Donnerstag, 25. Juli 2024

"Die einsame Buchhändlerin von Tokio" von Nanako Hanada


Soulfood in Buchform

“Man kann jemandem ein Buch nur dann empfehlen, wenn man die Person wirklich gut kennt. Genauso gut kann man ein Buch nur wirklich empfehlen, wenn man es selbst gelesen hat. ‘Bitte lies dieses Buch’, kann man nur sagen, wenn man den konkreten Grund kennt, warum es für das Gegenüber interessant sein soll.” (56)

Vorneweg: Ich bewerte “Die einsame Buchhändlerin von Tokio” von Nanako Hanada (aus dem Japanischen übersetzt von Sabrina Wägerle für Knaur) nicht, wie ich ein literarisches Werk rezensieren würde. Wir haben es hier nämlich nicht mit einem Roman, sondern mit einem autobiografischen Sachbuch in Erzählform zu tun, “leicht fiktionalisiert” (193), wie die Autorin im Nachwort sagt und ursprünglich als Essays in einem Webmagazin publiziert. Die begeisterte Resonanz hat schließlich zu der Buchpublikation geführt, die in Japan ein Überraschungserfolg wurde - mit über 60 000 verkauften Exemplaren und einer TV-Adaption.

Hierin erzählt die Autorin Hanada von ihrem “bookish Lifestyle", wenn man so will, also ihrem Leben mit Büchern. Es geht vor allem um die Zeit in ihrem Leben, in der sie nach der Trennung von ihrem Mann fremden Menschen, die sie über die Dating-App “Thirty Minutes” kennenlernte, speziell auf sie zugeschnittene Buchtipps gab. Ich kann mir vorstellen, dass “fiktionalisiert” in diesem Fall heißt, dass sie vor allem die Namen der Beteiligten geändert hat, auch wenn sie dies nicht ausdrücklich sagt. Schließlich sind ein paar der Männer (sie trifft sich aber auch mit Frauen) nur auf das Eine aus und wollen nicht wirklich Buchempfehlungen haben. Die Buchhändlerin und leidenschaftlich bibliophile Hanada beschreibt die Begegnungen mit verschiedenen Menschen auf sehr sympathische und einnehmende Weise. Das Lesen von Büchern ist eigentlich eine ziemlich einsame Angelegenheit. Aber hier führt Nanakos Affinität zu Büchern und Literatur dazu, ihre Schüchternheit zu überwinden und andere Menschen zu treffen, die natürlich wie wir alle ihre merkwürdigen Eigenheiten und liebenswerten Besonderheiten haben. 

Man erfährt im Text ganz viel über japanische Literatur - von Romanen über Sachbücher bis hin zu Lyrik und natürlich Manga, einem genuin japanischen literarischen Popkultur-Genre.
Von den meisten Bücher und Autor:innen, die Nanako in ihrem Buch empfiehlt und mit wenigen Worten beschreibt, habe ich noch nie etwas gehört. Die meisten sind Japaner:innen, nur ganz wenige westliche und mir bekannte Autor:innen sind dabei, wie z. B. John Krakauer, François Sagan und Kazuo Ishiguro. Von den auf Japanisch schreibenden Autor:innen wurden
die Buchtitel von Sabrina Wägerle ins Deutsche übersetzt. Eine Übersetzung der ganzen Bücher liegt aber - soweit ich gesehen habe - bei uns in Deutschland nicht vor. Dies ist natürlich etwas schade, denn so können alle, die des Japanischen nicht mächtig sind, die meisten von Nanokos Tipps nicht selbst lesen. Diese Tatsache bringt einem aber wieder einmal zu Bewusstsein, dass eine literarische Übersetzung immer noch etwas Besonderes ist, was längst nicht allen Büchern zuteil wird. Man stelle sich nur einmal vor, wie wenige deutschsprachige Bücher es gibt, die angesichts der Vielzahl an jährlichen Neuerscheinungen, in andere Sprachen übersetzt werden. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass aus dem Japanischen so wenig übersetzt wird.

Nun also die Gretchenfrage, die beim Thema des Buches natürlich auf der Hand liegt: Ist “Die einsame Buchhändlerin von Tokio”, ein Buch, in dem es um Buchempfehlungen geht, auch selbst eine Empfehlung wert? Am Ende des Textes schreibt Hanada jedenfalls: “Vielleicht wird eines Tages mein Buch als Leseempfehlung von einer Hand in die andere wandern. Dann wäre der unendliche Kreislauf des Lebens vollendet. Gut, das ist nun ein wenig dick aufgetragen.” (S. 199) Ihr seht, der Text spielt durchaus mit Humor und Selbstironie und das hat mir das Ganze auch sehr sympathisch und nahbar gemacht. Als Büchnerd kann man sich mit Nanako, die alles liebt, was mit Büchern zu tun hat (vor allem auch Buchläden) ohnehin total identifizieren. Und alle, die überdies gerne Bücher empfehlen und rezensieren, werden einen zusätzlichen Mehrwert aus diesem Buch ziehen. Für Buchliebhaber:innen also ein “Must Read” und Soulfood in Buchform.

Herzlichen Dank an Droemer Knaur für das Rezensionsexemplar!

Montag, 22. Juli 2024

"Mitte des Lebens" von Barbara Bleisch

Lohnende Gedanken über die “Hälfte des Lebens”

Als ich dies hier schreibe, bin ich 42 Jahre alt. Wenn ich Glück habe und die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen in Deutschland von etwa 82 Jahren erreiche, habe ich die Hälfte meines Lebens bereits hinter mir. Ein Gedanke, der sich immer wieder anfühlt wie ein Schlag ins Gesicht und ich denke ihn in letzter Zeit ziemlich oft. Immerhin steht die zweite Halbzeit an - und danach: Schluss, Ende, Aus, Micky Maus. Und keiner weiß ja, ob ich sie bis zum Ende "durchspielen" werde, das kommt ja noch hinzu. Puh, ich kann nur sagen “Midlife Crisis” kicks hard. Es stellen sich halt so Fragen wie: Hat man genug erlebt? Passt man zu dem Leben, das man jetzt führt? Wie ist der Status Quo und was kriegt man in der nächsten und - OMG - letzten Hälfte noch unter? Eine deprimierende Halbzeitpause. Andererseits: Ich war eigentlich auch noch nie glücklicher in meinem Leben als ich es derzeit bin, irgendwie ist man angekommen.

Dieses Gefühlswirrwarr in einer rationalen Weise aufgedröselt zu bekommen, erhoffte ich mir von “Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre” von Barbara Bleisch. Die Autorin nimmt uns mit auf eine Reise durch die “Lebensmitte”, die, natürlich nur im Durchschnitt, mit etwa 40 Jahren beginnt und irgendwo mit 60plus endet.

Philosophisch wurde bislang wohl eher wenig explizit über diese mittleren Jahre nachgedacht und “Mitte des Lebens” ist insofern etwas Neues. Die Autorin möchte Versuche präsentieren, diese “Lebensphase zu verstehen, die allzu oft nur als düster und verworren dargestellt” (37) werde, und doch die “potentiell beste Zeit unseres Lebens” (37) sein könne. Barbara Bleisch möchte nicht nur über die “Krisenanfälligkeit” (33) der mittleren Jahre nachdenken, sondern auch über das Potenzial der “reichen Fülle” (33), die diese Jahre zu bieten haben.

Der Angang mit Literatur- und Quellenverzeichnis beträgt 28 kleingeschriebene Seiten. Dementsprechend kann man sich vorstellen, wie sehr dieses Buch aus Zitaten und sekundären Gedanken anderer besteht, die die Autorin für ihre eigene Argumentationslinie zusammenkleistert. Der Ton ist dezidiert ein wissenschaftlicher und das muss man als Leser:in freilich mögen. Hier nimmt uns nicht eine ebenfalls von den mittleren Jahren “betroffene” Freundin an die Hand, sondern eine waschechte Philosophin, die ihre Sekundärliteratur aber auch zahlreiche Filme und belletristische Bücher kennt und gar nicht so viele “originäre” Tipps zu geben vermag: Alles ist schon irgendwie irgendwo gedacht, gezeigt und geschrieben worden, man muss es nur thematisch ordnen und zusammentragen können. Das kann Barbara Bleisch hervorragend.

Ich habe viele positive Impulse mitgenommen aus diesem Buch. Zum Beispiel hat mich das Kapitel über die “Wunder des Lebens” bzw. den “fehlenden Glanz” (210ff.) besonders beeindruckt. Leben im und für den einzigartigen Moment, das ist doch das, was wir in jeder Lebensphase machen sollten. Dennoch sollte man diesem Buch mit einem gewissen gefertigten Geist begegnen, um es richtig schätzen zu können. Allzu orientierungslos sollte man nicht gerade sein, auch als leichte Bettlektüre kann ich es nicht empfehlen. Man braucht definitiv alle Sinne, es ist keine sogenannte “leichte Lektüre”. Auch kann es durch die häufige Erwähnung des Themas Tod etwas deprimierend sein.

Ein sehr gutes Sachbuch, das definitiv zum Nachdenken anregt über den eigenen Lebensweg und vor allem darüber, wie wir die “mittleren Jahre” für uns gewinnbringend gestalten.

Herzlichen Dank an den Hanser Verlag und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

Samstag, 20. Juli 2024

"Das Lied des Propheten" von Paul Lynch


Kafkaesk, intensiv, unvergesslich

“Sie sieht, wie das Pferd ein Ohr rotieren lässt, ohne den Kopf zu drehen, anscheinend horcht es auf etwas jenseits der beklommenen Stille [...] es hört den Tod, der in der ganzen Stadt mit offenen Armen wartet, den Tod, der darauf wartet, vom Himmel abgeworfen zu werden.” (S. 193)

“Prophet Song” ist der Roman, mit dem Paul Lynch 2023 den Booker Prize gewonnen hat. Jetzt wurde er als “Das Lied des Propheten” vom renommierten Übersetzer Eike Schönfeld für Klett Cotta kongenial ins Deutsche übersetzt. Obwohl ich den auch auf der Shortlist gewesenen Roman “The Bee Sting” von Lynchs irischem Landsmann Paul Murray sehr liebe, bin ich nach der Lektüre der Meinung, dass Paul Lynch absolut zurecht gewonnen hat. Warum?

Mit “Prophet Song” hat Lynch einen Horrorroman geschrieben, der ganz ohne übertriebenen Gore, Killer-Clowns und Untote auskommt und dennoch den Lesenden eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagt. Der Schrecken eines totalitären Regimes ist die Horrorvorstellung, mit der wir es in diesem Roman zu tun haben. Die Protagonistin Eilish, Mutter von vier Kindern und promovierte Mikrobiologin, die seit 20 Jahren in einem Bio-Tech-Unternehmen arbeitet, steht im Mittelpunkt des Geschehens. Wir haben es in dieser fiktiven - und doch erschreckend realistischen - Version von Irland mit einem Land zu tun, das von einer totalitären Partei beherrscht wird und versucht, alle Gegner des Regimes mundtot zu machen bzw. auszulöschen. Auch Eilishs Mann, Lehrer und Gewerkschafter, wird eines Tages aus heiterem Himmel verhaftet und an einen unbekannten Ort gebracht. Eilish steht vom heute auf morgen alleine da mit ihrem 17-jährigen Sohn Mark, der Teenager-Tochter Molly, dem 12-jährigen Bailey und dem Nachzügler-Baby Ben. Außerdem muss sie sich um ihren an zunehmender Demenz leidenden Vater betreuen. Als die Umstände immer schlimmer werden und es zu kriegerischen Kämpfen zwischen den Rebellen und dem System kommt, stellt sich für Eilish die Frage: Gehen oder bleiben?

An der Protagonistin Eilish wird exemplarisch ausgeführt, was ein Mensch in einem Ausnahmezustand vollbringen kann. Leider ist das keine allzu dystopische Vorstellung, denn tagtäglich gibt es nach wie vor Tausende, die in Kriegsgebieten einer ähnlichen Situation ausgesetzt sind. Eilish muss Unmenschliches vollbringen - sie muss in einem absoluten Ausnahmezustand, in dem sie um ihrem Mann und ihren ältesten Sohn bangt, den Alltag für ihre jüngeren Kinder aufrechterhalten, muss Geld, Nahrung und soviel Normalität wie irgend möglich herbeischaffen.

Die enigmatisch-kafkaeske Erzählweise - für manche durch den Wegfall der wörtlichen Rede vielleicht gewöhnungsbedürftig, mir hat das sehr gefallen - fährt einem ohne Umwege in Mark und Bein. Wie ein mäandernder Singsang bohrt sich das Geschriebene erbarmungslos in unseren Kopf, um sich dort festzuklammern. Und von dort aus breitet sich so etwas wie Panik in unserem ganzen Körper aus, wenn man einen Moment zu lange über das Gelesene nachdenkt: Was, wenn so etwas Realität werden könnte - auch für uns?

“Das Lied des Propheten” ist ein Roman über die Unbarmherzigkeit der Zeit und ihr Vergehen. Eine Trauermelodie in Prosa über das, was wir mal hatten und das Wenige, das uns davon geblieben ist sowie das noch Wenigere, das die Zeit überdauern wird.

Das fiktive Konstrukt stellt die existenziellen philosophischen Fragen: Was ist Wirklichkeit? Worauf beruhen unsere Vorstellungen von ihr? Gibt es eine allgemeingültige Realität und wie finden wir uns in ihr zurecht? Und was ist Wahrheit? Kann sie sich in einem totalitären Staat überhaupt offenbaren? “...zur Zeit gibt's keine Wahrheit, du weißt nichts, niemand weiß was, von nichts lässt sich die Wahrheit kennen.” (199)

Dass der plötzliche Verlust eines Menschen vor allem eins bedeutet, Stille, das wird im Roman immer wieder mantraartig wiederholt. Eine Leerstelle, ein Platzhalter dort wo vorher ein Mensch gelebt und geliebt und gelacht hat, ist jetzt ausgefüllt mit Stille und dem Schmerz der Hinterbliebenen. 

Paul Lynchs Prosa ist voller Allegorien und Metaphern, das Stilmittel der Personifikation benutzt er überdurchschnittlich häufig. So werden die Natur, abstrakte Begriffe und Dinge in seinem Schreiben vermenschlicht bzw. lebendig. Ich bringe nur ein paar Beispiele: “wie die Bäume die Jahre mitfühlen, indem sie die Zeit zu Ringen in ihrem Holz machen” (140), “Der Lärm sprießt in den Schlaf, er treibt aufwärts durch zwei Welten” (141), “...der Tag [...] fällt in geblümter Farbe auf Carole” (168), “die Stimme flüstert.” (199)

Wenn man diesen Roman einmal gelesen hat, dann wird man ihn mit absoluter Sicherheit nie wieder vergessen. Ein intensives Leseerlebnis und Meisterwerk der Literatur unserer Zeit.

Triggerwarnungen: Krieg, Tod, Zerstörung, leidende Kinder

Herzlichen Dank an den Klett-Cotta Verlag und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!



Mittwoch, 17. Juli 2024

"Helisee. Der Ruf der Feenkönigin" von Andreas Sommer


“...bald ist die Yûlfeier und danach werden die Tage bereits wieder länger. In der Finsternis des tiefen Winters geschehen bisweilen furchtbare Dinge. Aber sobald das neue Licht wieder erwacht, klärt sich dann alles zum Guten.” (Helisee, S. 445)

J. R. R. Tolkien, George R. R. Martin, Andreas Sommer? Der erste weilt schon lange nicht mehr auf dieser Erde, hat uns aber das beschert, was man gemeinhin (High) Fantasy nennt. Die Motive - Magie, Heldenreise, Elben/Feen, Zwerge/Halblinge, Drachen, Ringe, Gestaltwandler - you name ist - die er für seine phantastischen Welten zusammengebracht hat, sind in irgendeiner Form in fast jeder Fantasygeschichte zu finden. Der zweite hat das Genre Mittelalterfantasy für mich perfektioniert, weiß aber nicht so recht, wie er sein großes Epos zu einem Abschluss bringen soll. Aber wer ist dieser Andreas Sommer? 

Bevor die Menschen Geschichten aufgeschrieben haben, haben sie sie sich erzählt. Der Schweizer Andreas Sommer lässt als Sagenwanderer diese urtümliche Art der Weitergabe von Erzähltem wieder lebendig werden. Sowohl seine mystische Heimat - die Westschweiz - als auch seine Zeit als Tourguide bei den Tuaregnomaden, inspirierten ihn dazu, die eigentümlichen Märchen und Sagen seiner Heimat zu recherchieren und wieder lebendig werden zu lassen. Letztlich hat ihn dann die Pandemie dazu gezwungen, sich dem Niederschreiben des Erzählten zu widmen. Zum Glück, denn so entstand “Helisee. Der Ruf der Feenkönigin”.

Fantasy muss durch den Weltenbau überzeugen und dieser ist bei “Helisee” sehr raffiniert gemacht und wie es sich gehört auch so komplex, dass ich ihn nicht mit wenigen Worten wiedergeben kann. Jedenfalls koexistieren die magische Welt der Feen (in Helisee, dem Reich um die Feenkönigin Helva) und die Welt der Menschen (die Westschweiz im Frühmittelalter, zur Zeit der Burgunderkönigin Bertha) in diesem an Inhalt und Ideenreichtum wirklich nicht armen Roman. Wie das Nachwort verrät, sind neben den historischen Quellen zahlreiche mythologische sowie fantastische Motive und regionale Sagenstoffe in diesen Fantasyroman eingeflossen. Eine ganz große Rolle spielt die heidnische Tradition, also der “alte Glaube”, den die aufstrebenden Kirchenväter des Christentums am liebsten ausgelöscht hätten. Stattdessen haben sie nach und nach die keltischen Feiertage, also die acht “heiligen Feste im Jahresrad”, durch die christlichen ersetzt. Im Roman sind die positiv besetzten menschlichen Figuren jedenfalls vor allem die, die an den heidnischen Traditionen festhalten, obwohl Sommer ausdrücklich sagt, dass er beides nicht gegeneinander ausspielen wollte. Der Roman ist ein erzählerischer Versuch, die “Naturreligion” wieder mehr in den Fokus zu rücken, das Einssein des Menschen mit dem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen in der Natur. So beginnt der Roman auch am Tag der Beldenfeier (Beltane, Walpurgisnacht, keltischer Sommeranfang), schlägt einen Bogen über Samuîn (Samhain, Halloween, keltischer Totengedanktag und Jahresanfang) und das Yûlfest (Yule, Wintersonnenwende, Weihnachten), um wieder im nächsten Frühjahr in der Beldennacht zu enden. An diesen heidnischen Feiertagen sind - so ist der Glaube - die Grenzen zwischen unserer Welt und der Welt der Magie durchlässig und so kommt Ernestus auch zum ersten Mal in das Reich der Feenkönigin.

Sommer kombiniert auf sehr geschickte Weise die Sagen und Mythen der Schweiz (Helvetia - Helva - Helisee) mit dem klassischen Motiv-Instrumentarium der phantastischen Literatur: Ein junger Mann (Ernestus) von vermeintlich niederem Stand begibt sich auf eine Helden- und Abenteuerreise, auf der er auf magische Gestalten trifft, Geheimnisse ergründen und um seine Liebe und sein Leben bangen muss und letztlich geht es dabei wieder einmal um nichts weniger als um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Hoffnung und Verzweiflung. Der Protagonist Ernestus steht dabei zwischen zwei Realitäten, die nicht miteinander vereinbar scheinen und seine Identität in Frage stellen: “War es diese unselige Zerrissenheit eines geteilten Schicksals zwischen unterschiedlichen Welten, die ihn zu einem Verlorenen gemacht hatte?” (446) Die Identitätssuche unseres Helden steht sinnbildlich für die Sinnkrise des modernen Menschen, der den Bezug zur Natur und damit seiner eigenen Herkunft verloren hat: “Der Sturm trieb ihn immer tiefer in die gähnende Finsternis hinab. Wie ein lichtloser Strudel erfasste ihn der Sog der ersten und der letzten Dinge.” (S. 454)

“Helisee” hat mich zeitweise so in seinen Bann gezogen, dass ich alles rundherum vergessen habe beim Lesen und das allein ist doch der Grund, warum man fantastische Literatur immer mal wieder zur Hand nehmen sollte: Um auch als Erwachsene/r in eine Märchenwelt entführt zu werden, in der wir von der Schönheit von Elfen entzückt und vom Sang und Klang des Magischen entrückt werden. Sommer sagt im  Nachwort: Falls ‘Helisee’ über den reinen Unterhaltungsaspekt hinaus einen Impuls vermitteln kann, um dem persönlichen Erleben des Zauberhaften in der Natur und der persönlichen Verbindung von Landschaft und Spiritualität bewusst nachzuleben, dann hat sich für mich der Sinn und Zweck dieses Romans mehr als erfüllt.”

Wer mit Naturmystik, Sagen- und Fantasiewelten, Mittelalterromantik und nicht zuletzt den keltisch-heidnischen Bräuchen etwas anfangen kann, schöpft mit der Lektüre dieses Buches aus einem überreichen magisch-literarischen Füllhorn, das in der zeitgenössischen Fantasy wahrscheinlich seinesgleichen sucht. Fazit: Ein sehr fantastisches, tiefgründiges und besonderes Leseerlebnis. Ein zweiter Band erscheint 2025.

Herzlichen Dank an die Agentur Buchcontact und den Neptun Verlag für das Rezensionsexemplar!

Samstag, 13. Juli 2024

"Reichlich spät" von Claire Keegan


Die Hölle sind die anderen 

[Spoiler zur Handlung]

Reichlich dekadent und wunderbar bibliophil kommt die deutsche Übersetzung von Claire Keegans Erzählung “So late in the Day” (übersetzt von Hans-Christian Oeser), erschienen im Steidl Verlag, daher. Knapp 55 Seiten umfasst das Werk in dieser Ausgabe nur, wobei der Text schon etwas “aufgebläht” wurde. Eine hohe Schriftgröße kombiniert mit Blocksatz und einem sehr breiten Rand deuten darauf hin. Weniger Seiten hätten das schöne, leinengebundene & geprägte Hardcover mit Lesebändchen auch fast nicht mehr gerechtfertigt. Wobei: Eigentlich kommt es doch auf den Text an und Claire Keegan ist wohl eine Meisterin der Kurzprosa. Sie kann auf wenigen Seiten - so ihr Ruf - das vollbringen, was manche Wälzer-Autor:innen nicht schaffen: verdammt gute Literatur mit “Aha-Garantie”.

Aber wird der Inhalt dieses schmalen Büchlein seiner extravaganten Ausstattung gerecht? Um das “große Thema Misogynie” soll es hier gehen, so verrät es die Klappentext-Lobeshymne. Ein Mann mit einem sehr irischen Namen (Cathal) beendet an einem heißen 29. Juli seinen langweiligen Dubliner Bürotag und fährt mit dem Bus nach Hause in seinen Vorort. Dort mehren sich die Zeichen, dass hier irgendetwas nicht stimmt: Ein vertrocknender Blumenstrauß vor der Eingangstür, eine penisförmige Junggesellenabschiedstorte, ein ungeöffneter Champagner im Kühlschrank... Wir erfahren nach und nach, dass der heutige Tag Cathals Hochzeitstag hätte sein sollen, aber er wurde sitzen gelassen - von Sabine. Auf wenigen Seiten werden die Diskrepanzen zwischen Cathal und der Anglo-Französin geschildert, die sich vor allem an Alltäglichkeiten festmachen lassen. Der unterschiedliche Umgang der beiden mit Geld ist dann letztlich auch der finale Fallstrick ihrer Beziehung. Festgemacht wird dies an dem Pfund Kirschen - das Leitmotiv der Novelle, sehr bezeichnend da Kirschen auch in der Natur als Paar auftreten -  das Cathal für empörende 6 Euro bei Lidl erwerben musste, damit Sabine eine Tarte damit backen konnte. Dass die Tarte nicht mal gelungen war und ergo ihr Geld nicht wert, trägt zur Ironie des Ganzen bei. Und weil Sabine Frauenfeindlichkeit mit Geiz bzw. der männlichen Eigenschaft, “nicht geben zu wollen”(43), gleichsetzt, scheitert die Beziehung. Das führt zu einer Hasstirade Cathals allen Frauen gegenüber, womit die Erzählung endet.

Diese Erzählung ist sicherlich sehr gut und clever gemacht, aber habe ich sie als literarische Epiphanie empfunden? Beileibe nicht. Ich mochte dass sich alles ganz gemächlich bis zum Höhepunkt steigert und den “normalen” Protagonisten, über den ich allerdings gern mehr erfahren hätte. Die perfekt geschilderte Atmosphäre des heiß-trägen Sommertages und die Zeichenhaftigkeit sprechen auch für die Novelle. Das Thema Misogynie ist ebenfalls immens wichtig, keine Frage, wobei ich finde, dass dies nicht nur eine Mann-Frau-Divergenz-Geschichte ist. Letztlich scheitern hier zwei Menschen an ihrer jeweiligen Andersartigkeit und daran, dass sie ihre Leben “zusammenlegen” wollen. “Die Hölle - das sind die anderen” - das Zitat von Sartre bringt die Essenz dieser Novelle meines Erachtens perfekt auf den Punkt. Und dabei ist es eigentlich gar nicht mehr so relevant, welches Geschlecht die anderen haben - sie sind anders und das Andere ist das, was wir selten ganz verstehen und uns zu eigen machen können oder wollen. Empfehlenswert für einen Sommernachmittag in der Hängematte.

[Unbezahlte Werbung, selbstgekauft]

Montag, 8. Juli 2024

"Das Verschwinden" von Sandra Newman


“Wir diskutierten, ob der 26. August als Gottesbeweis gelten könne und ob die ‘Chromosomengrenze’ auf das Werk von Aliens hindeuten könne [...] ob das Verschwinden eine Lektion, ein Experiment, eine Bestrafung oder nichts dergleichen sei.” (S. 216)

Nach Lilly Gollackners “Die Schattenmacherin” habe ich dieses Jahr mit “Das Verschwinden” von Sandra Newman zum zweiten Mal in diesem Jahr eine Dystopie gelesen, in der eine Welt ohne Männer heraufbeschworen wird. Ein Vergleich der beiden Bücher wäre sicher lohnend, aber im Folgenden soll es nur um “Das Verschwinden” (Originaltitel “The Men”, übersetzt von Milena Adam) gehen.

Das Geschehen ereignet sich weltweit: Alle Menschen mit einem Y-Chromosom (auch Transfrauen, männliche Kinder und sogar Föten) verschwinden an einem 26. August (das Jahr erfahren wir nicht) plötzlich spurlos. Auch der 5-jährige Sohn und der Ehemann der Ich-Erzählerin Jane Pearson, die mit ihrer kleinen Familie im Redwood Nationalpark, Kalifornien, gezeltet hat. Sie hält das erzählte Geschehen durch ihre Person quasi zusammen, auch wenn noch weitere Erzählperspektiven im Laufe der Handlung dazukommen. Ihre Geschichte ist quasi das Fallbeispiel dafür, wie Männer ein Frauenleben negativ beeinflussen können, ohne jetzt zu viel von ihrem Lebensweg zu spoilern.

Das gesamte Szenario hat zunächst etwas sehr Friedliches. Es zeigt, dass die Welt weitaus weniger bedrohlich ist, wenn keine Männer mehr auf ihr sind. Kinder können sich plötzlich frei bewegen, ohne dass ihre Mütter sich Sorgen um sie machen müssten: “Niemand rief ihnen nach, sie sollten in Sichtweite bleiben. Da waren keine Männer. Keine Autos auf den Straßen. Die kleinen Mädchen waren völlig entfesselt.” (S. 36)

Natürlich sind per se Männer nicht aufgrund ihres Geschlechts zu verteufeln und es gibt auch Frauen, die einen negativen Fußabdruck auf der Erde hinterlassen. Dennoch haben angezettelte Kriege, Umweltverschmutzung im großen Stil, Straf- und Gewalttaten in den allermeisten Fällen einen männlichen Stempel, der nur schwer wegzuleugnen ist. Um es auf einen provokanten Punkt zu bringen: Männer sind die Wurzel fast allen Übels in der Welt. In der Parallelwelt, die Sandra Newman erschaffen hat, sind es auch die “guten” und die unschuldigen Männer, die mit den anderen in ein Nirwana müssen, das später auf verstörende Weise auf Videoaufnahmen auftauchen wird - mitgefangen, mitgehangen. 

Diese Dystopie stellt dementsprechend ganz zentral die Frage nach Männlichkeit und ab wann eine Person weiblich “genug” ist, um nicht selbst vom großen Verschwinden betroffen zu sein: Der Transmann wird beispielsweise in einer grausamen Szene vom weiblichen Mob, der zeigt dass auch Frauen dazu in der Lage sind rohe Gewalt auszuüben, so lange angegriffen bis seine freigelegten primären Geschlechtsmerkmale ihn als Träger von zwei X-Chromosomen “ausweisen”. Und dann ist da die jüdische Mutter Ruth, die hofft dass ihr Sohn noch da ist, stuft sie ihn doch als homo- oder immerhin bisexuell ein. Oder die lesbische Alma, die zunächst glaubt, dass ihr geliebter Bruder nicht betroffen ist, weil er doch zu den “Guten” zählt - “er war immer so sanftmütig” (S. 22). Auch Henry, der schwule beste Freund von Ji-Won kann doch unmöglich weg sein. Können nicht nur die heteronormativen Dumpfbacken und potenziellen Gewalttäter verschwinden? Nein, das Fallbeil im Roman heißt Y-Chromosom.

“Das Verschwinden” ist nicht zuletzt ein Gedankenexperiment, ein philosophischer Roman, in dem wissenschaftlich-rationale Kräfte und metaphysisch-esoterische Ansätze einander bekämpfen und ausschließen. Die Welt wurde aufgrund der Elimination der Männer quasi ihrer “Ganzheitlichkeit” beraubt und es stellt sich die Frage: Brauchen wir die “bösen” Männer, damit die Menschheit wieder eine Einheit wird? 

Aufgrund all dieses philosophischen Überbaus würde ich die Erzählweise als intellektuell und gelegentlich “verkopft” bezeichnen. Die Geschichte wird aus den unterschiedlichen Perspektiven sehr nüchtern, fast emotionslos erzählt. Berichtstil, Videoinhaltsbeschreibung und wissenschaftliche Inhalte unterstreichen die distanziert-berichtende Erzählform dieser Dystopie. Hier wird ergo vor allem der Verstand der Lesenden angesprochen, nicht das Gefühl, obwohl das Thema hoch emotional ist. Trotz der extremen Gewaltszenen, die unter anderem den Tod eines männlichen Kindes darstellen (Triggerwarnung!), ist das Gelesene oftmals zu abstrakt und artifiziell, um wirklich an die Nieren zu gehen.

Sandra Newman nennt ihr Buch in ihrer Danksagung ein “oft rätselhaftes und widerspenstiges Projekt” und ich würde sagen, das trifft auch auf den Roman in seiner abgeschlossenen Form zu. Unbequem ist er, schwer zu erfassen, oft zu sehr Gedankenkonstrukt als Roman. Dennoch habe ich dieses Szenario mit Spannung und großem Interesse verfolgt. Außerdem ist dieses Buch optisch mit dem bunten Vor- und Nachsatz ein absolutes Highlight. Lesenswert!

Herzlichen Dank an die #bloggerjury und @eichbornverlag für das Rezensionsexemplar!