Roman über die “K-Frage” und das Dilemma des Frauseins
Alle Menschen mit funktionierender Gebärmutter und Eierstöcken stehen irgendwann im Laufe ihres Lebens vor der alles entscheidenden Frage: Möchte ich Kinder gebären oder nicht? Obwohl Mädchen heute immer früher ihre Periode bekommen, ist das Zeitfenster, in der Frauen in der westlichen Wohlstandswelt sich für oder gegen leibliche Kinder entscheiden können gefühlt kleiner geworden. Das liegt an den hohen Erwartungen, die die Gesellschaft an uns Frauen hat: Erstmal Studium, Erfahrungen machen und Karriere, Wohnsituation klären und natürlich den richtigen Partner oder die richtige Partnerin finden, bevor Frau mit etwa Anfang 30 überhaupt ans Kinderkriegen denken kann. Mit Mitte 30 sinkt die Fruchtbarkeit aber schon wieder rapide, die gesunden Ausnahmen der Mittvierzigermütter: selten und oftmals prominent.
Jackie Thomae hat sich in ihrem neuen Roman dem Problemfeld “K(inder)-Frage” angenommen. Sie schreibt über erwachsene Frauen im Deutschland der Gegenwart und was diese Frage mit bzw. aus ihnen gemacht hat. Die Lebenswege der Frauen, die Thomae erzählt, kreuzen sich in diesem Roman. Wir haben also einen multiperspektivischen Erzählansatz, bei dem die Figuren abwechselnd aus deren Sicht das Geschehen schildern. Im Fokus steht dabei Marie-Claire (MC) Sturm, sie ist die Hauptfigur, zu der alle anderen Frauen, aus deren Sicht erzählt wird, in irgendeiner Beziehung stehen. Ihren Lebenslauf bekommen wir ziemlich detailgetreu geschildert. Zum Zeitpunkt des Beginns der Handlung ist sie 39, kinderlos und mit wechselnden Männern liiert bzw. Single. Sie steht als Radio-Moderatorin und Podcasterin mitten im Leben und setzt sich - nun langsam am Ende ihrer fruchtbaren Phase - mit der “K-Frage” auseinander. Ihr Problem ist vor allem die fehlende Beziehung kombiniert mit dem unbarmherzigen Nahen der Menopause, die sie von einem Wunschkind trennen: "Alles andere musste warten, bis dieser Felsbrocken aus dem Weg geräumt war. Doch was machte man, wenn man dafür einen anderen Menschen brauchte? Wo bekam man den her?” (81) Außerdem belasten sie die beiden Abtreibungen, die sie mit 17 und 29 hatte. Was wäre wenn? Welche Alternativleben geistern im eigenen Leben herum und blockieren einen?
Ebenfalls als Hauptfigur könnte man Anahita Martini bezeichnen, weil wir von ihr nach MC am meisten erfahren. Die ebenfalls zu Beginn 39-jährige ist Senatorin für Bildung, Jugend und Familie in der Berliner Stadtregierung und wird in dieser Funktion von MC fürs Radio interviewt. Auch sie steht als kinderlose Geschiedene vor einem Scheideweg: “Sie stand an einer Weggabelung, beide Wege führen in die Angst. Mutter zu werden. Keine Mutter zu werden.” (S. 129) Dies führt bei Anahita zu einer Art Paralyse. Bei ihr kommt der Druck vor allem von außen. Ihr älterer Bruder Reza ist gerade mit Ende 40 zum dritten Mal Vater geworden und von Seiten der Öffentlichkeit werden ebenfalls bestimmte Erwartungen an eine Familienpolitikerin gestellt.
Auch Rezas Frau Lydia kommt in einem Kapitel zu Wort. Sie hat ihren Job in der Werbebranche aufgegeben und mit Mitte Vierzig noch das dritte Kind bekommen. Sie bringt die Perspektive einer Mutter kleiner Kinder ins Spiel und illustriert auf humorvolle Weise, dass Muttersein nicht die einzig heilbringende Daseinsform ist, obwohl sie ihre Kinder abgöttisch liebt. Ihre innerliche Auflehnung gegen die perfekte und gesunde Welt der “AllesrichtigmacherMütter” liest sich so authentisch und unverblümt wie man es sich nur vorstellen kann. Eine Tirade gegen die Perfektion, frei von der Leber weg.
Coach Maren, eine Freundin von MC, leitet ein Selbstfindungs-Retreat zum Thema "unerfüllter Kinderwunsch - Muss auch ich Mutter werden?” und ist nicht wenig überrascht, als sich eine der Teilnehmerinnen als Mann herausstellt. Auch sie ist im beginnenden mittleren Alter und kinderlos. Außerdem kommt noch die Perspektive von Dr. Henriette Nonnenmacher ins Spiel, der Gynäkologin von Anahita und MC sowie die von Rebekka, MCs ebenfalls kinderloser jüngerer Schwester.
Für mich ist das, was in diesem Roman geschrieben steht und wie die unterschiedlichen Frauen nachdenken und sich selbst ausführlich reflektieren, unglaublich nah am Puls der Zeit. Jackie Thomae hat ein weibliches Gesellschaftsportrait gezeichnet, das lebensecht und nahbar ist und mit dem sich die allermeisten Frauen - ob Mutter oder nicht - werden identifizieren können. Die Konzepte Muttersein und Kinderlosigkeit werden nicht gegeneinander ausgespielt, beides ist richtig und wichtig und so soll es auch sein. Das ist sehr versöhnlich und ich meine zwischen den Zeilen die Botschaft durchzulesen, dass Frauen - ob Mütter oder nicht - mehr zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen sollten.
Die Erzählweise mit dem Verzicht auf Anführungszeichen bei direkter Rede finde ich angenehm und zeitgemäß, wird aber nicht jedem gefallen. Das einzige, was ich bemängeln muss, ist, dass mir manches doch zu sehr in die Tiefe geht und ich auch mit weniger Seiten glücklich gewesen wäre. Insgesamt ein sehr empfehlenswerter und schöner Roman, für alle, die gebären könnten, sowieso.
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