Mittwoch, 27. August 2025

"An Evening of Long Goodbyes" von Paul Murray


Seit ich “Der Stich der Biene” gelesen habe, ist Paul Murray sowas wie mein “Autoren-Maskottchen” - sprich: Ich liebe seinen Schreibstil und meine mir auch einiges davon abgeschaut und für mich adaptiert zu haben. Außerdem ist er einer der sympathischsten und nahbarsten Schriftsteller, die ich je kennenlernen durfte. Ich habe mir vorgenommen, alles von ihm zu lesen - bislang gibt es vier Romane. “An Evening of Long Goodbyes” ist sein Debütroman aus dem Jahr 2003. Wie immer bei Paul Murray ist der Plot sowohl für die Lachmuskeln als auch für die Tränendrüsen bestens zum Training geeignet - und für das Gehirn sowieso. Man muss allerdings einiges an Sitzfleisch mitbringen, um sich den klein geschriebenen 460-Seiten-Roman in der Ausgabe des Penguin-Verlags gefügig zu machen. Die deutsche Übersetzung gab es mal beim Kunstmann-Verlag, der Murray auf Deutsch verlegt. Momentan ist sie aber - glaube ich - vergriffen.

Der Morgenmäntel mit Troddeln tragende Protagonist des Romans, Charles, ist alles andere als ein durchschnittlicher Mitte-20-Jähriger. Er wirkt eher wie ein gut situierter Großvater, der ständig Longdrinks trinkt und dabei seinen Enkeln die Welt erklärt. Doch diese Welt wird erschüttert, als ihm langsam dämmert, dass das Vermögen, das sein verstorbener Vater ihm, seiner Schwester und seiner psychisch angeschlagenen Mutter hinterlassen hat, mehr als aufgebraucht ist. Dass das feudale Anwesen im Süden Dublins so nicht mehr zu halten ist. Und so stolpert Charles wie ein moderner Odysseus durch ein tragikomisches Schauspiel, in dem ein tragikomisches Schauspiel aufgeführt wird. Seine Schwester, Bel, ist nämlich Schauspielerin und will aus “Amaurot”, so heißt das Familienanwesen, am liebsten ein Theater machen. Doch Charles weiß nicht, wohin mit sich. Schließlich hat er bislang nur alte Hollywoodfilme, das Leben als Neureicher und ein wenig Theologie am Trinity College studiert, letzteres aber abgebrochen. 

Der Roman spielt in den sehr frühen 2000er Jahren, als Irland einen nie dagewesenen wirtschaftlichen Boom erlebte. Eine spannende Zeit, der Beginn des neuen Jahrtausends. Murray hat den Roman zeitnah am Geschehen geschrieben und so erkennen wir - wenn wir alt genug sind - vieles aus diesen Jahren wieder, die mittlerweile auch über 20 Jahre her und nostalgisch verblasst sind. Die Anfangszeit der Mobiltelefonie, also die Zeit, als Handys noch etwas exotisches und nicht für jedermann zu haben waren. Auch der Beruf des IT-lers war noch relativ frisch und die Jugoslawienkriege, die auch eine wichtige Rolle spielen, gerade erst zu Ende bzw. in den letzten Zügen. 

An vielen Stellen hat mich der Roman zum Lachen gebracht und an ebenso vielen nachdenklich gemacht. Paul Murray kann dieses Balancieren auf dem Tragikomischen wie kaum ein anderer. Außerdem ist er “schuld”, dass ich jetzt einen Crush auf Kate Winslet habe (die Titanic-Szene). Dennoch war ich dann auch irgendwie froh, als Charles am Ende (vielleicht) seine Bestimmung gefunden hat und ich das Buch zuklappen konnte. Zwei “Paul-Murrays” fehlen mir noch und ich bin sicher, dass er schon ein neues Kunstwerk mit der Hand schreibt, denn das macht er so. Was für ein cooler Typ! Trotzdem kann ich das Buch nur für eine gewisse Zielgruppe empfehlen - es ist halt doch aus der Zeit gefallen und das muss man mögen. 


Samstag, 23. August 2025

"Dopamin und Pseudoretten" von Varina Walenda


“Jemand hat mir mal gesagt, dass man die Erinnerung beim Erinnern jedes Mal verfälscht. Sie wird dann wie die Kopie einer Kopie immer verschwommener. Bis man sehr viel Fantasie braucht, um noch etwas zu erkennen.” (S. 7)

Die erste Hälfte von “Dopamin und Pseudoretten” hat richtig Spaß gemacht. Es geht um Janis, der auf dem Papier noch Jana heißt und mitten in der Transition steckt. Er ist 25, in einer Existenzkrise, hat keine Kohle und lebt als Exil-Schwabe in Berlin am Kotti (Kottbusser Tor) in einer WG mit zwei hetero-cis-Frauen. Sein erfolgreicher jüngerer Model-Bruder Marcel hat ihm einen Job als Assistent am Theater verschafft, wo er der Kostümbildnerin Irina zuarbeiten darf. Sie verlieben sich, aber die Beziehung entwickelt sich anders als erhofft.

Ich mag es, dass das Thema Transsein hier auf unverkrampfte und dennoch ernsthafte Weise besprochen wird. Außerdem fand ich die Kodderschnauze und unverblümte Art, die Jannis ausmachen, supi erfrischend. Allerdings muss ich sagen, dass das Ganze dann irgendwann gekippt ist - die Handlung sich mit einem mal zu konstruiert, zu schwer angefühlt hat. Ich habe dem Leichten, “Ungehobelten” der ersten Hälfte nachgetrauert. Es wird auch zunehmend “verworrener” - ich bin nicht mehr ganz durchgestiegen bei manchen Handlungssträngen, z.B. das mit Joachim Schmettau -  und die kurzen Kapitel fühlen sich trotzdem lang und etwas zäh an. Trotzdem hat mich das Ende dann emotional doch wieder abgeholt. Irgendwie schon ein kleiner Trip, dieses Buch und um Drogen und unterschiedliche Bewusstseinszustände geht es ja letztlich auch.

Ob die Roman-Klischee-Aussage “Irgendwo bellt ein Hund” (S. 64) bzw. 104 (“Irgendwo fängt ein Hund an zu bellen.”) - gegen Ende kläfft er dann auch nochmal -  ganz unironisch eingeworfen wurde oder schon Literatursatire ist, werde ich wohl nie erfahren.

Alles in allem interessant und mit Abstrichen lesenswert.

Donnerstag, 7. August 2025

"Öffnet sich der Himmel" von Seán Hewitt


Malerischer Coming-of-age-Roman, den man nie mehr vergisst

Wenn man richtig verliebt ist, mit ganzem Herzen und ganzer Seele, dann gibt es wohl kaum eine schlimmere Erkenntnis, einen größeren Schlag in das rosarote Brille tragende Gesicht, als den Satz: “Er/Sie/They steht einfach nicht auf dich.” Ich bin sicher, die allermeisten von uns haben ihn schon als perfide, vernichtende Stimme der Vernuft im sich grundlose Hoffnungen machenden, verknallten Hinterkopf gehört. Fast noch schlimmer ist es, wenn man einseitige, unglückliche Verliebtheit bei anderen beobachtet und zusehen muss, wie sie in ihr eigenes Elend rennen. Wenn sich diese einseitige Liebe in der Literatur zuträgt, dann befinden wir uns in der Rolle des Voyeurs, aber auch des verschämten Freundes - denn unglückliche Verliebtheit hat auch etwas schamvolles, unangenehmes an sich.

James, der sechzehnjährige Protagonist von “Öffnet sich der Himmel”, ist so ein unglücklich verliebtes Wesen, das man einfach nur in den Arm nehmen und vor der Welt beschützen möchte. Wir als Lesende lieben mit ihm den schönen, ein Jahr älteren Luke, der wegen seiner schwierigen Familienverhältnisse eine Zeit lang in James’ irischem Dorf Thornmere, bei dessen Onkel und Tante lebt. Wir interpretieren mit James die sanften Zeichen, die auf eine Gegenseitigkeit der Gefühle hindeuten könnte. Wir hoffen, wo es keine Hoffnung gibt, denn wir wissen von Anfang an: Luke wird James nicht zurücklieben und James wird ihm trotzdem ein Leben lang hinterhertrauern.

Schon vom ersten Satz an, hat mich dieses Buch in seinen Bann gezogen. Die Geschichte, die sich hier vor uns auffächert, ist auf die schönstmögliche Art und Weise erzählt worden, wie man Geschichten erzählen kann: blumig, bildreich, sanft, melancholisch, einfühlsam und gelegentlich sogar witzig. Seán Hewitt ist eigentlich Dichter und diese seine genuine Kunstform merkt man seinem ersten Roman auch an: hier wird im wahrsten Sinne des Wortes mit Worten gemalt. 

Dieser Roman hat mich wirklich sehr berührt und gefesselt und deshalb führt das, was ich jetzt sage, auch zu keinerlei Punktabzug und soll nicht als Kritik betrachtet werden. Aber ein Teil von mir möchte mehr wissen. Die Andeutungen, die James als Erwachsener aus der Retrospektive macht, lassen viele Fragen offen. Was ist aus James’ Eltern und seinem Bruder Eddie sowie dessen Krankheit geworden? Wie hat er seinen Mann kennengelernt, was war er für ein Typ und ist die Beziehung zu ihm wirklich wegen Luke auseinandergegangen? Tell me more! Und natürlich die brennendste Frage von allen: Hatten er und Luke danach keinen Kontakt mehr? Hat er von seinem Onkel und seiner Tante keine Infos über ihn erhalten können? Irgendwie macht es aber auch Sinn, dass dieser wundervolle Roman seine Lesenden in einem Zustand der Ungewissheit zurücklässt und sich so von ihnen verabschiedet wie Luke in der Morgendämmerung von James an der Türschwelle. Das Verlangen bleibt und wird niemals vergehen. 

Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Kleiner.

Herzlichen Dank an Suhrkamp und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

Sonntag, 3. August 2025

"Liebesheirat" von Monica Ali


“Liebesheirat”, ein Roman der britischen Autorin Monica Ali, klang so gut. Es sollte um eine interkulturelle Ehe in London gehen. Nämlich um die Ehe von Yasmin und Joe. Die indischstämmige Britin und der Engländer sind beide Ärzte, Ende 20 (oder Anfang 30 hab ich nicht mehr so genau auf dem Schirm) und lieben sich. Sie sind nicht das Problem, sondern die unterschiedlichen Ansichten der beiden Familien. Die Mutter von Joe, mit der er zusammenlebt, ist irgendwie Künstlerin, Uni-Dozentin und Feministin und hält dementsprechend natürlich nichts von Frauen, die sich einem Mann “unterordnen”. Das macht Yasmin auch nicht, aber irgendwie ihre Mutter, die Hausfrau ist und ihr Leben für die Familie “geopfert” hat. Naja, sie treffen dann zum ersten Mal aufeinander und statt eines Feuerwerks an Handlungselementen und brillanter Unterhaltung ob dieser skurrilen Situation, habe ich nur eins gefühlt: gähnende Langeweile. Es wird jedes kleinste Details lang, breit und ausführlich vor uns aufgefächert und ich habe nach 105 Seiten (erstmal) beschlossen, dass ich mir die ganzen 591 Seiten nicht geben will. 

Ich habe eigentlich sowas erwartet wie den Ben-Stiller-Film “Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich”, nur halt intellektueller und weniger Slapstick. Aber dass das so lame wird, war echt schade. Von den Charakteren fand ich einzig den Bruder, dessen Namen ich nicht mehr weiß, einigermaßen spannend. Weil er eben mit Mitte 20 noch zu Hause wohnt und nicht den beruflichen Ehrgeiz seines Vaters und seiner Schwester an den Tag legt. Er ist nicht perfekt und deswegen mag ich ihn. Vielleicht lese ich irgendwann nochmal weiter, um zu wissen, wie es mit ihm weitergeht. Yasmin und Jo interessieren mich leider herzlich wenig.

Übersetzt aus dem Englischen von Dorothee Merkel.