Entzieht sich einer finalen Einordnung
“Aber es gibt keine neuen Gedanken. Nur alte, die in neue Momente hineingeboren werden - und in diesen Momenten lautet der Gedanke: Ohne die Erde sind wir alle erledigt. Nicht eine Sekunde würden wir ohne ihre Gnade überleben, wir sind Seefahrer auf dunkler, gefährlicher See, ohne unser Schiff würden wir ertrinken.” (S. 19)
“Orbital” (dt. “Umlaufbahnen) hat dieses Jahr den Booker Prize gewonnen. Durch englischsprachige Booktuber hatte ich den Roman bereits seit dem Frühjahr 2024 auf dem Schirm, wobei durchaus gemischte Reaktionen zu verzeichnen waren. Der Gewinn kam auch für Samantha Harvey laut eigener Aussage überraschend, war doch “James” von Percival Everett der am wahrscheinlichsten gehandelte Gewinner. Warum also “Umlaufbahnen” (aus dem Englischen von Julia Wolf bei @dtv)? Ein handlungsarmer, kurzer Roman über vier Astronaut:innen und zwei Kosmonauten auf einer Mondmission, die sich selbst und den “Blauen Planeten" von außen reflektieren.
Der eingangs zitierte Satz zeigt schon, dass das Buch für zwei Arten von Lesenden nicht geneigt ist: Für solche, die kein prosaisches Pathos und metaphorische Verkünstelungen mögen und für solche, die Action sprich Handlung in einem Roman brauchen, um ihn genießen zu können. Ich bin eine sehr sprachaffine Leserin, weshalb mich Harvey stellenweise überzeugen konnte. Dennoch: Will ich als Lesende dauernd darauf hingewiesen werden, dass das Leben kurz und ein ganz schönes Nichts angesichts der unendlichen Weiten des Alls und der Ewigkeit ist. Hm, nicht unbedingt. Trotz der schönen Prosa und eindrücklichen Sinnbildlichkeit hat mich die Lektüre leider etwas runtergezogen.
Dazu kommt der problematische politische Aspekt, der einigen Rezensent:innen sauer aufgeschlossen ist, nämlich die Russland-Problematik. Manche unterstellen Harvey Sympathien für das Putin-Regime, weil hier zwei russische Kosmonauten positiv dargestellt werden, die sich nach ihrer Heimat sehen - und die Ukraine mit keinem Wort erwähnt wird. Ja, schwierig - aber muss man Literatur immer politisch deuten, zumal in einem Roman, in dem es um die Menschheit geht, von einem ganz universellen Standpunkt aus? Es ist einfach ein Fakt, dass Russland eine der beiden großen Raumfahrtnationen ist. Gibt es überhaupt noch sowas wie “l'art pour l'art” und darf man nach dem 24.2.2022 als außenstehende Person - Samantha Harvey ist Engländerin - überhaupt noch etwas über russische Menschen schreiben? Im Roman wird der Konflikt zwischen den russischen Kosmonauten und den amerikanischen, japanischen und europäischen Astronaut:innen ad absurdum geführt, weil es zwischen den Raumfahrenden keine Grenzen und politischen Konflikte gibt, sie ihnen aber z.B. durch getrennte Toiletten von den unterschiedlichen Raumfahrtbehörden aufoktroyiert wurden. “Wenn doch Politik wirklich nur Pantomime wäre”, heißt es an einer Stelle im Roman. Ist dies also ein unpolitisches Manifest und völlig absurd, dass manche der Autorin Gegenteiliges unterstellen?
Die Heimatstädte der sechs Raumfahrenden - Seattle, Osaka, London, Bologna, Moskau und St. Petersburg - sind aus dem All betrachtet plötzlich alle in weite Ferne gerückt. Die geografischen Beschreibungen sind kenntnisreich und interessant, fühlen sich aber oftmals nach “erzählendem Sachbuch” an. Sicherlich lernt man einiges über die alltäglichen Vorgänge im Weltall, ansonsten besteht die Handlung lediglich aus den Reflexionen der Autorin und den Gedanken der sechs Personen im All.
Das Buch ist sehr philosophisch und “deep”, wie man heute sagen würde. Die Gedanken über das Gemälde “Las Meninas” von Velàquez, das Shaun von seiner Frau als Postkarte in den Weltraum mitbekommt, haben mir gut gefallen. Ansonsten war mir der philosophische Diskurs “über Gott und die Welt” ein bisschen zu viel aufgetragen, vor allem auf dem engen Raum dieses kurzen Romans. Die Gedanken an die Raumstation an sich und ihre Enge lösten bei mir öfters klaustrophobische Gefühle aus und ich fragte mich das Gleiche, was sich die Zufallsanruferin fragt: Warum das alles? Die Selbstzweifel, die die Weltraumreisenden zuweilen befallen, sind mehr als nachvollziehbar: “Warum solltest du das tun? Versuchen, an einem Ort zu leben, an dem du nie gedeihen kannst?” (S. 83) An manchen Stellen habe ich einen gewissen Nihilismus herausgelesen und Zweifel gegenüber allem menschlichen Streben. Wie hoch ist der Preis, den wir für den immer größeren Wissenserwerb zahlen?
Es ist mir nach der Lektüre unmöglich zu sagen: Dieses Buch ist gut oder schlecht. Ich kann nur sagen, ich habe mich beim Lesen oft überfordert gefühlt und auf unangenehme Weise überwältigt. Für den “Booker Prize” hätte ich es persönlich nicht ausgewählt. Zu viel Pathos und zu viel Negativität. Wenn man Depressionen hat, sollte man nicht zu diesem Buch greifen. Andererseits kann ich auch nachvollziehen, dass viele den Roman feiern. Es könnte durchaus sein dass das Buch angesichts seiner universellen Thematik die seltene Kraft hat, die nur ganz wenige literarische Werke haben: Es kann nach der Lektüre die Sicht der Lesenden auf die Welt verändern - und hier im wortwörtlichen Sinne die Sicht auf den tatsächlichen Planeten Erde. Es kann ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit unseren Mitmenschen auslösen, denn es ist an uns und uns allen allein, dass wir diesen blauen Planeten so gut es geht schützen. Kann, muss aber nicht, wie man an meiner Leseerfahrung sieht. Schwierig, schwierig.
Herzlichen Dank an dtv für das Rezensionsexemplar!
Nähere Infos zum Buch: hier
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