Dienstag, 28. Mai 2024

"Lichtungen" von Iris Wolff


“Jeder Augenblick, dachte Lev, enthielt alles Gewesene, und war doch immer wieder ein Neubeginn.” (S. 34)

“Lichtungen” ist das erste Buch von Iris Wolff, das ich nun endlich gelesen habe. Warum habe ich so lange gezögert? Nun, das liegt in meiner eigenen Familiengeschichte begründet. Der Roman - und ich glaube andere Werke von Iris Wolff auch - spielt zu einem großen Teil in Iris Wolffs Geburtsheimat Rumänien, vor allem in den ehemals deutschen Teilen Siebenbürgen und dem Banat. Auch meine Familie stammt mütterlicherseits aus Siebenbürgen, nach Deutschland eingewandert in den frühen 1970er Jahren. Bislang habe ich immer gezögert deutsch-rumänische Autorinnen zu lesen - auch die Nobelpreisträgerin Herta Müller habe ich bisher nur “umkreist” - weil ich eben die Befürchtung hatte, mir würde das alles zu nahe kommen, mich emotional zu sehr angreifen.

Und ja, “Lichtungen” hat mich emotional berührt, aber nicht auf eine negative, schwere Art und Weise. Das ist bei diesem Buch, bei dieser ultraleichten, fast transparenten Erzählweise, die die Autorin heraufbeschwört hat, auch kaum vorstellbar. Die Prosa von Iris Wolff fühlt sich an, als wäre sie mit einem verzauberten Schleier überzogen, den die Lesenden nach und nach abziehen müssen, um zum Grund der Dinge zu gelangen. So ist es auch konsequent, dass die Geschichte von Lev, der eigentlich Leonhard heißt, rückwärts erzählt ist. Ein Kunstgriff, der mir noch nicht oft untergekommen ist, der mich hier aber restlos überzeugt hat.

Was Iris Wolff erzählt, ist die Geschichte einer Individuation - Coming of Age rückwärts - eines jungen Mannes im Vielvölkerstaat Rumänien während der Umbruchszeit. Natürlich ist es auch eine Liebesgeschichte zwischen einer, die sich entschieden hat, zu gehen, und zwar in den Westen und einem, der sich entschieden hat, zu bleiben, und zwar im Osten. Erzählt wird aber hauptsächlich die Geschichte von Lev, an deren jeweiligen Enden, von denen das eine ein Anfang ist, Kato steht. Lev aber ist der Protagonist und Fokalisator. Das passt, denn so wie seine Nation steht er zwischen allen Stühlen. Die Mutter siebenbürgisch-sächsisch mit u.a. österreichischen Wurzeln, der Vater rumänisch. Seine Sprache ist aber das Deutsche, der sächsische Dialekt wird im Text ausgespart, wäre er doch in der Schriftsprache für Unkundige kaum verständlich. Rumänisch, die Vatersprache Levs, kommt auch nur hauptsächlich in den Motti vor, die den Kapiteln vorangestellt sind und Im Anhang übersetzt wurden. Die zeitliche Einordnung muss man sich etwas erschließen, aber die Haupthandlung dürfte in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren spielen.

Nochmal zu meiner ganz persönlichen Lektüreerfahrung: Die Feindbilder Ceauşescu, Enteignung, Kommunismus, aber auch Begrifflichkeiten wie Zacusca, Paprikasch, “noppen” (Mittagsschlaf halten), Grießbrei oder Maisbrei bzw. Polenta oder Tätigkeiten wie Ostereier mit Zwiebelschalen färben, Pferdewagen fahren und ausgiebige Totenfeiern mit Leiche abhalten sind Versatzstücke, die ich aus den Erinnerungen und Erzählungen meiner Großmutter sehr gut kenne.

Ein wundervoller Roman, den ich bestimmt in ein paar Jahren nochmal lesen werde. Ich freue mich, dass ich Iris Wolff bald auf einer Lesung erleben werde und hoffentlich noch mehr Eindrücke von ihr und dem Buch bzw. seinen Hintergründen bekomme.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.