Mittwoch, 17. Juli 2024

"Helisee. Der Ruf der Feenkönigin" von Andreas Sommer


“...bald ist die Yûlfeier und danach werden die Tage bereits wieder länger. In der Finsternis des tiefen Winters geschehen bisweilen furchtbare Dinge. Aber sobald das neue Licht wieder erwacht, klärt sich dann alles zum Guten.” (Helisee, S. 445)

J. R. R. Tolkien, George R. R. Martin, Andreas Sommer? Der erste weilt schon lange nicht mehr auf dieser Erde, hat uns aber das beschert, was man gemeinhin (High) Fantasy nennt. Die Motive - Magie, Heldenreise, Elben/Feen, Zwerge/Halblinge, Drachen, Ringe, Gestaltwandler - you name ist - die er für seine phantastischen Welten zusammengebracht hat, sind in irgendeiner Form in fast jeder Fantasygeschichte zu finden. Der zweite hat das Genre Mittelalterfantasy für mich perfektioniert, weiß aber nicht so recht, wie er sein großes Epos zu einem Abschluss bringen soll. Aber wer ist dieser Andreas Sommer? 

Bevor die Menschen Geschichten aufgeschrieben haben, haben sie sie sich erzählt. Der Schweizer Andreas Sommer lässt als Sagenwanderer diese urtümliche Art der Weitergabe von Erzähltem wieder lebendig werden. Sowohl seine mystische Heimat - die Westschweiz - als auch seine Zeit als Tourguide bei den Tuaregnomaden, inspirierten ihn dazu, die eigentümlichen Märchen und Sagen seiner Heimat zu recherchieren und wieder lebendig werden zu lassen. Letztlich hat ihn dann die Pandemie dazu gezwungen, sich dem Niederschreiben des Erzählten zu widmen. Zum Glück, denn so entstand “Helisee. Der Ruf der Feenkönigin”.

Fantasy muss durch den Weltenbau überzeugen und dieser ist bei “Helisee” sehr raffiniert gemacht und wie es sich gehört auch so komplex, dass ich ihn nicht mit wenigen Worten wiedergeben kann. Jedenfalls koexistieren die magische Welt der Feen (in Helisee, dem Reich um die Feenkönigin Helva) und die Welt der Menschen (die Westschweiz im Frühmittelalter, zur Zeit der Burgunderkönigin Bertha) in diesem an Inhalt und Ideenreichtum wirklich nicht armen Roman. Wie das Nachwort verrät, sind neben den historischen Quellen zahlreiche mythologische sowie fantastische Motive und regionale Sagenstoffe in diesen Fantasyroman eingeflossen. Eine ganz große Rolle spielt die heidnische Tradition, also der “alte Glaube”, den die aufstrebenden Kirchenväter des Christentums am liebsten ausgelöscht hätten. Stattdessen haben sie nach und nach die keltischen Feiertage, also die acht “heiligen Feste im Jahresrad”, durch die christlichen ersetzt. Im Roman sind die positiv besetzten menschlichen Figuren jedenfalls vor allem die, die an den heidnischen Traditionen festhalten, obwohl Sommer ausdrücklich sagt, dass er beides nicht gegeneinander ausspielen wollte. Der Roman ist ein erzählerischer Versuch, die “Naturreligion” wieder mehr in den Fokus zu rücken, das Einssein des Menschen mit dem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen in der Natur. So beginnt der Roman auch am Tag der Beldenfeier (Beltane, Walpurgisnacht, keltischer Sommeranfang), schlägt einen Bogen über Samuîn (Samhain, Halloween, keltischer Totengedanktag und Jahresanfang) und das Yûlfest (Yule, Wintersonnenwende, Weihnachten), um wieder im nächsten Frühjahr in der Beldennacht zu enden. An diesen heidnischen Feiertagen sind - so ist der Glaube - die Grenzen zwischen unserer Welt und der Welt der Magie durchlässig und so kommt Ernestus auch zum ersten Mal in das Reich der Feenkönigin.

Sommer kombiniert auf sehr geschickte Weise die Sagen und Mythen der Schweiz (Helvetia - Helva - Helisee) mit dem klassischen Motiv-Instrumentarium der phantastischen Literatur: Ein junger Mann (Ernestus) von vermeintlich niederem Stand begibt sich auf eine Helden- und Abenteuerreise, auf der er auf magische Gestalten trifft, Geheimnisse ergründen und um seine Liebe und sein Leben bangen muss und letztlich geht es dabei wieder einmal um nichts weniger als um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Hoffnung und Verzweiflung. Der Protagonist Ernestus steht dabei zwischen zwei Realitäten, die nicht miteinander vereinbar scheinen und seine Identität in Frage stellen: “War es diese unselige Zerrissenheit eines geteilten Schicksals zwischen unterschiedlichen Welten, die ihn zu einem Verlorenen gemacht hatte?” (446) Die Identitätssuche unseres Helden steht sinnbildlich für die Sinnkrise des modernen Menschen, der den Bezug zur Natur und damit seiner eigenen Herkunft verloren hat: “Der Sturm trieb ihn immer tiefer in die gähnende Finsternis hinab. Wie ein lichtloser Strudel erfasste ihn der Sog der ersten und der letzten Dinge.” (S. 454)

“Helisee” hat mich zeitweise so in seinen Bann gezogen, dass ich alles rundherum vergessen habe beim Lesen und das allein ist doch der Grund, warum man fantastische Literatur immer mal wieder zur Hand nehmen sollte: Um auch als Erwachsene/r in eine Märchenwelt entführt zu werden, in der wir von der Schönheit von Elfen entzückt und vom Sang und Klang des Magischen entrückt werden. Sommer sagt im  Nachwort: Falls ‘Helisee’ über den reinen Unterhaltungsaspekt hinaus einen Impuls vermitteln kann, um dem persönlichen Erleben des Zauberhaften in der Natur und der persönlichen Verbindung von Landschaft und Spiritualität bewusst nachzuleben, dann hat sich für mich der Sinn und Zweck dieses Romans mehr als erfüllt.”

Wer mit Naturmystik, Sagen- und Fantasiewelten, Mittelalterromantik und nicht zuletzt den keltisch-heidnischen Bräuchen etwas anfangen kann, schöpft mit der Lektüre dieses Buches aus einem überreichen magisch-literarischen Füllhorn, das in der zeitgenössischen Fantasy wahrscheinlich seinesgleichen sucht. Fazit: Ein sehr fantastisches, tiefgründiges und besonderes Leseerlebnis. Ein zweiter Band erscheint 2025.

Herzlichen Dank an die Agentur Buchcontact und den Neptun Verlag für das Rezensionsexemplar!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.