Freitag, 27. November 2020

"Fräulein Gold. Scheunenkinder" von Anne Stern

 

Historische Milieustudie

Nachdem mir Teil 1 um die Berliner Hebamme Hulda Gold aus den Zwanziger Jahren des
20. Jahrhunderts sehr gut gefallen hat, wollte ich natürlich wissen, wie es mit ihr weitergeht. Seitdem sie im ersten Band "Schatten und Licht" als Figur eingeführt wurde und einen Mordfall in ihrem Schöneberger Viertel gelöst hat, ist über ein Jahr Zeit vergangen. Wir sind nun im Herbst des Jahres 1923. Die Inflation befindet sich auf dem Höhepunkt und ein Hühnerei kostet Millionen. Die Armen sind noch ärmer, viele Bürger bekommen keinen Lohn, die politische Rechte erstarkt. Hulda ist immer noch die engagierte Hebamme vom Winterfeldtplatz. Aufgrund ihres jüdischen Vaters wird sie zu einer Geburt ins Scheunenviertel zu einer jüdosch-orthodoxen Familie gerufen. Das Baby verschwindet wenige Tage nach der Geburt und Hulda muss erneut ermitteln.

Diesmal liegt der Fokus nicht so sehr auf dem Kriminalfall. Das verschwundene Baby und der Fall rund um die Kinderhändler vom Scheunenviertel, mit dem sich Kriminalpolizist und Huldas Boyfriend Karl auseinandersetzen muss, sind zwar das Movens der Handlung, als historischen Krimi würde ich diesen mittleren Band der Reihe aber dennoch nicht bezeichnen. Es ist eher eine sehr ausgeklügelte Milieustudie des Berlins von 1923. Es geht sehr viel um die angespannte gesellschaftspolitische Situation und die prekären Bedingungen, in der die Berliner damals lebten.

Obwohl wir tiefer in Huldas Geschichte eintauchen und ihre Persönlichkeit noch besser kennenlernen, hält dieser Band das Geschehen rund um die Protagonistin in einer Schwebe, schließlich soll ihr Schicksal erst im finalen dritten Band besiegelt werden. Am Ende wird schon angedeutet, in welche Richtung sich Hulda beruflich weiterentwickeln will. Ob sie aber mit Karl zusammenbleibt oder zu ihrer ersten Liebe, dem unglücklich verheirateten Felix Winter zurückkehrt, bleibt offen.

Der Roman ist auch diesmal besonders eindringlich und es geht oftmals um Fragen der Identität, in die wir gewissermaßen hineingeboren werden. Was bedeutet es, im Berlin der 1920er Jahre arm zu sein oder jüdisch, wenn auch nicht religiös? Hulda stellt sich diese letzte Frage zum einen, weil sie es mit einer orthodox lebenden jüdischen Familie zu tun hat und andererseits, weil rechte Parolen, Ressentiments und Anschläge in der Weimarer Republik zunehmen und sie diese auch am eigenen Leib zu spüren bekommt.

Besonders schön fand ich auch diesmal wieder das Zusammenspiel Huldas mit Bert, dem freundlichen Zeitungsverkäufer des Kiezes. Ich finde der Schlagabtausch der beiden hellt das doch recht düstere Geschehen zwischendrin immer etwas auf. Die Lebensweisheiten, die Bert von sich gibt, haben sowohl eine humorvolle, als auch eine philosophische Komponente. Auch ist der Kioskbesitzer eine wunderbare Quelle für Klatsch und Tratsch aus dem Viertel und Wissen aller Art. Diese Szenen sind auch nochmal eine weitere Möglichkeit, Hulda besser kennenzulernen, denn dem väterlichen Freund Bert offenbart sie sich wie kaum einem anderen. Außerdem lässt die Autorin durch die Gespräche der beiden die aktuelle politische Situation immer mal wieder mit einfließen. Diesmal wird auch etwas mehr über Berts Vergangenheit angedeutet.

Fazit: Ein schöner mittlerer Band dieser Reihe, der uns den Berliner Herbst von 1923 in all seinen Facetten nahe bringt. Als historischer Roman sehr akkurat, gut recherchiert und lesenswert, wenn auch nicht so spannend und krimihaft wie der erste Teil.

Nähere Infos zum Buch (Klick aufs Cover):

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