie wir seit diesem Jahr wissen) hier geschrieben hat. Er ist sehr gesellschaftskritisch und beherbergt u.a. den famosen und so wahren Satz: "Die sozialen Medien sind die Guillotine unserer Zeit." Außerdem befasst er sich mit dem leider immer etwas randständigen Thema "mental health". Barmherzigkeit, Mitleid und die Kraft der Vergebung sind ebenfalls Schlagworte, die mir zur Handlung einfallen. Also alles sehr "weihnachtliche" Themen, wenn man so will. Ein schöner, sehr atmosphärischer Weihnachtskrimi, der allerdings nicht ganz so spannend war wie der erste Lacroix-Roman, den ich gelesen habe. Die wunderschöne Ausstattung durch den Kampa-Verlag ist wie immer eine Augenweide.

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Donnerstag, 17. Dezember 2020

"Tödliche Gemälde" von Konrad Bernheimer

 

Mon dieu, was soll ich dazu sagen?

(Vorsicht: Spoiler)

Man nehme: Einen "Krimi", der in großen Teilen aus der Sicht des Mörders erzählt wird - ungewöhnlich, kann aber funktionieren, Betonung liegt auf "kann". Dieser Mörder, John Blumenstein aka Jonas Blume, ist ein ziemlicher Sadist und gleichzeitig ein Ästhet. Er liebt als Kunsthändler die schönen Künste, vor allem die bildende Kunst und natürlich das Savoir Vivre der Franzosen. Er ist Kosmopolit und in den Metropolen der Welt zu Hause. Vor allem die Kunststädte Paris und London beehrt er abwechselnd mit seiner Anwesenheit. Man gebe dem Mann eine schwere Kindheit mit frühverstorbener Mutter und als kindliches Hobby Tierquälerei. Nun füge man noch eine Prise Bruderhass und Zwillingsmotivik hinzu, die in Schwarzweiß-Denken eingetunkt wird - Voilà: guter vs. böser Zwilling. Der eine (Martin Blume) ist der "spießige", verklemmte Bulle, der andere, Jonas alias John, der dandyhafte, weltgewadte Killer. Nun sollte man aber nicht so sein und dem literarischen Gericht auch noch etwas Würze in Form von einer ordentlichen Prise Sex hinzufügen, denn der sellt ja bekanntlich. Vor allem das weibliche Geschlecht ist in diesem Buch höchst promiskuitiv und denkt eigentlich - neben Geld und ein bisschen an Kunst, die wiederum Geld generiert - an nichts anderes als an die “schönste Nebensache der Welt,” gerne auch mit einer ausgeprägten SM-Komponente. John benutzt die Frauen: Sie bringen ihm Prestige, großzüge Innenstadtwohnungen in den begehrtesten Städten der Welt, millionenschwere Kunst, sonstigen Reichtum und manchmal geben sie sogar hervorragende Mordopfer für ihn ab. Im letzten Fall muss dann aber echt schon alles stimmen, vor allem die Ähnlichkeit mit einer auf einem berühmten Kunstwerk abgebildeten Figur. John Blumenstein liebt nämlich kunstvolle Inszenierungen bzw. das realitätsgetreue Nachstellen von Bildern, auf denen jemand ermordet und/oder verstümmelt bzw. gefoltert wird. Das ist sozusagen sein mörderischer Zeitvertreib, wenn er mal nicht gerade vom Londoner Luxusmasseur durchgeknetet wird, Millionen mit Kunstdeals verdient, Agententätigkeiten nachgeht, Metropolenhopping macht oder in einem Sternerestaurant die teuersten Weine und exklusivsten Gerichte der Welt verkostet. Letzteres wird im Buch ausführlichst beschrieben und zelebriert, da kann sich der Gault Millau eine Scheibe davon abschneiden.

Ich schreibe nicht gerne eine negative Rezension, aber dieses Buch ist leider eine Zumutung für mich gewesen. Die absurde, hanebüchene Handlung kombiniert mit der lächerlich-eindimensionalen Figurenzeichnung und den Dialogen auf dem Niveau humorvoller Fernsehkrimis (die im Kontrast zum elitären Thema stehen) suchen wirklich ihresgleichen. Vom Frauenbild, das hier vermittelt wird, mal ganz zu schweigen. Die Frauen in diesem Roman sind - wie schon gesagt - dauer-wollüstig und werden auch immer wieder als unwissend dargestellt, während die Männer mit intellektueller Potenz bestückt sind und den unterwürfigen Weibchen die Welt erklären müssen. Die Opfer des Mörders, bei dem alles von Anfang an fast reibungslos verläuft, begeben sich geradezu bereitwillig in ihr Schicksal. Eine solche Naivität ist für mich beispiellos gewesen und leider auch immer wieder ein Quell unfreiwilliger Komik, die aber wahrscheinlich nicht intendiert war. Die versprochene spannende Krimi-Handlung war nicht mal ansatzweise auszumachen. Logische Fehler und realitätsferne Vorgänge und Abläufe kommen erschwerend hinzu. Von dem Ende, das geradezu abstrus und einfach nur ärgerlich war, will ich gar nicht erst anfangen.

Dass der Autor etwas von Kunsthandel, Kunstgeschichte und kulinarischen Genüssen versteht, ist unbestritten und spiegelt sich in seinem Buch wieder. Literarisches Schreiben gehört meines Erachtens nach aber nicht zu seinen Fähigkeiten. Dennoch wurde das Buch verlegt und zwar in hochwertigster Ausstattung - Ich frage mich nur: Warum? So mancher "Groschenroman" ist deutlich besser - und wenigstens sein Geld wert.

Herzlichen Dank an den LangenMüllerVerlag und Lovelybooks für Leserunde und Rezensionsexemplar!

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Sonntag, 13. Dezember 2020

"Die Krone der Schöpfung" von Lola Randl

 

Bestandsaufnahme der "ersten Welle"

Selten liest man einen Roman, in dem so viele Aspekte des Erzählten mit der eigenen Lebensrealität der jüngeren Vergangenheit übereinstimmen. Bei diesem Roman ist dies der Fall, denn er wurde nicht nur im Jahr 2020 geschrieben und veröffentlicht, er behandelt auch noch das Thema, das dieses Jahr wie kein anderes geprägt hat: Die Corona-Pandemie.

Die Filmregisseurin und Schriftstellerin Lola Randl versucht sich in “Die Krone der Schöpfung” an einer Bestandsaufnahme des Beginns der Pandemie, ihrer Ausbreitung in Europa sowie der ganzen “ersten Welle”. Im Buch gibt die Erzählerin, die wohl in vielen Punkten mit der Autorin gleichzusetzen ist, ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Virus wieder. Dabei konnte ich mich als Leserin teilweise sehr gut mit ihren nüchtern-ironischen Schilderungen identifizieren. Sie beschreibt, was wir alle im Frühjahr 2020 erlebt haben: Das Einbrechen des Virus in unser Leben, was es (oder: er) mit uns und unserer Umwelt gemacht hat und wie wir dieser neuen Situation am Anfang begegnet sind. Ob es das Nähen von Stoffmasken ist, der Hamsterkauf von Toilettenpapier, das überall ausverkaufte Desinfektionsgel: Die Pandemie ist ein Gleichmacher und wir sitzen alle im selben Boot. Ich habe mich zurückversetzt gefühlt in diese unsichere Zeit, in der Corona noch ganz frisch und wir alle davon noch unbeleckt waren. Die mediale Berichterstattung wird auch von der Erzählerin reflektiert: Ob es die bedrückenden Nachrichten der vielen Toten aus Italien waren oder auch die Omnipräsenz eines gewissen “Chefvirologen”, dem die ganze Aufmerksamkeit eigentlich eher unangenehm war bzw. ist.

Strukturell ist dieser “Roman” eher eine Sammlung von kurzen Kolumnen, die jede für sich einen Mikroaspekt der Pandemie aufgreifen. Einerseits referiert die Erzählerin über biologische und gesellschaftspolitische Fakten, die im Zusammenhang mit Viren bzw. speziell mit Sars Covid-19 irgendwie von Interesse sind. Andererseits geht es eben um die persönlichen Erfahrungen der Autorin (die in einem gewissen Maße fiktionalisiert sind, in welchem, weiß wohl nur sie selbst bzw. ihr Umfeld), die dem neuen Eindringling - aka Virus - in ihr Leben zu trotzen versucht. Ihr nicht ganz konventioneller Alltag führt dabei zu einigen amüsanten Situationen und Verwicklungen. Die selbstironische Art der Erzählerin und ihre eigene Unzulänglichkeit, die sie immer wieder erwähnt, machen sie für mich sympathisch. Man denke nur ihre Fleischgelüste, während sie sich vor dem Liebhaber als moralisch überlegene Vegetarierin geriert. Oder an ihre persönlichen Versagensmomente in puncto Erziehung. Zusätzlich gibt es noch eine grotesk-surreale Komponente des Buches. Die Erzählerin braucht Geld (damit der Boden in ihrem renovierten Haus verlegt werden kann) und schreibt deshalb am Drehbuch für eine Zombieserie, das sie einem Internetgiganten verkaufen will. Diese Passagen waren für mich sehr gewöhnungsbedürftig.

Randls Roman muss sich sicher auch Kritik gefallen lassen. Das Erzählte ist oft diffus, viele Themen werden angerissen um sie dann ebenso abrupt wieder fallen zu lassen. Der rote Faden zerfranst in viele Fädchen. Zudem steht derjenige, der Lola Randls ersten Roman “Der große Garten” nicht gelesen hat, vor vielen Fragen: Was hat es mit dem Liebhaber auf sich, wer sind die anderen Dörfler oder zugezogenen Städter, von denen sie spricht und warum ist sie überhaupt mit ihrer Familie in das abgelegene Dorf in der Uckermark gezogen? Der Vorgängerroman beantwortet wohl diese Fragen. Der Epilog am Schluss bleibt philosophisch-vage. Stattdessen hätte ich mir ein ausführliches Nachwort gewünscht mit den genauen Angaben, in welchem Monat des Jahres 2020 das Buch abgeschlossen wurde und wie der Status Quo der Pandemie zu dieser Zeit war.

Obwohl ich Randls trockenen Humor sehr gerne mochte und es wichtig und richtig finde, dass diese ersten Monate der Corona-Pandemie für die Nachwelt festgehalten wurden, kann ich aufgrund der genannten “Probleme” diese sehr spezielle Lektüre nicht jedem uneingeschränkt empfehlen. 

Herzlichen Dank an die Leserunde bei Lovelybooks sowie Matthes & Seitz Berlin für das Rezensionsexmplar!

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Montag, 7. Dezember 2020

"Wisting und der Atem der Angst" von Jørn Lier Horst

 

Unprätentiöse Hochspannung, Teil 3

Nachdem ich bereits die ersten beiden Teile (Link zur Rezension von Teil 1, Teil 2)der Cold-Cases-Reihe um William Wisting begeistert gelesen habe, musste ich natürlich sofort bei Erscheinen den dritten Teil dieser Reihe lesen. Auch diesmal bekommen es Kriminalkommissar Wisting und Stillers Osloer Einheit ungelöster Kriminalfälle mit einem “Cold Case” zu tun, der sich allerdings sehr schnell als “hot” entpuppt. Der zweifache Frauenmörder und Sadist Tom Kerr will einen dritten Mord gestehen und die Ermittlungseinheit zum Grab des Opfers führen. Allerdings kann er bei der Begehung entkommen. Nun stellt sich den Ermittlern die Frage, ob er bei seinen Morden einen Komplizen hatte und ob ihm dieser “Andere” zu seiner Flucht verhelfen konnte.

Auch Wistings Tochter Line ist als Journalistin wieder mit von der Partie. Sie will eine Dokumentation über den Fall Tom Kerr drehen. Dass Line ihren Vater so eng bei seiner Arbeit begleitet, führt immer wieder zu Gewissenskonflikten, schließlich darf Wisting die laufenden Ermittlungen nur gefiltert an die Medien weitergeben. Doch auch Line verfolgt ihren eigenen Plan und nimmt dabei so manches Risiko in Kauf. Es geht in diesem Band damit auch sehr viel um das Verhältnis zwischen Polizei und Medien, eine Zusammenarbeit, die nicht immer für beide Seiten eine Win-Win-Situation darstellt.

Die Handlung ist dieses Mal auch wieder sehr spannend, vor allem durch die unmittelbare Bedrohung durch den flüchtigen Täter und seinen unbekannten Komplizen. Es gibt viele überraschende Wendungen und kurz vor Ende wird es so nervenaufreibend, dass ich teilweise versucht war an meinen Fingernägeln zu kauen.

Ich mag mehrere Aspekte an den Krimis von Jørn Lier Horst. Zum einen die unaufgeregte Erzählweise, mit der ganz subtil Spannung erzeugt wird. Lier Horst ist kein effekthaschender Erzähler, obwohl es natürlich um krasse Verbrechen und Täter geht. Der Autor erzählt das Wesentliche, ohne es unnötig auszuschmücken. Auch das mag ich. Außerdem weiß er tatsächlich als ehemaliger Kriminalkommissar über die Abläufe einer Ermittlung genauestens Bescheid. Im Nachwort geht er - ungewöhnlich für ihn - nochmal auf “das Böse” ein und die Menschen, die es verkörpern. Dabei verweist er auch auf seine eigene berufliche Vergangenheit als Ermittler.

Lier Horsts Figuren sind absolut lebensecht, das Private bildet einen Rahmen für die Geschehnisse, steht aber niemals im Vordergrund. Ich bin so gespannt, wie sich die Figuren noch entwickeln werden, Wisting hat jedenfalls noch einige Jahr bis zur Pensionierung. Dennoch sieht vor allem seine Tochter die Zeichen des Alterns an ihrem Vater. Zum Glück ist bereits jetzt klar, dass ein vierter Band der Reihe im Frühjahr 2021 auf Deutsch erscheinen wird. Ich kann es kaum erwarten!

Herzlichen Dank an den PIPER Verlag und netgalley für das Rezensionsexemplar!

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Samstag, 5. Dezember 2020

"Stille Nacht in der Provence" von Cay Rademacher

 

Creepy Christmas in der Provence

Weihnachtskrimis lese ich in der Vorweihnachtszeit immer ganz gerne, vor allem weil in ihnen - im Gegensatz zur Realität - meistens Schnee liegt. So auch in "Stille Nacht in der Provence" von Cay Rademacher (mein erstes Buch von ihm).

Zur Handlung: Die Hamburger Andreas Kantor, Gymnasiallehrer für Französisch und Englisch und seine Frau Nicole, Journalistin, beide um die Fünfzig, wollen Weihnachten in der Provence verbringen. Ein Kollege von Andreas stellt Ihnen dafür sein Ferienhaus in Miramas-le-Vieux in der Nähe von Marseilles zur Verfügung.

Miramas-le-Vieux ist ein kleines mittelalterliches Dörfchen, das nur wenige Einwohner hat. Die meisten wohnen im angrenzenden neuen Ort Miramas. Dennoch gibt es ein paar "Einheimische" wie die Santonniere Milène Tanguy, die Santons fertigt, kleine provenzalische Tonfiguren, sowie deren Mann René. Auch ein Hotel-Restaurant gibt es hier, Inhaberin ist die Witwe Valéria. Ihr Neffe Dennis, ein Heimatforscher, hilft ihr gelegentlich aus. Dann wäre da noch der zwielichtige Polizist Zulesi, der einzige Ordnungshüter von Miramas-le-Vieux. Das war's auch schon im Wesentlichen, das Personal dieses Romans ist so überschaubar wie der Handlungsort im Winter - von daher passt es. Im Sommer ist Miramas-le-Vieux nämlich ein gut besuchter Touristenort, im Winter hingegen wie ausgestorben. Perfekte Voraussetzungen also für die Krimihandlung, die sich nun entfaltet: Andreas findet in einem vom Schnee eingedrückten Gewölbekeller neben seinem Ferienhaus einen Sarg mit Leiche, die kurz darauf verschwindet. Die deutschen Touristen werden von den Einheimischen zunächst kritisch beäugt, aber als dann bekannt wird, was Andreas Kantor vermeintlich gefunden hat, beginnt die Situation zunehmend prekär zu werden: Wer ist der Tote im Gewölbe und wer hat ihn dorthin geschafft?

Wenn man von einigen wenigen abgenutzten Metaphern (Schnee wie Puderzucker, Füße schwer wie Blei, etc.) einmal absieht, konnte mich der Krimi - auch sprachlich - durchaus überzeugen. Dem Autor gelingt es formidabel, eine Atmosphäre zu erzeugen, die ganz schön beklemmend und bedrohlich daherkommt. Eine richtige Thriller-Atmo also. Andreas, der Protagonist des Romans, gerät ja in viele bedrohliche Situationen und man weiß nie, ob sie mit einem Kaffeeklatsch oder mit dem Mord an ihm enden werden.

In der französischen Region Provence-Alpes-Côte d'Azur ist Schnee - noch dazu solche Mengen, wie sie im Buch beschrieben werden und dann auch noch um die Weihnachtszeit - eine absolute Ausnahme. Daß der Autor um Kunstgriff "eingeschneit, ergo sind die Personen am Schauplatz des Geschehens gefangen und von der Außenwelt isoliert" gegriffen hat, finde ich aber schon in Ordnung. Überhaupt hat mir das Setting, dieser mittelalterliche provenzalische Ort, sehr gut gefallen. Vom Spannungsaufbau und auch was die Auflösung betrifft ein sehr solider “Cosy” Krimi, den ich weiterempfehlen kann.

Herzlichen Dank an den Dumont Verlag und netgalley für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

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Mittwoch, 2. Dezember 2020

"Ungezähmt" von Glennon Doyle

 

“Werde, die du bist” 2.0 - ohne neue Erkenntnisse!

Schon die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm schrieb gegen Ende des 19. Jahrhunderts: "Werde, die du bist". Dass Frauen sich emanzipieren und ein von gesellschaftlichen Zwängen losgelöstes, selbstbestimmtes Leben führen sollen, ist wahrlich kein neuer Gedanke. Was also ist neu an "Ungezähmt", der autobiografischen Lebensbeichte von Glennon Doyle? Warum wird das Buch von so vielen (prominenten) Frauen als weibliches "Must-read" in den Himmel gelobt? Ich wollte es wissen und deshalb habe ich es gelesen, denn sonst mache ich um "Selbsthilfe-Ratgeber" eigentlich einen weiten Bogen.
Dass die US-amerikanische Autorin, christliche Bloggerin und Mutter von drei Kindern mit 40 Jahren ihren untreuen Ehemann verlassen hat und seitdem mit der Frau ihres Lebens glücklich und zufrieden lebt, ist schön und auch gut so. Aber muss man daraus ein Manifest weiblicher Selbstfindung erschaffen? Klar, auch Männer sollten rosa Duschgelflaschen benutzen dürfen und sich deswegen nicht weniger männlich vorkommen. Und auch Frauen dürfen wild und gefährlich sein und nach Nordpolexpedition riechen. Aber ist das nicht Makulatur? Braucht es dafür ein Buch?

Glennon Doyle steht im Zentrum dieses Buches. Es ist ihre Geschichte, die sie in kurzen Kapiteln erzählt. Sie war süchtig - nach Anerkennung, Alkohol, Drogen und Abhängigkeit. Sie war bulimisch seit ihrer frühen Jugend. Aber dann wurde sie schwanger und trocken und hat nur noch für ihre Familie gelebt. Und erst nach ihrer Scheidung hat sie quasi auf ihr inneres Selbst gehört und zu selbigem gefunden. Es geht ihr darum, auf die innere Stimme und damit in erster Linie auf das eigene Ich zu hören. Eine Diktatur des Selbst könnte man sagen. Man soll außerdem lernen den Schmerz des Lebens zu ertragen, um dem wahren Dasein zu begegnen. Sie spricht vom "Großen Schmerz", den es auszuhalten gilt und in dem sich alle treffen. Alles ein wenig pathetisch, in belehrendem Tonfall und vor allem nicht so wirklich neu. Sagte nicht bereits Lord Byron im frühen 19. Jahrhundert: "Der wesentliche Sinn des Lebens ist Gefühl. Zu fühlen, daß wir sind, und sei es durch den Schmerz. Es ist die ›sehnsuchtsvolle Leere‹, die uns dazu treibt, zu spielen – zu kämpfen – zu reisen – zum leidenschaftlichen Tun." Auch die Weisheit, sich selbst treu zu bleiben und nicht dem Druck von außen nachzugeben, finden wir bereits bei Shakespeare: "This abvove all: To thine own self be true." (Hamlet)

Das Buch ist sehr amerikanisch, nicht nur weil Selbsthilferatgeber einen ziemlich amerikanische "Erfindung" sind. Es geht oft um Therapien, Religiosität und Fremdwahrnehmung. Doppelmoral und reaktionäre Rollenzuschreibungen gibt es auch in unserem vermeintlich liberalen Europa. Dennoch: AmerikanerInnen werden anders sozialisiert. Wenn bereits in der Highschool ein "Homecoming-Court" aus den zehn beliebtesten SchülerInnen gewählt wird, dann wird natürlich einem Klassenbewusstsein Tür und Tor geöffnet, in dessen Denkmustern man nach dem eigenen Beliebtheitsgrad, der sich aus dem Grad der Angepasstheit speist, beurteilt wird - passt man ins Schema der Gesellschaft oder eben nicht. Doyle kritisiert immerhin die amerikanische Mentalität, immer der Beste sein zu wollen, an mehreren Stellen. 

Dennoch: Auch nach der Lektüre verstehe ich den Hype um dieses Buch 0,0. Es wird einfach nichts Neues geboten. Doyle verstrickt sich außerdem oft in Widersprüche: Einerseits sagt sie, sie ist ein Mensch, der keine Freunde hat, nur um im nächsten Abschnitt zu sagen dass sie mit dieser und jener Freundin über dies und jenes gesprochen hat. Außerdem meine ich eine gewisse Beliebigkeit in ihren Aussagen zu erkennen. Irgendwie ist alles ein großes Mischmasch: Selbstfindung, Süchte, Co-Parenting, Social Media, Lebensbeichte, Coming-Out, Geschlechterrollen, Erziehungsfragen, Black Lives Matter, Küchenpsychologie, Religiosität, Selbstdarstellung, Selbstliebe, Amerikanismen, Politik, Wohltätigkeit… Mir fehlte einfach der rote Faden, eine gewisse Stringenz, an der man sich entlanghangeln kann.

Dieses Buch mag ja ein Befreiungsschlag für die Autorin gewesen sein, aber was Adele & Co. hier Bereicherndes herauslesen, erschließt sich mir leider nicht.

Herzlichen Dank an rowohlt und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

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Freitag, 27. November 2020

"Fräulein Gold. Scheunenkinder" von Anne Stern

 

Historische Milieustudie

Nachdem mir Teil 1 um die Berliner Hebamme Hulda Gold aus den Zwanziger Jahren des
20. Jahrhunderts sehr gut gefallen hat, wollte ich natürlich wissen, wie es mit ihr weitergeht. Seitdem sie im ersten Band "Schatten und Licht" als Figur eingeführt wurde und einen Mordfall in ihrem Schöneberger Viertel gelöst hat, ist über ein Jahr Zeit vergangen. Wir sind nun im Herbst des Jahres 1923. Die Inflation befindet sich auf dem Höhepunkt und ein Hühnerei kostet Millionen. Die Armen sind noch ärmer, viele Bürger bekommen keinen Lohn, die politische Rechte erstarkt. Hulda ist immer noch die engagierte Hebamme vom Winterfeldtplatz. Aufgrund ihres jüdischen Vaters wird sie zu einer Geburt ins Scheunenviertel zu einer jüdosch-orthodoxen Familie gerufen. Das Baby verschwindet wenige Tage nach der Geburt und Hulda muss erneut ermitteln.

Diesmal liegt der Fokus nicht so sehr auf dem Kriminalfall. Das verschwundene Baby und der Fall rund um die Kinderhändler vom Scheunenviertel, mit dem sich Kriminalpolizist und Huldas Boyfriend Karl auseinandersetzen muss, sind zwar das Movens der Handlung, als historischen Krimi würde ich diesen mittleren Band der Reihe aber dennoch nicht bezeichnen. Es ist eher eine sehr ausgeklügelte Milieustudie des Berlins von 1923. Es geht sehr viel um die angespannte gesellschaftspolitische Situation und die prekären Bedingungen, in der die Berliner damals lebten.

Obwohl wir tiefer in Huldas Geschichte eintauchen und ihre Persönlichkeit noch besser kennenlernen, hält dieser Band das Geschehen rund um die Protagonistin in einer Schwebe, schließlich soll ihr Schicksal erst im finalen dritten Band besiegelt werden. Am Ende wird schon angedeutet, in welche Richtung sich Hulda beruflich weiterentwickeln will. Ob sie aber mit Karl zusammenbleibt oder zu ihrer ersten Liebe, dem unglücklich verheirateten Felix Winter zurückkehrt, bleibt offen.

Der Roman ist auch diesmal besonders eindringlich und es geht oftmals um Fragen der Identität, in die wir gewissermaßen hineingeboren werden. Was bedeutet es, im Berlin der 1920er Jahre arm zu sein oder jüdisch, wenn auch nicht religiös? Hulda stellt sich diese letzte Frage zum einen, weil sie es mit einer orthodox lebenden jüdischen Familie zu tun hat und andererseits, weil rechte Parolen, Ressentiments und Anschläge in der Weimarer Republik zunehmen und sie diese auch am eigenen Leib zu spüren bekommt.

Besonders schön fand ich auch diesmal wieder das Zusammenspiel Huldas mit Bert, dem freundlichen Zeitungsverkäufer des Kiezes. Ich finde der Schlagabtausch der beiden hellt das doch recht düstere Geschehen zwischendrin immer etwas auf. Die Lebensweisheiten, die Bert von sich gibt, haben sowohl eine humorvolle, als auch eine philosophische Komponente. Auch ist der Kioskbesitzer eine wunderbare Quelle für Klatsch und Tratsch aus dem Viertel und Wissen aller Art. Diese Szenen sind auch nochmal eine weitere Möglichkeit, Hulda besser kennenzulernen, denn dem väterlichen Freund Bert offenbart sie sich wie kaum einem anderen. Außerdem lässt die Autorin durch die Gespräche der beiden die aktuelle politische Situation immer mal wieder mit einfließen. Diesmal wird auch etwas mehr über Berts Vergangenheit angedeutet.

Fazit: Ein schöner mittlerer Band dieser Reihe, der uns den Berliner Herbst von 1923 in all seinen Facetten nahe bringt. Als historischer Roman sehr akkurat, gut recherchiert und lesenswert, wenn auch nicht so spannend und krimihaft wie der erste Teil.

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Samstag, 21. November 2020

"Teatime mit Lilibet" von Wendy Holden

 

Die Windsors zwischen Fakten und Fiktion

Dass Elizabeth die Zweite, Königin von England, ein sechsjähriges Mädchen war, ist fast 90 Jahre her. Damals, 1932, war sie Prinzessin und die Tochter des Herzogs und der Herzogin von York und wurde von allen nur "Lilibet" gerufen. Dass sie einmal Königin von England werden würde, sogar die mit der längsten Amtszeit aller Zeiten, wusste sie damals noch nicht. Wie auch, ihr Onkel David, der spätere Edward VIII., war als Prinz von Wales Thronfolger und ihr Vater Albert "nur" die zweite Wahl. Dass er als George VI. später König und sie Thronfolgerin werden würde, galt als unwahrscheinlich. Dennoch ist es mit der Abdankung ihres Onkels im Zuge seiner Beziehung mit der Amerikanerin Wallis Simpson im Dezember 1936 so gekommen. Fiktionale Bearbeitungen vom Leben der Queen gibt es einige. Wendy Holdens Roman "Teatime mit Lilibet" befasst sich nun mit der Zeit, in der Elizabeth zwar eine privilegierte Prinzessin, aber von der Bürde des Throns noch nicht gezeichnet war - zunächst zumindest.

Die Protagonistin des Romans, Marion Crawford, war tatsächlich für 16 Jahre die Gouvernante der späteren Queen und ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Prinzessin Margaret. Crawford hat sogar ein Buch über die Kindheit der Queen und ihrer Schwester geschrieben ("The little Princesses"), das Wendy Holden als Quelle und Inspiration für ihren Roman gedient hat. Dieses Buch hat auch zum Bruch der Royals mit Crawford geführt, d.h. über die langjährige Gouvernante wurde nicht mehr gesprochen, sie wurde in der Öffentlichkeit totgeschwiegen. Um also nachprüfen zu können, wie viel in diesem Roman Fiktion ist und welche Fakten den Lebenserinnerungen Crawfords entstammen, müsste man beide Bücher gelesen haben.

In "Teatime mit Lilibet" wird die glamouröse Welt der Royals nicht verklärt - im Gegenteil. Die Protagonistin, die eigentlich die Armen und Bedürftigen in ihrer schottischen Heimat unterrichten wollte, ist gleichzeitig fasziniert und abgestoßen vom dekadenten Leben der königlichen Familie. Sie gerieren sich für Außenstehende wie Schauspieler, bei denen sich die öffentliche von der privaten Rolle eklatant unterscheidet. Dennoch sind sie auch Menschen mit Begierden, Krankheiten und Träumen. Als skurril wird das Verhalten fast aller Royals beschrieben. Wenn sie zum Beispiel einerseits "bodenständigen" Aktivitäten wie Gartenarbeit nachgehen und gleichzeitig wie selbstverständlich von Dienern, Gold, Diamanten und Überfluss umgeben sind. Crawford versucht die junge Elizabeth mit wirklich bürgerlichen Aktivitäten ("Operation Normal") wie U-Bahn-Fahren und Einkaufen sowie kindgerechter Kleidung ohne Tüll und Spitze vertraut zu machen. Das ist das eigentliche Verdienst der linksorientierten Gouvernante aus Schottland, die auch die Kehrseite der Medaille und das prekäre Leben der Armen kennt, das sie der verwöhnten Prinzessin nahe bringen möchte. Immer wieder aber scheitert sie in ihrer Mission an den elitären Regeln der "Firma".

Sprachlich ist der Roman nicht anspruchsvoll und wenn man sich ein wenig mit der Geschichte der Windsors beschäftigt hat, sollte es auch keine Verständnisprobleme geben. Erzählerisch hätte manches etwas mehr ausgearbeitet werden können, vieles wird nur anerzählt und mündet dann schon wieder im nächsten Ereignis. Zum Beispiel die Gedanken angesichts der "Männergeschichten" von Crawfie (so wird sie von Elizabeth genannt) sowie ihre Zerrissenheit zwischen Königshaus und Edinburgher Slums bzw. einem erzwungenen Singledasein als königliche Gouvernante und dem Wunsch nach Liebe und Familie bleiben nur oberflächlich. Es gibt viele Zeitsprünge und allgemein wird sehr episodisch erzählt. Manchmal gleichen die Ausführungen der Autorin auch Auszügen aus einem Geschichtsbuch. Der Roman wird vor allem in der zweiten Hälfte mit den geschichtlichen Ereignissen der damaligen Zeit unterfüttert. Die Handlung wird im Zuge dessen immer dünner und hangelt sich an den historischen Fakten entlang.

Wenn man sich so wie ich für die englische Königsfamilie interessiert, ist dieser Roman eine wunderbare Gelegenheit einmal durchs royale Schlüsselloch zu linsen. Wie gesagt sollte man wissen, dass nicht ganz klar ist welche erzählten Ereignisse (abseits der historischen Fakten) und Gespräche der Erinnerung der realen Marion Crawford, Wendy Holdens Einbildungskraft oder einer anderen Quelle entstammen. Wer einen Abgleich des Erzählten machen möchte, sollte also neben dem Roman zumindest noch Crawfords Autobiografie lesen. Auf meiner Wunschliste steht sie bereits.

Herzlichen Dank an die Ullstein Buchverlage sowie vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

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Dienstag, 17. November 2020

"Amadeus auf dem Fahrrad" von Rolando Villazón

 

Zauberhafter Mozart- und Salzburgroman

Der weltbekannte Tenor Rolando Villazón hat mit "Amadeus auf dem Fahrrad" seinen dritten Roman vorgelegt, für mich war es sein erster, wird aber nicht der letzte bleiben. Der sympathische mexikanische Opernsänger mit dem gewissen Etwas hat hier nicht etwa einen autobiografischen Roman über seine illustre Bühnenkarriere geschrieben, aber seine Erfahrungen in der Klassik- und Opernbranche sowie mit der Festspielstadt Salzburg sind mit Sicherheit in dieses Buch mit eingeflossen.

Wir begleiten in “Amadeus auf dem Fahrrad” den jungen Mexikaner Vian Maurer, der davon träumt, Opernsänger zu werden. Leider möchte der konservative Vater lieber, dass er in ein Unternehmen eintritt und die Künstlerträume ad acta legt. Nach einigen erfolglosen Versuchen in Europa als Sänger Fuß zu fassen, wird er als stummer Komparse in einer "Don Giovanni"-Inszenierung für die Salzburger Festspiele engagiert. Der Vater gönnt Vian zähneknirschend diesen einen letzten Künstlersommer in der österreichischen Festspielstadt, bevor er in Mexiko einen Bürojob anzutreten hat. Der Roman handelt also von diesem Festspielsommer, in dem der junge Mann sein Glück in der Mozartstadt sucht. Vian ist durch und durch ein Träumer und so bewegt er sich auch traumwandelnd und traumtänzerisch durch den Salzburger Festspielsommer. Wunderbar und kenntnisreich beschreibt Villazon die aufgeladene Atmosphäre, die diese Theaterfestspiele jedes Jahr so einzigartig machen.

Der Roman ist einerseits voller Komik, zum Beispiel stolpert Vian immer wieder in witzige Situationen, die die ihm unerwünschte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen. Er spricht mit Statuen und handelt oft völlig selbstvergessen und spontan - auf der Bühne und abseits davon. Andererseits hat das Buch auch ernste Züge. Vian hat schon einige tragische Erlebnisse hinter sich, wie zum Beispiel den Verlust seiner Mutter. Es ist auch traurig mit anzusehen, wie er immer wieder versucht, seine Liebe für das Singen und die Bühne zum Beruf zu machen und kläglich an seiner Talentlosigkeit scheitert. Die unheilvolle - platonische - Dreiecksbeziehung mit dem teuflischen Schauspieler Jacques und der engelsgleichen Produktionsassistentin Julia rückt das Buch zudem ins Märchenhafte bzw. Fantastische.

Die Liebe und Verehrung des Autors für den berühmtesten aller Komponisten zieht sich leitmotivisch durch den Roman. Mozart ("Trazom") ist in diesem Buch omnipräsent, er lauert hinter jeder Ecke, seine Geschichte steckt in jedem Buch, das Vian liest, seine Musik liegt wie eine frische Brise in der schwülen Salzburger Sommerluft. Ironischerweise sucht unser Protagonist Vian genau in dieser Stadt sein Glück, der Mozart unbedingt entfliehen wollte. Während Salzburg für ihn wie ein Gefängnis war, ist es für Vian die letzte Bastion der Freiheit, bevor er sein Leben eingesperrt in einem Büro in Mexiko verbringen muss. Mozart wird zu Vians Alter Ego und unsichtbarem, stets präsentem Freund.

Mit ganz viel Esprit, Pathos, Poesie und Humor erzählt Villazón Vians Geschichte, die oft surreal und expressionistisch anmutet. Vians Einbildungskraft ist groß, seine Träume sehr bildgewaltig, er ist sensibel, sein Empfinden synästhetisch, Farben wirken sich auf seine Stimmung aus. Er ist ein tragikomischer Sancho Pansa, eine empfindsam Künstlerseele, die gegen die Windmühlen der Realität von Geldmangel und Erfolglosigkeit kämpft. Man muss diesen Protagonistin, der in vielem seinem Verfasser ähnelt, einfach mögen, ihn ins Herz schließen und den Kopf über seine kindliche Unbedarftheit schütteln.

Fazit: Ich mochte dieses bezaubernde Buch sehr gerne und kann es für alle Liebhaber von Mozart, Salzburg, Villazón und der Opernwelt an sich sehr empfehlen!

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Sonntag, 15. November 2020

"Die Sünden der Gerechten" von Peter Tremayne

 

Mord und Totschlag im Irland des 7. Jahrhunderts

"Die Sünden der Gerechten" ist mittlerweile der sage und schreibe einunddreißigste Band in der Reihe um Schwester Fidelma von Cashel. Das Besondere an dieser Krimireihe ist, dass sie sich im Irland des 7. Jahrhunderts nach Christus abspielt. Irland befindet sich zu dieser Zeit in einem noch immer frühen Stadium der Christianisierung, wobei der alte keltische bzw. heidnische Glaube noch von vielen praktiziert wird. Langsam kommt auch die neue Lehre aus Rom dazu, der Katholizismus, der dem Urchristentum viele Änderungen und Gesetze überstülpt. Um religiösen Fanatismus und die widerstreitenden Glaubensrichtungen geht es auch in diesem Roman. Vor allem aber um Allzumenschliches, nämlich Rache und Habgier.

Diesmal spielt sich die Handlung in dem kleinen irischen Dorf Cloichin ab. Fidelma und Eadulf kommen zufällig dazu, als ein vermeintlicher Vierfachmörder von einem aufgebrachten Mob auf Anordnung des Predigers Bruder Gadra gehenkt werden soll. Bei dem Mann handelt es sich um einen Wanderarbeiter, der mit seiner Familie nur eine Nacht auf dem Bauernhof des Mordopfers Adnán verbrachte. Am Morgen wurden der Bauer, seine Frau und seine beiden Söhne ermordet aufgefunden. Schwester Fidelma und Eadulf können den Tod des Wanderarbeiters verhindern und beginnen im Dorf zu ermitteln, wobei die dunklen Geheimnisse und menschlichen Abgründe der Dorfbewohner langsam zu Tage treten.

Die Hauptfigur der Reihe, die keltische Nonne Fidelma, ist eine toughe Frau, die ihren Weg geht und vor allem an eins glaubt: Gerechtigkeit. Schließlich ist sie auch eine Dàlaigh, eine Art Anwältin des Königs, der ihr Bruder ist. Fidelma ist eine analytisch agierende Ermittlerin, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Ich bin ihr leider erst in diesem dreißigsten Band begegnet, deshalb kann ich zu ihrer Charakterentwicklung innerhalb der Reihe nichts sagen. Eadulf, ihr Partner und Gefährte, ist mehr der Typ Dr. Watson. Er wartet erst ab, welche Ermittlungsrichtung Fidelma einschlägt und gibt dann seine Meinung kund. Die anderen Figuren des Romans kommen etwas stereotyper daher, aber das ist bei einem solchen Krimi meiner Meinung nach auch in Ordnung.

Ich finde der Autor beschreibt die Dynamik in diesem frühmittelalterlichen Dorf, in dem jeder ein Geheimnis zu haben scheint, sehr gut. Die Fronten sind ziemlich verhärtet und fast alle Bewohner haben ihre eingefahrenen Meinungen bzw. unverbrüchlichen Vorurteile über Andersdenkene, Andersgläubige, Fremde und sonstige Außenseiter der Gesellschaft. Aber auch die etablierten Dörfler bekommen ihr Fett weg. Es herrschen Neid und Missgunst. Umso erfrischender sind die vorurteilslosen Ermittlungen Fidelmas, die die Menschen nur nach ihren Taten und ein Verbrechen anhand der Beweise beurteilt.

Dass der Autor Historiker ist merkt man an einigen Stellen überdeutlich. Er lässt zahlreiche historische Ereignisse und Fakten der Rechts- sowie der Religionsgeschichte in die Gespräche der Figuren mit einfließen. Außerdem geht es oft um das irische Rechtssystem des 7. Jahrhunderts nach Christus. Für den unkundigen Leser (wie ich einer bin) muten diese Rechtsbegriffe und juristischen Konzepte eher exotisch an. Ich habe mich damit schwer getan und fand die Stellen sehr langatmig. Für einen Krimi ist das Buch mit fast 500 Seiten relativ lang und die Handlung nimmt auch erst im letzten Drittel so richtig an Fahrt auf. Ich hatte immer wieder Probleme die vielen keltischen Namen auseinanderzuhalten, von den Rechtsbegriffen wie schon gesagt ganz zu schweigen. Am Anfang findet sich zwar ein Personenverzeichnis, das ich als Leserin des Ebooks aber nicht so richtig nutzen konnte.

Nichtsdestotrotz gefällt mir diese historische Krimireihe, die meiner Meinung nach auch für Neueinsteiger geeignet ist, ganz gut und vor allem die starke Hauptfigur Schwester Fidelma. Ob ich noch weitere Bände der Reihe lesen werde, weiß ich noch nicht.

Herzlichen Dank an den Aufbau Verlag und netgalley für das digitale Rezensionsexemplar!

Nähere Infos zum Buch und zur Reihe (Klick aufs Cover):


Donnerstag, 12. November 2020

"Elmet" von Fiona Mozley

 

Elmet, eine gesellschaftliche Utopie

Die Themen alternative Lebensentwürfe jenseits der Mainstream-Gesellschaft, "zurück zur Natur", Ökologie, Selbstversorger und Aussteigen sind in der aktuellen Belletristik gerade sehr en vogue. Auch hier kommt es aber auch wieder auf das "Wie" an, denn ob eine Geschichte den Leser berührt, kann nicht allein durch eine den Zeitgeist erfüllende Thematik erreicht werden. Es muss einfach das Gesamtpaket stimmen, denn was nützt die beste und brisanteste Thematik wenn Erzählweise, Plot und Figurenzeichnung nicht stimmen?

In Fiona Mozleys "Elmet" stimmt alles. Nicht umsonst wurde der Roman 2017 für den "Booker Prize" nominiert. Archaisch und fesselnd erzählt die Buchhändlerin Mozley ihre Geschichte. In dieser geht es um Moral, Recht und die Sehnsucht nach einem Idyll. John Smythe verlässt seine Dorfgemeinschaft und zieht mit seinen jugendlichen Kindern Cathy Oliver und Daniel Oliver nach Elmet, ein Landstrich in Yorkshire, der früher einmal ein britannisches Königreich war. Hier hausen die drei total abgeschieden in einem Wäldchen und dort in einer aus Lehm und Haselzweigen selbst gebauten Hütte in der Nähe der Eisenbahnlinie London-Edinburgh. Der Vater verdient sein Geld mit Faustkämpfen, gegessen wird vor allem selbst erlegtes Wild, Eier der eigenen Hühner und selbst angebautes Gemüse. Bildung erhalten die Kinder durch Vivien, eine Freundin der abwesenden Mutter, deren Schicksal zunächst im Dunkeln bleibt. Das utopistische Projekt vom Selbstversorger-Leben in der Natur wird jäh gefährdet durch das Auftauchen des Großgrundbesitzers Mr. Price. Obwohl er mit dem Land, auf dem das Häuschen der Familie Oliver/Symthe steht, nichts anfangen will, beansprucht er selbiges für sich. Es beginnt ein zunächst kalter Krieg, bei dem es nur Verlierer geben kann.

Ganz langsam entfaltet sich die Tragik dieses Romans. Leise und eindringlich entwickelt sich der Spannungsbogen. Dem Leser schwant bereits am Anfang Böses, denn direkt im ersten Kapitel wird angedeutet, dass das "Projekt" Elmet gescheitert ist. Hier spricht die Stimme des Erzählers Daniel im Präsens, kursiv gesetzt. Solche erzählerischen Intermezzi bzw Stimmen aus der Gegenwart des Erzählers gibt es zwischendurch dann noch öfters. Sie durchbrechen die in Rückblenden erzählte Handlung. Was ist vorgefallen, fragt sich der Leser, wie konnte diese Familie mit ihrem alternativen Dasein so krachend scheitern? Warum ist der Traum vom Einsiedlerleben im Wald geplatzt? "Elmet" ist ein durch und durch sozialkritischer Roman über "Haben und Sein", der den Kapitalismus und seine oftmals menschenverachtenden Prinzipien in Frage stellt. Der ominöse Mr. Smith steht für den Kapitalismus in Reinkultur, also für das "Haben" als Eigenwert, während die Familie Oliver/Smythe einfach nur "sein" möchte und zwar auf dem Land, das sie sich zum Leben auserkoren hat.

Es ist eine trostlose, sehr traurige und brutale Geschichte, die Fiona Mozley sich ausgedacht hat - "bleak" wie man im Englischen sagen würde. Sehr atmosphärisch ist dieser Roman, beklemmend und doch von ausnehmend schöner Sprache, die niemals überfrachtet oder gekünstelt daherkommt. Ein kleines Juwel der Erzählkunst und noch dazu ein Debütroman!

Herzlichen Dank an das Bloggerportal von Randomhouse und an btb für das Rezensionsexemplar! Das broschierte Buch ist besonders schön gestaltet und durch das gerippte Cover auch haptisch ein Genuss.

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Freitag, 6. November 2020

"Eine Räuberballade" von Annegret Held


Historischer Heimatroman - Achtung: Dialekt!

Der Westerwald im 18. Jahrhundert ist sicher kein geo-historisches Setting, mit dem ich mich zuvor schon einmal beschäftigt hätte. Aber man soll sich ja immer mal wieder aus der eigenen Lese-Komfortzone hinausbewegen und das habe ich mit "Eine Räuberballade" wahrlich gemacht. Es ist der dritte und abschließende Teil von Annegret Helds "Westerwald-Chronik". Die Autorin geht dabei chronologisch in der Zeit zurück. Während der erste Teil "Apollonia" (erschienen 2012) das 20. Jahrhundert beleuchtet, geht es in "Armut ist ein brennend Hemd" (2015) um die prekären Verhältnisse der dörflichen Bevölkerung im 19. Jahrhundert. Nun also besuchen wir das Jahr 1796. Während Goethe und Schiller in Weimar ihre Verse schreiben und mit Kant die Philosophie der Aufklärung entsteht, ist es um die Bildung der Dorfbevölkerung im tiefsten Westerwald weniger gut bestellt. Es sind die "einfachen Leute", die in diesem Buch zu Wort kommen - und das in ihrer eigenen Mundart, dem "Westerwälder Platt". Gottesfürchtig führen die Scholmerbacher und die anderen Westerwälder ein glanzloses und bescheidenes dörfliches Leben. Nur die junge Generation begehrt auf: Hannes, der Sohn des frommen Wilhelm, sucht nach den Züchtigungsbestrebungen seines Vaters das Weite und schließt sich - eher unfreiwillig - einer Räuberbande an. Auch die junge Gertraud möchte nicht in Scholmerbach versauern und geht als als Magd eines Müllers ins Nachbardorf. Der Leser folgt ihren Coming-of-Age-Geschichten und darf sich außerdem fragen, ob Hannes’ Vater Wilhelm es schafft, Scholmerbach mit einer eigenen Kirche auszustatten und seiner dementen Frau Lina treu zu bleiben. Überhaupt sind es die Freuden der körperlichen Vereinigung, die im Buch viel Raum einnehmen und die die Figuren umtreiben.

Der Roman hat eien ganz eigenen spröden Charme. Man spürt die Liebe der Autorin für ihre Charaktere, die sich mit Bauernschläue und Gottvertrauen ihr Stück vom Glück abtrotzen wollen, mit jedem Wort. Die Charaktere bleiben bei aller scheinbaren Lebendigkeit aber dennoch sehr schematisch. Sie wirken nicht wie echte Menschen sondern wie figurative Sinnbilder, die für etwas stehen sollen. Ein modernes Einfühlen in die Figuren ist meiner Meinung nach nicht möglich.

Zu Sprache und Erzählweise: Die Verwendung des Dialekts (z.B. "Eysch" = Ich; "Dou" = Du, "meysch" = mich) in den Dialogpartien stellt eine ziemliche Herausforderung für den Leser dar, der mit dieser sehr speziellen Mundart nicht vertraut ist. Natürlich trägt es zur Authentizität der Geschichte bei, allerdings geht diese auf Kosten der Lesbarkeit. Ich muss ehrlich sagen, dass mich persönlich das Lesen dieses Dialekts unheimlich angestrengt und zeitweise auch genervt hat, so dass ich zwischendurch immer wieder kurz vorm Abbruch des Buches stand. Ansonsten ist die Sprache teilweise - auch in den Erzählpassagen - künstlich “einfach” gehalten und derb, mit Kraftausdrücken wird nicht gespart. Der Roman wird außerdem nicht durch Kapitel unterteilt. Lediglich Absätze markieren eine Änderung des Settings. Es gibt Zeitsprünge, z.B. vom Jahr 1796 ins Jahr 1798, aber auch diese werden nur durch "normale" Absätze gekennzeichnet.

Fazit: Eine interessante historische Milieustudie, die für mich aufgrund des Dialekts dennoch ein hartes Stück Lesearbeit war. Kann ich nur für Liebhaber mundartlich gefärbter Heimatromane oder der Region empfehlen.

Herzlichen Dank an die Bloggerjury und den Eichborn Verlag von Bastei Lübbe für das Rezensionsexemplar!

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Sonntag, 1. November 2020

"This House is Haunted" von John Boyne

 

Enigmatisch-packender Schauerroman

"I blame Charles Dickens for the death of my father." So lautet der kuriose erste Satz dieses historischen Romans von 2013, der in der Tradition des englischen Schauerromans steht. Er greift Motive der "Gothic novel" von Charlotte Brontës "Jane Eyre" bis hin zu Daphne du Mauriers "Rebecca" auf und generiert doch gleichzeitig einen ganz eigenen individuellen Zugang zum Genre. Auch Elemente des Horrors, des Kriminalromans und des Psychothrillers werden in "This House is Haunted" verarbeitet.

London 1867: Die 21-jährige Eliza Caine verliert nach einer Lesung von Charles Dickens ihren geliebten Vater und einzigen engeren Verwandten (die Mutter starb bei der Geburt ihrer jüngeren Schwester). Während ihr Vater als Entomologe am Britischen Museum beschäftigt war, ist Eliza Lehrerin an einer Schule für Mädchen, wo sie die 5-6-jährigen unterrichtet. Aufgewühlt vom plötzlichen Verlust ihres Vaters, sieht die junge Frau eine Anzeige für eine Stelle als Gouvernante in Norfolk. Begierig ihrer Einsamkeit in London zu entfliehen, kündigt sie ihre Stelle als Lehrerin und macht sich auf den Weg in die ihr unbekannte Grafschaft. Nachdem bereits die Reise mit unheimlichen Zwischenfällen einherging, erlebt Eliza bei ihrer Ankunft auf “Gaudlin Hall” schier Unglaubliches: Die beiden Kinder Isabella und Eustache empfangen sie, von Erwachsenen fehlt jede Spur. Und das ist nur der Anfang von einer Kette von unerklärlichen Ereignissen, die die Protagonistin auf eine harte Probe stellen.

"Gaudlin Hall" ist ein typisches englisches Herrenhaus, das schon bessere Tage gesehen hat und damit prädestiniert als Schauplatz für eine "Gothic novel". Aber nicht nur das abgewirtschaftete Herrenhaus selbst erzeugt eine gruselige Atmosphäre. Auch die Bewohner oder vielmehr ihre Abwesenheit, lassen beim Leser viel Raum für Schauder und Spekulationen über die wahre Natur ihres Verschwindens. Zahlreiche Nebenfiguren spinnen ein Netz aus Gerüchten und Geschichten, aus dem Eliza sich einen Weg zur Wahrheit bahnen muss. Sie ist eine starke Protagonistin, die niemals an ihrem eigenen Verstand zweifelt. Bodenständig, mutig und sympathisch versucht sie die Abgründe von “Gaudlin Hall” auf eigene Faust zu ergründen.

Was mir besonders gefallen hat: Der Roman strotzt nur so vor Intertextualität. Neben Charles Dickens (wir erinnern uns an den ersten Satz), der mit seinen Texten und auch als extrem erfolgreicher Autor der viktorianischen Zeit, in der der Roman spielt, quasi leitmotivisch erwähnt wird, werden noch viele andere AutorInnen bzw. Ihre Werke genannt. Neben Shakespeare, den Eliza gerne zur Sprache bringt, wird u.a. die Lektüre von Jane Austen (“Pride & Prejudice”) sowie George Eliot bzw. Mary Ann Evans (“Silas Marner”), die zur Handlungszeit des Romans noch lebte, erwähnt.

Als Schauerroman und “moderne” Gothic novel kann ich diesen Roman, bei dem dem Leser niemals langweilig wird, unbedingt empfehlen.

Der Roman ist auf Deutsch beim PIPER Verlag als "Haus der Geister" erschienen.

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Mittwoch, 28. Oktober 2020

"Ungebunden. Das Leben als alte Jungfer" von Malin Lindroth


Trauriges Manifest einer Übriggebliebenen

Beziehungen lassen sich nicht erzwingen, Liebe ist unberechenbar. Also kann uns in unseren modernen differenzierten Zeiten voller unbegrenzter Möglichkeiten auch niemand garantieren, dass wir in unserem Leben einen (oder mehrere) Partner finden, mit ihm oder ihr eine Familie gründen und im Alter händchenhaltend auf der Gartenbank sitzen. Die Zeit der Konvenienzehen ist vorbei und somit entscheiden auch nicht mehr unsere Eltern, mit wem wir durchs Leben gehen. Wir entscheiden es - scheinbar, denn was machen, wenn wir niemals ein Gegenüber finden, das genau das auch will und zwar mit uns? Von exakt diesem Problem handelt Malin Lindroths Essay "Ungebunden", ein schmales Sachbuch von gerade einmal 112 Seiten. Für sie heißt das Problemphänomen "Alte Jungfer" und die Autorin bezeichnet sich selbst als solche: Sie ist Mitte fünfzig, unverheiratet, kinderlos, heterosexuell und hatte seit ihren frühen Zwanzigern keine feste Beziehung mehr, nur noch zwanglose Affären. Eine "Jungfrau" im herkömmlichen Sinne ist sie also nicht, sie hat es nur nicht geschafft, eine dauerhafte feste Beziehung zu einem männlichen Gegenpart einzugehen und eine Familie zu gründen. Für die westliche Gesellschaft, die für Frauen immer noch die konventionelle Lebensform Familie mit eigenen Kindern vorsieht, ist sie also eine Gescheiterte. Vor allem für Frauen ist Beziehungslosigkeit, die in den meisten Fällen auch mit Kinderlosigkeit einhergeht, ein Stigma.

Lindroth dekonstruiert nicht das Klischee von der Alten Jungfer, im Gegenteil. Sie weigert sich, ihre "Altjungfernschaft" als Triumph anzusehen und sie etwa als individualistische Entscheidung für ein autonomes Leben zu stilisieren, denn das war sie nicht. Die Liebe hat sich einfach nicht ergeben. Obwohl sie als Frau ihren Beitrag zur Gesellschaft anderweitig geleistet hat, nämlich als Journalistin, die zum Wissenserwerb und kulturellen Überbau ihres Landes beigetragen hat, sieht sie sich als erfolglos an, denn in der Welt der Liebe und Familie hat sie es nicht geschafft zu prosperieren. Aus dem Essay spricht sehr viel Verbitterung und ganz unverhohlen auch Neid gegenüber den Frauen, die es eben geschafft haben, dem Schicksal der "Alten Jungfer" zu entgehen. Lindroth feiert alle anderen Altjungfern der Geschichte, wie z.B. Bertha von Suttner, die ihre ganze Liebe eben nicht in einen Mann und Familie, sondern beispielsweise in wohltätiges Handeln gesteckt haben.

Sollte man sich selbst als "Alte Jungfer" definieren, würde ich "Ungebunden" nicht als Gute-Nacht-Lektüre empfehlen, denn ich finde der Grundtenor zieht schon etwas runter, macht die Leserin traurig statt ihre Lebenssituation als Möglichkeit zur Selbstentfaltung und als modernen weiblichen Lebensentwurf zu feiern. Vielleicht ist aber genau das der Sinn dieses Buches: Lindroth ist unfreiwillig kinderlos und Single geblieben und das findet sie einfach doof, ungerecht und niederschmetternd. Dahinter steckt ganz viel Seelenschmerz, den die Autorin in ihrem "Manifest einer Übriggebliebenen", wie ich es nennen möchte, verarbeitet. Ich kann sie verstehen, würde sie gerne in den Arm nehmen und finde das Thema auch sehr wichtig, dennoch bin ich mir unsicher, ob die Lektüre für die Zielgruppe bereichernd ist oder ob sie einfach nur noch mehr deprimiert.

Herzlichen Dank an den PIPER Verlag und netgalley für das digitale Rezensionsexemplar!

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Sonntag, 25. Oktober 2020

"Hamnet" ("Judith & Hamnet") von Maggie O'Farrell

 
Wie “Hamnet” zu “Hamlet” wurde

Shakespeare als Vaterfigur und Familienmensch - das ist der radikal neue erzählerische Ansatz von Maggie O'Farrells Roman "Hamnet" (Dt. "Judith und Hamnet"). Das größte literarische Genie aller Zeiten - umgeben und reflektiert von seiner Familie. Das Dramatis Personae dieses Romans im Kern: Der ehrgeizige Vater John (Shakespeare), Handschuhmacher aus Stratford-upon-Avon; seine Frau Mary (Arden), die Mutter des Genies und seiner Geschwister, von denen einige auch vorkommen (Gilbert, Eliza); die Ehefrau Agnes (eigentliche Lesart: Anne), Tochter eines Schäfers, Freigeist und Seherin, Heilerin, Kräuterfrau; ihr leiblicher Bruder Bartholomew; ihre Stiefmutter Joan und deren Kinder; schließlich die Kinder von Agnes und William Shakespeare: Susanna & die Zwillinge Judith und Hamnet. Und natürlich: Der Barde selbst, zunächst Lateinlehrer, dann "Handschuhvertrer" in London, dann voll und ganz Theatermensch: Schauspieler, Regisseur, Intendant und schließlich und vor allem: Dramatiker, Poet, literarisches Genie ohne Gleichen - “not of an age but for all time”.

Das Kuriosum: Shakespeare bleibt die einzig namenlose Figur des Romans. Die Erzählstimme bezeichnet ihn lediglich als "der Ehemann" oder "der Vater", Nachnamen werden auch nicht verwendet. Das ist ebenfalls sehr radikal und spannend: Das größte Individuum der Literaturgeschichte, über das wir de facto so wenig wissen, wird in diesem Roman seiner Identität und seiner Individualität auf gewisse Weise beraubt und das ist so großartig, mutig und radikal, dass es mir den Atem raubt.

Auf zwei Zeitebenen wird die Handlung erzählt: Die Geschichte von Hamnets Tod im Alter von 11 Jahren im Jahr 1596 ist die Haupthandlung. Alternierend wird in Rückblicken die Beziehung von Agnes und Shakespeare chronologisch erzählt. Im Mittelpunkt steht dabei Agnes, die Ehefrau und Mutter von Shakespeareas drei Kindern. Sie ist das Zentrum dieser Familie, die einen schweren Verlust erleidet, fast daran zerbricht und am Ende durch diesen Verlust, der in Kunst transformiert wird, wieder zueinander findet.

Die Handlung, die im Roman beschrieben wird, ist manchmal statisch wie auf einem Gemälde und gleichzeitig lebendig, virulent und flirrend. In Stratford geschieht alles ganz ruhig, gemächlich und besonnen, während die Szenen in London einem überfüllten Wimmelbild gleichen. Die Sprache ist einfach, natürlich, greifbar und passt so wunderbar zum Beschriebenen, dass es schon fast schmerzt, wie akkurat und auf den Punkt sie ist. Auch in der Übersetzung kommt das rüber, die Übertragung ins Deutsche ist zu 100% gelungen, meiner Meinung nach.

O'Farrell verwendet viele Sprachbilder sowie Onomatopoesie, also lautmalerische Wendungen, die eine sinnliche Kulisse erschaffen und das Geschehen im Kopf des Lesers lebendig werden lassen: Das wiederholte Klopfen an einer Tür, das Geräusch des Waschens auf dem Waschbrett, die Äpfel auf ihrem Winterlager, die durch menschliche Bewegung vibrieren. Das macht die Erzählung ungeheuer sinnlich und plastisch - einfach lebendig.

Die Autorin hat Elemente des magischen Realismus in die Handlung verwoben: Es gibt unerklärliche Vorkommnisse, also “Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich der Schulweisheit entziehen”, um "Hamlet" sinngemäß zu zitieren. Gänsehaut erzeugen nicht nur die Vorahnungen von Agnes sondern auch die allwissende Erzählstimme, die über alle Entwicklungen - vergangene, zukünftige und gegenwärtige - im Leben der Familie Shakespeare Bescheid weiß. Magisch ist aber auch die Tatsache, dass Hamnet in “Hamlet” weiterleben wird und die Möglichkeit, dass endliches Leben in unsterbliche Kunst transformiert werden kann.

"(Judith und) Hamnet" ist aber auch der Roman einer Fernbeziehung. Eines liebenden Mannes und Vaters, der als Pendler lebt und der nur in der Großstadt die Arbeit machen kann, die er möchte. Eines Menschen aus einfachen bürgerlichen Verhältnissen, der es zum reichsten Mann von Stratford bringt, ohne dort wieder richtig zu leben - er bevorzugt seine Klause, die Junggesellenwohnung in der Stadt. Die Familie Shakespeare lebt ohne einander. Diese Komponente und das Thematisieren der Infektionskrankheit Pest, verleihen dem Roman einen modernen Anstrich.

Muss man “Stratfordianer” sein, um den Roman genießen zu können? Man muss sich schon - “willing suspension of disbelief” falls man dieser Theorie nicht Folge leistet - ganz einlassen auf die klassische Lesart, dass ein Handschuhmacherssohn aus Stratford-upon-Avon, der fernab höfischer Zirkel und ohne universitäre Bildung aufwuchs, diese weltberühmten Dramen und Gedichte schrieb und nicht etwa nur der “Strohmann” eines adeligen Verfassers war.

Ich könnte noch so viel über dieses Buch schreiben, es hat so viele Aspekte und wird mich sicher noch lange begleiten.

"Hamlet" ist ein Meisterwerk und “(Judith & )Hamnet" ist ein Meisterwerk unserer Zeit. Ob es zeitlos wie “Hamlet” ist, wird die Zeit zeigen.

Herzlichen Dank an den Piper Verlag und Netgalley für ein digitales Leseexemplar. Die abgebildeten Hardcover-Bücher habe ich selbst erworben.

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Donnerstag, 22. Oktober 2020

"Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" von Andrea Petković

Meisterin der feinen Ironie

Dieses Buch war für mich in jeglicher Hinsicht eine Überraschung, denn eigentlich mag ich Erzählungen nicht besonders. Auch Sport im Allgemeinen und Tennis im Besonderen kann ich nur wenig abgewinnen. Dennoch habe ich mich auf die autobiografischen Erzählungen von Andrea Petković eingelassen - zum Glück, denn sonst wären mir ein paar schöne Stücke kleiner Prosa entgangen, die eine ordentliche Portion Lebensweisheit und viele weise Betrachtungen einer noch jungen Frau und Sportlerin enthalten.

Petković nimmt uns mit auf eine literarische Reise durch ihr Leben und ihre Psyche. Sie erzählt von ihrer beständigen Furcht vor der Niederlage, die nicht nur auf dem Tennisplatz, sondern auch hinter jeder Ecke, in der Straßenbahn, im Klassenzimmer und vor allem aber in ihrem Kopf lauert. Humor, Literatur und Freundschaft sind ihre ständigen Begleiter im Kampf gegen die Angst vor dem Scheitern auf dem Tennisplatz, vor Verletzungen und auch gegen die vor dem Auffallen. Als Einwandererkind aus dem ehemaligen Jugoslawien (geboren wurde sie 1987 im bosnischen Tuzla) lernt sie schnell, sich anzupassen. Der Tennissport, so schwierig und fordernd er auch ist, wird zum Glückstreffer ihres Lebens, zur Möglichkeit sich aus dem eigenen Milieu herauszubewegen, die Welt kennenzulernen. Und dennoch, das zeigt uns die Autorin mit ihren Erzählungen, ist auch nicht jede glänzende Tennistrophäe aus dem Gold, das einem ein sorgloses Leben ohne Chaos, Zweifel und Enttäuschungen beschert, denn "zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" und die kann mitunter lang, düster und einsam sein.

Ja, es geht naturgemäß viel um Tennis in diesen Erzählungen. Die Autorin nimmt uns mit auf die Grand-Slam-Turniere, wo wir braungebrannten und gut gelaunten Australiern begegnen (Australian Open), rauchenden und modisch gekleideten Franzosen (French Open), hochnäsigen, Erdbeeren-mit-Sahne essenden Engländern mit Hut (Wimbledon) und schließlich schlecht gelaunten Großstadtneurotikern in Petkovićs Lieblingsstadt New York (US Open). Aber auch ihre Erlebnisse bei den weniger weltbekannten Turnieren, das intensive Training in Bulgarien beispielsweise, beeindrucken. Man sieht die Anstrengung, den vergossenen Schweiß auf der sonnenverbrannten Haut förmlich vor sich und gleichzeitig spürt man die Lebensfreude, die die Autorin bei allen Strapazen ausstrahlt, ihren Humor, ihre feine Ironie, mit der sie den Unwägbarkeiten des Daseins trotzt.

Philosophisch sind viele ihrer Aussagen - man merkt, es ist eine intellektuelle Sportlerin die hier schreibt und vor allem eine, die liest. Am besten hat mir dann auch das Kapitel "Best day ever" gefallen, in dem Petković uns von ihren Lieblingsbüchern und -autorInnen berichtet.

Mit ganz viel Selbstironie, Selbstreflexion und Selbstkritik erzählt Andrea Petković häppchenweise die Geschichte ihres Lebens. Mir hat das sehr gut gefallen - Chapeau!

Herzlichen Dank an den Kiepenheuer&Witsch Verlag sowie vorablesen für das Rezensionsexemplar!

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Dienstag, 20. Oktober 2020

"Die Gabe der Sattlerin" von Ralf H. Dorweiler

 

“Kabale und Liebe” mit den “Räubern”

Historische Romane funktionieren in der Regel dann, wenn sie uns glaubhaft vermitteln können, dass sich die erzählte Geschichte in der dargestellten Zeit genau so hätte abgespielt haben können. Dieses Gefühl der historischen Authentizität beim Leser zu erzeugen, gelingt Ralf H. Dorweiler mit "Die Gabe der Sattlerin" in jedem Fall. Für die Zeit der Lektüre sind wir einfach davon überzeugt, dass eine junge Sattlerin namens Charlotte, eine Räuberbande rund um den im 18. Jahrhundert berüchtigten Räuber Hannikel, der Arzt und Dichter Friedrich Schiller sowie der verschwendungssüchtige Herzog Carl Eugen von Württemberg auf einem Marbacher Gestüt im Sommer 1781 aufeinandergetroffen sind (in der historischen Wirklichkeit war das nicht der Fall). Zahlreiche interessante Nebenfiguren sowie Schauplätze in Württemberg, Baden und dem Schwarzwald (damals Hoheitsgebiet der Habsburger) komplettieren den Eindruck eines lebendigen historischen Romans. Das Setting also stimmt schon mal.

Alle Hauptfiguren in diesem Roman haben eine Mission, sie sind getrieben von der Jagd nach ihrem ganz persönlichen Glück. Die (fiktive) Protagonistin Charlotte, Tochter eines Sattlers, möchte der Ehe mit einem 20 Jahre älteren Amtmann entgehen und flieht mit unbekanntem Ziel auf ihrem Pferd Wälderwind einen Tag vor der anberaumten Hochzeit aus ihrem Heimatort Märgen. Der junge Regimentsarzt Friedrich Schiller möchte endlich seinen ihm zustehenden Sold erhalten und alle Leute behandeln dürfen, die bei ihm vorsprechen, nicht nur die Soldaten aus Carl Eugens Regiment. Außerdem muss er sein Theaterstück "Die Räuber" für die Mannheimer Bühne adaptieren. Zu seinem Verdruss wird er als Aushilfs-Rossarzt ans herzogliche Marbacher Gestüt geschickt, dabei sind ihm Pferde eigentlich suspekt…

Seine Durchlaucht, der Herzog von Württemberg, möchte seine langjährige Mätresse, die Gräfin von Hohenheim, heiraten, aber die Kirche macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Einstweilen lenkt er sich mit der Jagd nach extravaganten Geschenken für sie ab und auch sich selbst möchte er um ein exklusives Reitpferd aus Venedig bereichern, für das außerdem ein prunkvoller Sattel benötigt wird (hier kommt Charlotte ins Spiel). Carl Eugens Hoffaktorin Karoline Kaulla (eine großartige Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts) sieht die schwindelerregenden Ausgaben des Herzogs mit Skepsis. Und dann sind da ja auch noch die Räuber um Hannikel, die, wie sollte es auch anders sein, räubern wollen bzw. müssen.

Ralf Dorweiler hat sich mit diesem Buch sehr viel vorgenommen, wie er auch im Nachwort betont. Die Handlung wird vor allem von der lebendigen Darstellung der historischen Figuren getragen. Die Dialogszenen sind eine große Stärke des Buches, sie haben mich sehr gut unterhalten und warfen mitunter auch ein neues Licht auf Schiller und Carl Eugen, den Herzog von Württemberg, die beide sehr komplexe Persönlichkeiten waren. Madame Kaulla hat mich begeistert, toll dass sie mir hier vorgestellt wurde. Für den subtilen Humor und die Situationskomik gibt es nochmal einen großen Pluspunkt. Die Handlung um Charlotte ist mir leider mitunter etwas zu melodramatisch ausgefallen. Ein Verehrer weniger hätte meines Erachtens auch gereicht. Das ist aber auch schon der einzige Kritikpunkt, den ich habe.

Im Großen und Ganzen ein wundervoller historischer Roman, der uns das Württemberg des
18. Jahrhunderts und seine facettenreichen Persönlichkeiten authentisch näher bringt.

Ich bedanke mich bei der Lesejury von Bastei Lübbe für die Leserunde mit Autorenbegleitung sowie für das Rezenionsexemplar!

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Samstag, 17. Oktober 2020

"Sturm über der Eifel" von Katja Kleiber

 Atmosphärischer und gesellschaftlich brisanter Regionalkrimi


Nach "Die Eifelhexe" ist dies der zweite Band einer Reigionalkrimi-Reihe rund um die Ex-Unternehmensberaterin Ella Dorn aus Frankfurt, die nach einem Burn-out in ein kleines Dorf in der Eifel gezogen ist. Hier hat sie endlich die Ruhe um zu meditieren, Heilkräuter anzupflanzen, zu Salben und Tees zu verarbeiten sowie Wasseradern aufzuspüren. Dies hat ihr allerdings im Dorf den zweifelhaften Beinamen “Eifelhexe” eingebracht. Die vermeintiche Ruhe in der Eifel ist für Ella allerdings von Anfang an trügerisch, denn bereits im ersten Band war sie in den Mord an einem Lokalpolitiker verwickelt, der mit ihrer Hilfe aufgeklärt werden konnte. [Wer diesen ersten Band “Die Eifelhexe” noch lesen möchte, sollte dies vor “Sturm über der Eifel” tun, denn in diesem Buch wird man leicht gespoilert was den Mörder aus Band 1 betrifft: Er “hinterlässt” Ella etwas, das auch in Band 2 vorkommt.]

In diesem zweiten Band also muss Ella - sowie die beiden Kommissare Tanja Marx und Peter Claes - den Mord an einem selbsternannten Schamanen aufklären. Ella hat den sympathisch wirkenden Leo auf einer Kräuterwanderung kennengelernt und sofort einen Draht zu ihm aufgebaut. Kurz darauf wird er an Samhain - dem keltischen Totenfest - am Goloring, einem keltischen Steinmal, erstochen aufgefunden. Schnell tauchen im Dunstkreis des Mordopfers, das eremitisch zurückgezogen in einer Jurte lebte, einige Verdächtige auf, die mit dem alternativen Lebenswandel des Schamanen und seiner “grünen” Einstellung so gar nicht einverstanden waren. Ella beginnt zu ermitteln und begibt sich damit in große Gefahr.

Wunderbar beschreibt die Autorin die Dynamiken, die in einer kleinen Dorfgemeinschaft entstehen können. Jeder hat in diesem Mikrokosmos seinen Platz und seine Rolle - wehe nur, es tanzt jemand aus der Reihe oder spielt sein Spiel anders, als die anderen. Gerade weil Ella auch als Außenseiterin daherkommt, ist sie prädestiniert dafür, in diesem Fall zu ermitteln. Die

Autorin verarbeitet einige wichtige umwelt- und gesellschaftspolitische Themen in diesem Krimi, der einerseits sehr spannend und brisant ist, aber durchaus auch humoristisches Potenzial hat. So werden die Leser von “Cosy Krimis” vor allem Kommissar Peter Claes und seine Vorlieben beim weiblichen Geschlecht amüsant finden. Kommissarin Tanja Marx ist dann wieder eher für die ernsten Seiten des Lebens zuständig: Sie bangt um das Lebens ihres Bruders, der aus einem Auslandseinsatz verletzt heimgekehrt ist.

“Sturm über der Eifel” ist ein spannender und herbstlich-atmosphärischer Regionalkrimi, der auch Nicht-Eiflern die Eigenheiten dieses deutschen Landstrichs und seiner Bewohner näher bringt. Ich habe mich bestens unterhalten gefühlt und hoffe auf einen weiteren Band in der Reihe.

Herzlichen Dank an den emons Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Dienstag, 13. Oktober 2020

"Just like you" von Nick Hornby

Wenig romantisch, kaum witzig, dafür sehr politisch

Wenn man einen Roman von Nick Hornby lesen möchte, weiß man in der Regel vorher, was einen in etwa erwartet: Beziehungen/Liebe, Fußball, Musik. Irgendeines dieser Themen - wenn nicht sogar alle drei - verarbeitet der britische Erfolgsautor mit Sicherheit, darauf kann man ein Pint in seinem Londoner Lieblingspub trinken, denn dort spielt auch die Handlung des neuesten Hornby-Romans.

Die männliche Hauptfigur von “Just like you”, der 22-jährige Joseph aus dem sozialen Brennpunkt-Bezirk Tottenham, ist Amateur-DJ, der auf die große Karriere als Musikproduzent hofft. Außerdem spielt und konsumiert er gerne den ur-englischen Sport Fußball. Damit hätten wir schon einmal zwei von Hornbys Lieblingsthemen abgedeckt. Joseph, der als Aushilfe in einer Metzgerei bedient, verliebt sich in die 42-jährige Lehrerin Lucy, die dort als Kundin einkauft. Sie ist alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen in der Vorpubertät, von ihrem Exmann, einem Alkoholiker und Dorgenkonsumenten, lebt sie frisch getrennt im Stadtteil Islington, einem familiären Mekka der Gutsituierten. Wer jetzt denkt, die Welten der beiden Protagonisten könnten unterschiedlicher nicht sein, der irrt, denn neben dem divergierenden soziokulturellen Background und dem eklatanten Altersunterschied, haben die beiden auch noch verschiedene Hautfarben: Joseph ist schwarz, Lucy weiß. Hornby erzählt uns hier also die Liebesgeschichte zweier sehr unterschiedlicher Menschen, wobei das Alter natürlich die allergrößte Rolle spielt. Die Konstellation junger Mann und ältere Frau gibt es zwar gelegentlich in der Literatur, dennoch ist sie selten und gesellschaftlich noch stärker tabuisiert, als die umgekehrte Variante. Dieses Thema hat mich auch verleitet, mich für den Roman zu interessieren sowie natürlich der immer bei Hornby zu erwartende Humor.

Die Handlung spielt sich hauptsächlich vom Frühling bis zum Herbst 2016 ab und damit rund um das “Brexit-Referendum”, bei dem am 23.06.2016 der Austritt Großbritanniens aus der EU vom britischen Volk beschlossen wurde. Hornbys Figuren nehmen auch unterschiedliche Positionen zum Brexit ein, wobei die liberal denkende Lucy natürlich für die EU und damit dagegen ist. Der Twen Joseph kann sich nicht so richtig für eine Seite entscheiden.

Hat mich das Buch mitgerissen, hat es meine Erwartungen erfüllt? Ich muss dazu leider “nein” sagen. Die Liebesgeschichte hat mich nicht wirklich überzeugt, es kommt viel zu wenig “Gefühl” auf. Das Bedingungslose einer Liebe, die gegen jede gesellschaftliche Konvention gelebt wird, ist hier leider nicht zu finden. Stattdessen bleibt vieles vage und in der Schwebe, einiges wird nur erzählt statt erzählerisch dargestellt. Auch Humor und Ironie sind mir in diesem Roman leider zu kurz gekommen, obwohl das Buch im Original als "brutally funny" angepriesen wird. Der Grundton ist doch recht ernst und “mainstreamig”. Zum Teil liegt das meiner Meinung nach auch an der etwas holprigen Übersetzung. Für mich leider kein Highlight, aber durchaus lesbar.

Herzlichen Dank an den Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar sowie Lovelybooks und die dortige Leserunde!

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