Stell dir vor, die erste Wesenheit, der du romantische Gefühle entgegenbringst, die du küssen und berühren möchtest, ist ein wunderschöner, frisch gestorbener junger Drogentoter, der vor deiner Haustür liegt. Du bist fünf Jahre alt, ein dicklicher träger Junge, in dem die Seele eines zarten Mädchens steckt. Du wächst bei einer fast armen, aber ansonsten sehr liebevollen Familie (der ältere Bruder ist dein Held und Halt) in einem Arbeiter(= Problem)viertel von Madrid auf, in dem Glanz und Gloria, die du heimlich vor dem Spiegel übst, so weit entfernt scheinen wie der Horizont. Du fühlst dich in der Gesellschaft von Frauen am wohlsten und stellst gleichzeitig fest, dass du auf Männer stehst. Du machst als Teenager erste sexuelle Erfahrungen mit einem ziemlich süßen Jungen, lernst die queere Welt ein bisschen besser kennen und eigentlich ist alles ganz nice, doch da ist etwas: Du bist kein Junge, kein Mann. Du bist eine Frau. Und außerdem ist da die Gesellschaft und die “reale” Welt um dich herum: mit ihren binären Vorstellungen, ihren limitierenden Glaubenssätzen, ihrer Engstirnigkeit und ihrer Gewaltbereitschaft. Wie kann man unter diesen Voraussetzungen zum Mensch werden, der man ist, wie kann man aus dem Käfig ausbrechen, der um einen herum gezimmert wurde?
Alana S. Portero hat einen autofiktionalen Roman über ihre eigene Herkunft und das finden ihrer Identität geschrieben. Wie viel davon “wahr” ist weiß wohl nur sie selbst. Wir Lesende wissen nach der Lektüre jedenfalls ein kleines bisschen besser, wie schwierig es ist für eine Seele, die sich mit dem Gefängnis aus Fleisch, in das sie bei der Geburt hineingezwängt wurde, nicht identifizieren kann, in einer binären Welt zurechtzukommen. Der Text geht sowohl ans Herz (und das extrem) als auch an die Nieren (Triggerwarnung: Gewalt gegen Transmenschen und Homophobie). Ich habe selten einen so authentischen, einfühlsamen Roman gelesen wie diesen hier.
Auch bezüglich seiner poetischen Sprache ist dieser Roman einer, der in Erinnerung bleibt im Einheitsbrei. Die Ich-Erzählerin baut sich einen mythologisch-märchenhaften Überbau, den sie ihrer Umwelt, ihrem Viertel und den Menschen, die es bewohnen, überstülpt. Es gibt Aphroditen, Circen, Nymphen und vieles mehr. Sie alle helfen ihr, die Welt um sie herum erträglicher zu machen. Die Ich-Erzählerin nennt queere Menschen “Bewohner unseres Waldes” und ich musste fast weinen, als ich das gelesen habe, denn es hat mich mitten ins Herz getroffen.
Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit dafür, dieses Buch gelesen zu haben. Es hat mich einfach erfüllt und während der Lektüre war ich komplett bei der Ich-Erzählerin. Ich habe endlich mal in Ansätzen das empfunden, was Transpersonen empfinden müssen. Diese Zerrissenheit, dieses Zwischen-den-Stühlen-sein-und-nie-ganz-den-richtigen-Platz-finden. Eine Lektüre, mir der ihr eure Zeit zu 100% nicht verschwendet - Ehrenwort. Ganz, ganz toll! Aus dem Spanischen übersetzt von Christiane Quandt.
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