Samstag, 20. Juli 2024

"Das Lied des Propheten" von Paul Lynch


Kafkaesk, intensiv, unvergesslich

“Sie sieht, wie das Pferd ein Ohr rotieren lässt, ohne den Kopf zu drehen, anscheinend horcht es auf etwas jenseits der beklommenen Stille [...] es hört den Tod, der in der ganzen Stadt mit offenen Armen wartet, den Tod, der darauf wartet, vom Himmel abgeworfen zu werden.” (S. 193)

“Prophet Song” ist der Roman, mit dem Paul Lynch 2023 den Booker Prize gewonnen hat. Jetzt wurde er als “Das Lied des Propheten” vom renommierten Übersetzer Eike Schönfeld für Klett Cotta kongenial ins Deutsche übersetzt. Obwohl ich den auch auf der Shortlist gewesenen Roman “The Bee Sting” von Lynchs irischem Landsmann Paul Murray sehr liebe, bin ich nach der Lektüre der Meinung, dass Paul Lynch absolut zurecht gewonnen hat. Warum?

Mit “Prophet Song” hat Lynch einen Horrorroman geschrieben, der ganz ohne übertriebenen Gore, Killer-Clowns und Untote auskommt und dennoch den Lesenden eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagt. Der Schrecken eines totalitären Regimes ist die Horrorvorstellung, mit der wir es in diesem Roman zu tun haben. Die Protagonistin Eilish, Mutter von vier Kindern und promovierte Mikrobiologin, die seit 20 Jahren in einem Bio-Tech-Unternehmen arbeitet, steht im Mittelpunkt des Geschehens. Wir haben es in dieser fiktiven - und doch erschreckend realistischen - Version von Irland mit einem Land zu tun, das von einer totalitären Partei beherrscht wird und versucht, alle Gegner des Regimes mundtot zu machen bzw. auszulöschen. Auch Eilishs Mann, Lehrer und Gewerkschafter, wird eines Tages aus heiterem Himmel verhaftet und an einen unbekannten Ort gebracht. Eilish steht vom heute auf morgen alleine da mit ihrem 17-jährigen Sohn Mark, der Teenager-Tochter Molly, dem 12-jährigen Bailey und dem Nachzügler-Baby Ben. Außerdem muss sie sich um ihren an zunehmender Demenz leidenden Vater betreuen. Als die Umstände immer schlimmer werden und es zu kriegerischen Kämpfen zwischen den Rebellen und dem System kommt, stellt sich für Eilish die Frage: Gehen oder bleiben?

An der Protagonistin Eilish wird exemplarisch ausgeführt, was ein Mensch in einem Ausnahmezustand vollbringen kann. Leider ist das keine allzu dystopische Vorstellung, denn tagtäglich gibt es nach wie vor Tausende, die in Kriegsgebieten einer ähnlichen Situation ausgesetzt sind. Eilish muss Unmenschliches vollbringen - sie muss in einem absoluten Ausnahmezustand, in dem sie um ihrem Mann und ihren ältesten Sohn bangt, den Alltag für ihre jüngeren Kinder aufrechterhalten, muss Geld, Nahrung und soviel Normalität wie irgend möglich herbeischaffen.

Die enigmatisch-kafkaeske Erzählweise - für manche durch den Wegfall der wörtlichen Rede vielleicht gewöhnungsbedürftig, mir hat das sehr gefallen - fährt einem ohne Umwege in Mark und Bein. Wie ein mäandernder Singsang bohrt sich das Geschriebene erbarmungslos in unseren Kopf, um sich dort festzuklammern. Und von dort aus breitet sich so etwas wie Panik in unserem ganzen Körper aus, wenn man einen Moment zu lange über das Gelesene nachdenkt: Was, wenn so etwas Realität werden könnte - auch für uns?

“Das Lied des Propheten” ist ein Roman über die Unbarmherzigkeit der Zeit und ihr Vergehen. Eine Trauermelodie in Prosa über das, was wir mal hatten und das Wenige, das uns davon geblieben ist sowie das noch Wenigere, das die Zeit überdauern wird.

Das fiktive Konstrukt stellt die existenziellen philosophischen Fragen: Was ist Wirklichkeit? Worauf beruhen unsere Vorstellungen von ihr? Gibt es eine allgemeingültige Realität und wie finden wir uns in ihr zurecht? Und was ist Wahrheit? Kann sie sich in einem totalitären Staat überhaupt offenbaren? “...zur Zeit gibt's keine Wahrheit, du weißt nichts, niemand weiß was, von nichts lässt sich die Wahrheit kennen.” (199)

Dass der plötzliche Verlust eines Menschen vor allem eins bedeutet, Stille, das wird im Roman immer wieder mantraartig wiederholt. Eine Leerstelle, ein Platzhalter dort wo vorher ein Mensch gelebt und geliebt und gelacht hat, ist jetzt ausgefüllt mit Stille und dem Schmerz der Hinterbliebenen. 

Paul Lynchs Prosa ist voller Allegorien und Metaphern, das Stilmittel der Personifikation benutzt er überdurchschnittlich häufig. So werden die Natur, abstrakte Begriffe und Dinge in seinem Schreiben vermenschlicht bzw. lebendig. Ich bringe nur ein paar Beispiele: “wie die Bäume die Jahre mitfühlen, indem sie die Zeit zu Ringen in ihrem Holz machen” (140), “Der Lärm sprießt in den Schlaf, er treibt aufwärts durch zwei Welten” (141), “...der Tag [...] fällt in geblümter Farbe auf Carole” (168), “die Stimme flüstert.” (199)

Wenn man diesen Roman einmal gelesen hat, dann wird man ihn mit absoluter Sicherheit nie wieder vergessen. Ein intensives Leseerlebnis und Meisterwerk der Literatur unserer Zeit.

Triggerwarnungen: Krieg, Tod, Zerstörung, leidende Kinder

Herzlichen Dank an den Klett-Cotta Verlag und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!



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