Erstmal gilt mein Dank der wunderbaren Schmökerbox, ohne deren Sommeraktion ich diesen Roman wahrscheinlich nie gelesen hätte. Und da wäre mir wirklich was entgangen.
Der Roman "Zwei Wochen am Meer" ist 92 Jahre alt, so alt wie meine Oma es dieses Jahr noch wird. Er stammt von einem englischen Autor namens R. C. Sherriff (1896-1975), der mir ebenfalls bis dato nichts gesagt hat. Er verdiente sein Geld zunächst als Versicherungsbeamter und Dramatiker, später schrieb er in Hollywood Drehbücher. Karl-Heinz Ott, der Übersetzer dieser deutschen Neuausgabe, hat sein Leben im Nachwort nachgezeichnet und auch eine kleine Abhandlung über den Roman selbst verfasst. Sehr lesenswert, ich versuche trotzdem in meinen eigenen Worten etwas über das Buch zu sagen.
Die äußere Handlung dieses Romans ist alles andere als spektakulär: Wir begleiten Familie Stevens bei ihren jährlichen Ferien Anfang bis Mitte September - also genau zur jetzigen Jahreszeit - in Bognor Regis, einem englischen Seebad an der Südküste. Sie kommen hier seit ihrer Hochzeitsreise vor zwanzig Jahren jedes Jahr zur gleichen Zeit her. Immer steigen sie in der gleichen Pension, dem "Seaview" ab, die seit Jahren nicht wirklich modernisiert wurde. Die Familie besteht aus Mr. und Mrs. Stevens (er ist in seinen frühen Fünfzigern, sie in ihren späten Vierzigern, wenn ich richtig gerechnet habe), der Tochter Mary (20), dem Sohn Dick (17) und dem "Nachzügler" Sohn Ernie (10). Die Familie kommt aus der unteren Mittelschicht, sie hat ein bescheidenes Haus in einem Vorort von London. Mr. Stevens ist Büroangestellter in einem Lagerhaus, Mrs. Stevens Hausfrau. Die Tochter hat einen Job als Näherin/Verkäuferin in einem Modeladen, Sohn Dick hat seit Kurzem eine von seinem Vater vermittelte Stelle als Verkäufer in einem Schreibwarenladen. "Ich wollte über einfache Menschen schreiben, die normale Dinge tun", so Sherriff (Nachwort, S. 343).
Genau das Tun dieser "normalen Dinge", die Routinen, die wir alle erledigen müssen, bevor wir in die Ferien fahren und wenn wir bereits dort sind, macht tatsächlich den Reiz dieses Romans zum Großteil aus. Das Spannende ist: Was empfinden die Figuren vor und während dieser Ferien? Wie fühlen sie sich beim Verrichten alltäglicher Handlungen, wie dem Abschließen des Gartenschuppens, dem Aushändigen des Kanarienvogels an die einsame Nachbarin, dem Umstiegs-Aufenthalt auf dem Bahnhof Clapham Junction, der Mrs. Stevens regelmäßig in Angstzustände versetzt…Während die beiden großen Kinder der Stevens' über ihre Zukunft und ihre Gegenwart nachdenken, hängen Mr. und Mrs. Stevens gedanklich oft in der Vergangenheit fest. Über allem liegt eine gewisse Wehmut. Die Gewissheit, dass es die Ferien in dieser Familienkonstellation das letzte Mal geben könnte, hat sich zumindest bei den älteren Kindern schon im Bewusstsein festgesetzt, während die Eltern nur die Befürchtung hegen. Der abgewohnte Zustand des Hotels, der schlechte Gesundheitszustand der Inhaberin, das Flügge-werden der Kinder, das alles sind Anzeichen dafür, dass eine Ära zu Ende gehen könnte. Ob die Stevensens nächstes Jahr wiederkommen werden, erfahren wir leider nicht.
In diesem Roman geht es auch um die kleinen Entscheidungen, die wir treffen, die so große und nachhaltige Auswirkungen auf unser Leben haben können. Soll man sich die große, teurere Strandhütte mit Veranda leisten, um einen sehr viel komfortableren Urlaub zu haben als ohne diese zusätzliche Luxusausgabe? Auch die Vergangenheit wird in dieser Weise reflektiert.
Mr. Stevens stellt sich in einem Kapitel, in dem er über seine Frau nachdenkt, einige "Was-wäre wenn-Fragen", die sich für ihn als schicksalhaft erwiesen haben: Was wäre, wenn er nicht von seinem Arbeitskollegen gefragt worden wäre, ob er das Musical besuchen möchte, in dem seine Schwester mitspielt. Er hätte wahrscheinlich nie seine Frau kennengelernt, die als Freundin der Schwester ebenfalls als Laiendarstellerin mitwirkte. Welches Leben würde man leben, wenn man nur eine Kleinigkeit anders gemacht hätte? Eine Frage, die ich mir auch selbst oft stelle.
In unserer schnelllebigen Zeit, in der wir immer schneller "herausragende Ereignisse" präsentieren sollen, die nach 24 Stunden schon Schnee von gestern sind, tut ein solcher "leiser" Roman, in dem es um nichts anderes geht als das normale Leben und seine Routinen, unglaublich gut. Der von mir seit vielen Jahren hochgeschätzte Kazuo Ishiguro hat den Roman während des ersten Corona-Lockdowns als Wiederentdeckung empfohlen. Die Parallelen zu seinem wundervollen Roman "Was vom Tage übrigblieb" werden vom Übersetzer im Nachwort nochmal beleuchtet. Eine rundum lesenswerte Geschichte aus einer anderen Zeit, aber doch so zeitlos und allgemeingültig, dass jede/r etwas darin zu finden und wiederzuerkennen vermag. 100%ige Leseempfehlung.
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