“Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.“ Dieses sehr berühmte Zitat aus “Anna Karenina” lässt sich auch auf “Der Stich der Biene” von Paul Murray (übersetzt von Wolfgang Müller, erscheint am 14.3.2024 bei Kunstmann) und auf die dort im Fokus stehende irische Familie Barnes übertragen. Sie sind unglücklich - warum und vor allem wie es zu diesem negativen Status Quo ihrer Gefühlswelten kam - erfahren wir in diesem 700 Seiten umfassenden Meisterwerk der modernen Erzählkunst. Fun fact: Paul Murray hat das Manuskript tatsächlich zunächst mit der Hand geschrieben und es dann erst digitalisiert. Eine unfassbare Leistung angesichts der enormen Seitenzahl - und eine sehr unmittelbare Art zu schreiben.
“The Bee Sting” war 2023 für den Booker Prize nominiert und stand sogar auf der Shortlist. Aus der englischsprachigen Bücher- und Rezensent:innen-Welt gab es fast nur positive Stimmen und man kann nur mutmaßen, warum es letztlich ein anderer irischer Autor mit dem Vornamen Paul war, der den renommierten Preis abgeräumt hat (Paul Lynch für “Prophet Song”). Das Buch heißt auf Deutsch übrigens nicht “Der Bienenstich”, was die genauere Übersetzung von “The Bee Sting” wäre, weil man es sonst im deutschsprachigen Raum mit einem Kuchen verwechseln könnte. Gehaltvoll und reich an geistigen Kalorien ist dieses Werk aber allemal.
Das übergreifende Thema des Romans sind Lebensentscheidungen - und Lebenslügen. Was bewegt uns, genau diese Entscheidungen zu treffen, die wir getroffen haben? Warum unterdrücken wir Teile unseres wahren Ichs, nur um anderen zu gefallen bzw. in die traditionellen Raster einer Gesellschaft zu passen? Und: spielt das Schicksal eine Rolle? Wäre alles anders gekommen, wenn die Braut am Hochzeitstag nicht von einer Biene gestochen wäre? Würde jemand ein urbanes, queeres Leben in der Großstadt führen, wenn nicht ein ihm nahestehender Mensch bei einem Autounfall gestorben wäre, dessen “Platz” und Rolle er eingenommen hat?
Gibt es sowas wie valide Omen, Vorsehung, Wahrsagen - und Geister? Was macht der Verlust der einzigen wahren Liebe mit einem Menschen?
Diese Fragen - und noch viele mehr - stellt sich der Roman anhand des Fallbeispiels der scheinbaren irischen Durchschnittsfamilie Barnes, die bei genauer Betrachtung - und die Betrachtung ist mit 700 Seiten sehr genau - alles andere als durchschnittlich ist. Ihr psychologischer und ökonomischer Verfall wird eindringlich dargestellt. Man könnte das Werk von der Dynamik, Disposition und Thematik her gut mit Thomas Manns “Buddenbrooks” vergleichen: “Der Stich der Biene” handelt nämlich auch vom “Verfall einer Familie”, wie es bei Thomas Mann im Untertitel seines Nobelpreis-Werks heißt.
“Der Stich der Biene” fühlt sich stellenweise an, als würde man das Protokoll einer sehr intensiven Therapiesitzung lesen, bei der die tieferen Schichten des Bewusstseins der literarischen Figuren nach und nach freigelegt werden. Es fügen sich immer mehr Puzzleteile zusammen, die am Ende ein großes Ganzes ergeben, auf dem die gegenwärtige verfahrene Situation zusammen mit den Versatzstücken aus der Vergangenheit abgebildet ist. Das Ende ist aber entsprechend offen - jeder kann sich seine/ihre eigene Meinung bilden, was nun genau geschehen wird.
Die Erzählweise ist multiperspektivisch. Der Roman wird aus den unterschiedlichen Perspektiven der vier Mitglieder der Kernfamilie erzählt: Zunächst Cass, die Tochter, die kurz vor ihrem Schulabschluss steht und der Provinz sowie der angespannten familiären Situation durch die Aufnahme aufs Trinity College Dublin entfliehen möchte. Dann PJ, der zwölfjährige “Nachzügler”, der den drohenden finanziellen Ruin der Familie auch körperlich zu spüren bekommt. Die Geschichten der beiden Jugendlichen sind voll mit Jugendsprache, Kraftausdrücken und Chat-Konversationen. Ganz anders nimmt sich da plötzlich die Perspektive der Mutter Imelda aus. Ihre Sicht wird sehr unmittelbar im inneren Monolog bzw. Gedankenstrom erzählt, wobei die Interpunktion ausgesetzt ist und wir nur an der Großschreibung erkennen können, wenn ein neuer Satz beginnt. Das ist natürlich eine Hommage an Murrays berühmten Landsmann James Joyce und das letzte Kapitel von “Ulysses”. Die Unmittelbarkeit, die hier erzeugt wird, ist bestechend. Komplettiert wird das Ganze durch die Perspektive des “Familienoberhaupts” Dickie, der gegen die drohende Insolvenz seines Autohauses und gegen seine wahre Identität ankämpft. Während die Kinder sich vor allem mit ihrer Gegenwart und der Zukunftsangst auseinandersetzen, sind die Geschichten der beiden erwachsenen Familienmitglieder von der Vergangenheit geprägt. Wie wurden sie zu den Menschen, die sie jetzt sind. Schön und wichtig, wenn es um die Fiktionalisierung unserer gegenwärtigen Lebenswelt geht, finde ich auch den queeren Aspekt des Buches. Damit hätte ich zunächst nicht gerechnet und ich will diesbezüglich auch nicht zu viel verraten, nur dass es ihn eben gibt.
Umwelt- und Klimaschutz sind Themen, die ebenfalls eine wichtige Rolle im Roman spielen. Cass beginnt sich während ihrer fortgeschrittenen Schulzeit mit Klimafragen auseinanderzusetzen und begeistert auch ihren Vater dafür. Als Inhaber eines Autohauses zweifelt er zunehmend an seinem Beruf. Bei ihm trägt die Zunahme des ökologischen Bewusstseins quasi zum ökonomischen Verfall der Familie bei. Die prekäre Lage der dysfunktionalen Familie Barnes ist außerdem ein Symbol für die verheerende Lage, in der sich die ganze Welt angesichts des Klimawandels - genau jetzt in unserer Gegenwart, in der wir alle gemeinsam auf diesen Planeten leben, der kurz vor der Zerstörung steht - befindet. Der Mikrokosmos Barnes spiegelt den Makrokosmos Erde. Daher auch das offene Ende: Es ist unklar, ob die Menschheit es schaffen wird, das Ruder noch herum zu reißen, genauso unklar ist es, ob die Familie Barnes selbiges schafft. So viel sei gesagt: Die Vorzeichen sind keinesfalls positiv und eine Tragödie ist wesentlich wahrscheinlicher als ein Schauspiel mit freudigem Ausgang. Einer der unheilsschwangeren Sätze, die mir im Gedächtnis geblieben sind, lautet: “Man konnte die Menschen, die man liebte, nicht schützen - das war die Lektion der Geschichte, und deshalb bedeutete die Liebe zu jemandem, sich einer drastisch erhöhten Leidensstufe auszuliefern.” (S. 442)
Der Roman lässt sich nicht mal eben schnell “weglesen”. Für dieses Buch braucht man Zeit, Energie und die Bereitschaft, sich wirklich voll und ganz auf diese Geschichte - in all ihren Facetten und kleinsten Verästelungen - einzulassen, sonst funktioniert es nicht. Hat man aber seinen Teil als Leser:in eingebracht, dann wird man mit einem erzählerischen Opus Magnum belohnt, das einen nicht selten verzaubert und zur Selbstreflektion anregt - und das ist ja der Sinn und Zweck von Literatur.
Herzlichen Dank an den Kunstmann-Verlag und Lovelybooks für das Rezensionsexemplar!
Diesen Buchrücken liebe ich übrigens ganz besonders.
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