“Wir diskutierten, ob der 26. August als Gottesbeweis gelten könne und ob die ‘Chromosomengrenze’ auf das Werk von Aliens hindeuten könne [...] ob das Verschwinden eine Lektion, ein Experiment, eine Bestrafung oder nichts dergleichen sei.” (S. 216)
Nach Lilly Gollackners “Die Schattenmacherin” habe ich dieses Jahr mit “Das Verschwinden” von Sandra Newman zum zweiten Mal in diesem Jahr eine Dystopie gelesen, in der eine Welt ohne Männer heraufbeschworen wird. Ein Vergleich der beiden Bücher wäre sicher lohnend, aber im Folgenden soll es nur um “Das Verschwinden” (Originaltitel “The Men”, übersetzt von Milena Adam) gehen.
Das Geschehen ereignet sich weltweit: Alle Menschen mit einem Y-Chromosom (auch Transfrauen, männliche Kinder und sogar Föten) verschwinden an einem 26. August (das Jahr erfahren wir nicht) plötzlich spurlos. Auch der 5-jährige Sohn und der Ehemann der Ich-Erzählerin Jane Pearson, die mit ihrer kleinen Familie im Redwood Nationalpark, Kalifornien, gezeltet hat. Sie hält das erzählte Geschehen durch ihre Person quasi zusammen, auch wenn noch weitere Erzählperspektiven im Laufe der Handlung dazukommen. Ihre Geschichte ist quasi das Fallbeispiel dafür, wie Männer ein Frauenleben negativ beeinflussen können, ohne jetzt zu viel von ihrem Lebensweg zu spoilern.
Das gesamte Szenario hat zunächst etwas sehr Friedliches. Es zeigt, dass die Welt weitaus weniger bedrohlich ist, wenn keine Männer mehr auf ihr sind. Kinder können sich plötzlich frei bewegen, ohne dass ihre Mütter sich Sorgen um sie machen müssten: “Niemand rief ihnen nach, sie sollten in Sichtweite bleiben. Da waren keine Männer. Keine Autos auf den Straßen. Die kleinen Mädchen waren völlig entfesselt.” (S. 36)
Natürlich sind per se Männer nicht aufgrund ihres Geschlechts zu verteufeln und es gibt auch Frauen, die einen negativen Fußabdruck auf der Erde hinterlassen. Dennoch haben angezettelte Kriege, Umweltverschmutzung im großen Stil, Straf- und Gewalttaten in den allermeisten Fällen einen männlichen Stempel, der nur schwer wegzuleugnen ist. Um es auf einen provokanten Punkt zu bringen: Männer sind die Wurzel fast allen Übels in der Welt. In der Parallelwelt, die Sandra Newman erschaffen hat, sind es auch die “guten” und die unschuldigen Männer, die mit den anderen in ein Nirwana müssen, das später auf verstörende Weise auf Videoaufnahmen auftauchen wird - mitgefangen, mitgehangen.
Diese Dystopie stellt dementsprechend ganz zentral die Frage nach Männlichkeit und ab wann eine Person weiblich “genug” ist, um nicht selbst vom großen Verschwinden betroffen zu sein: Der Transmann wird beispielsweise in einer grausamen Szene vom weiblichen Mob, der zeigt dass auch Frauen dazu in der Lage sind rohe Gewalt auszuüben, so lange angegriffen bis seine freigelegten primären Geschlechtsmerkmale ihn als Träger von zwei X-Chromosomen “ausweisen”. Und dann ist da die jüdische Mutter Ruth, die hofft dass ihr Sohn noch da ist, stuft sie ihn doch als homo- oder immerhin bisexuell ein. Oder die lesbische Alma, die zunächst glaubt, dass ihr geliebter Bruder nicht betroffen ist, weil er doch zu den “Guten” zählt - “er war immer so sanftmütig” (S. 22). Auch Henry, der schwule beste Freund von Ji-Won kann doch unmöglich weg sein. Können nicht nur die heteronormativen Dumpfbacken und potenziellen Gewalttäter verschwinden? Nein, das Fallbeil im Roman heißt Y-Chromosom.
“Das Verschwinden” ist nicht zuletzt ein Gedankenexperiment, ein philosophischer Roman, in dem wissenschaftlich-rationale Kräfte und metaphysisch-esoterische Ansätze einander bekämpfen und ausschließen. Die Welt wurde aufgrund der Elimination der Männer quasi ihrer “Ganzheitlichkeit” beraubt und es stellt sich die Frage: Brauchen wir die “bösen” Männer, damit die Menschheit wieder eine Einheit wird?
Aufgrund all dieses philosophischen Überbaus würde ich die Erzählweise als intellektuell und gelegentlich “verkopft” bezeichnen. Die Geschichte wird aus den unterschiedlichen Perspektiven sehr nüchtern, fast emotionslos erzählt. Berichtstil, Videoinhaltsbeschreibung und wissenschaftliche Inhalte unterstreichen die distanziert-berichtende Erzählform dieser Dystopie. Hier wird ergo vor allem der Verstand der Lesenden angesprochen, nicht das Gefühl, obwohl das Thema hoch emotional ist. Trotz der extremen Gewaltszenen, die unter anderem den Tod eines männlichen Kindes darstellen (Triggerwarnung!), ist das Gelesene oftmals zu abstrakt und artifiziell, um wirklich an die Nieren zu gehen.
Sandra Newman nennt ihr Buch in ihrer Danksagung ein “oft rätselhaftes und widerspenstiges Projekt” und ich würde sagen, das trifft auch auf den Roman in seiner abgeschlossenen Form zu. Unbequem ist er, schwer zu erfassen, oft zu sehr Gedankenkonstrukt als Roman. Dennoch habe ich dieses Szenario mit Spannung und großem Interesse verfolgt. Außerdem ist dieses Buch optisch mit dem bunten Vor- und Nachsatz ein absolutes Highlight. Lesenswert!
Herzlichen Dank an die #bloggerjury und @eichbornverlag für das Rezensionsexemplar!
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