Sonntag, 11. August 2024

"There There" von Tommy Orange

“We all came to the Big Oakland Powwow for different reasons. The messy, dancing strands of our lives got pulled into a braid - tied to the back of everything we'd been doing all along to get us here. We’ve been coming from miles. And we've been coming for years, generations, lifetimes, layered in prayer and handwoven regalia, breaded and sewn together, feathered, braided, blessed, and cursed.” (S. 135)

“Own Voices"-Geschichten sind - zumindest in der englischsprachigen Literatur - momentan sehr gefragt. Man möchte gewisse Themenbereiche in Romanen, in denen es hauptsächlich um Dinge geht wie sexuelle Orientierung/Geschlecht oder indigene Zugehörigkeiten am liebsten von Personen erzählt bekommen, die wissen von was sie reden, weil sie selbst ein Teil der Gruppierung  sind. Authentizität ist hier das Stichwort. Und so ist es auch nicht verwunderlich dass mit Tommy Orange zum ersten Mal ein Native American (im Folgenden bleibe ich bei der Begrifflichkeit “Native/s”, weil sie von indigenen Amerikaner:innen selbst verwendet wird) mit “Wandering Stars” (“Verlorene Sterne” bei Hanser) für den ultra prestigeträchtigen Booker Prize nominiert ist.

“Wandering Stars” ist unmittelbar mit Oranges Debütroman “There There” (dt. “Dort Dort” bei Hanser/TB dtv) von 2018 verbunden, der 2019 für den Pulitzer Preis nominiert war und den American Book Award erhielt. Da “Wandering Stars” eine Art Sequel zu “There There” darstellt, bietet es sich an, diesen Debütroman zuerst zu lesen. Ich habe ihn als Buddyread mit @die.buchbloggende gelesen, sie auf Deutsch, ich auf Englisch. Das war sehr gut, weil so konnten wir uns etwas über die verschiedenen Begrifflichkeiten und deren Übersetzung austauschen.

In “There There” werden die Ungerechtigkeiten, die den indigenen Menschen Nordamerikas im Laufe der Geschichte angetan wurden, thematisiert. Das ist bedrückend und erschreckend zugleich, das Gefühl der Fremdscham für die brutalen Verbrechen der weißen Eroberer hat sich bei mir sofort eingestellt. Man muss sich nur mal vorstellen, dass Thanksgiving für die Natives die Feier der weißen Eroberer über den Genozid an den Indigenen darstellt und dies heute als einer der größten Feiertage der US-Amerikaner jedes Jahr aufs Neue zelebriert wird. Anhand von 12 Charakteren, allesamt “Urban Natives” aus Oakland (Kalifornien), illustriert Orange die gegenwärtige Lebenswelt von indigenen Amerikaner:innen. Sie alle haben es schwer gehabt im Leben bzw sind noch längst nicht angekommen. Glück, Wohlstand und Gesundheit sind für die meisten der Ich-Erzähler:innen ferne Wünsche. Sie alle arbeiten auf irgend eine Weise auf den großen “Powwow” von Oakland hin, wo sie ihre Kultur und den Zusammenhalt mit Musik und Tänzen feiern.

Es fällt mir sehr schwer dieses Buch zu bewerten, denn einerseits ist die Wichtigkeit des Themas über jeden Zweifel erhaben, andererseits hat mir aber etwas gefehlt und an dessen Stelle ist eine gewisse Überforderung bei mir eingetreten. Vor allem konnte ich die 12 Charaktere und ihre Geschichten irgendwann nicht mehr ganz auseinanderhalten. Es gibt zwar am Anfang eine Kurzbeschreibung der Charaktere, aber trotzdem: Wer hatte jetzt nochmal seine Eltern, Geschwister, Stiefvater verloren, wer kennt seinen Vater nicht, wer war ungewollt schwanger, wer hat Gewalt und Missbrauch erlebt, wer war süchtig und nach was und wer konnte tagelang nicht “Groß” auf dem Klo? Natürlich verstehe ich den Ansatz, möglichst viele Geschichten erzählen zu wollen, aber sie sind leider durch die Bank alle sehr deprimierend. Wir haben - aus meiner Sicht - keinerlei “comic relief” in diesem Buch, es ist alles sehr, sehr ernst. Zudem konnte ich zu den wenigsten Charakteren eine Verbindung aufbauen, da sie in ihrer Tragik sehr holzschnittartig rüberkommen. Es gibt Stellen, da hat mich aber die Sprache und die Erzählweise unglaublich berührt, zum Beispiel beim Kapitel “Thomas Frank”, das einen inneren Monolog in der Du-Anrede abbildet. Es ist alles sehr "deep", wie man im Englischen sagen würde. Wer eine solche ultra tiefgründige Lektüre sucht, der ist hier genau richtig. Aber man muss sich wirklich auf die Abgründe des menschlichen Lebens gefasst machen - fast alle Trigger, die man sich so vorstellen kann, sind in diesem multiperspektivischen und preisgekrönten Roman vorhanden. Vor allem aber: Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Gewalt, Missbrauch/Leid von Kindern.


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