"Mrs. S" von K. Patrick habe ich das erste Mal im Frühsommer 2023 wahrgenommen, als ein englischer Booktuber von dem Roman geschwärmt und ihn als Booker-Prize-würdig eingestuft hat. Leider ist der Roman nicht mal auf der Longlist gelandet, was ich nach der Lektüre wirklich nicht verstehen kann.
Kurz die Handlung: Eine 22-jährige Ich-Erzählerin ist frisch aus Australien nach England gekommen, um in einem elitären Mädcheninternat als "Matron", quasi "Mädchen für alles" bzw. "Aufseherin" zu arbeiten. Sie ist dafür verantwortlich, dass die Mädchen ihrem geregelten Tagesablauf nachgehen, es ihnen gut geht und sie keinen Unsinn machen. Gelegentlich muss sie einspringen, wenn LehrerInnen wegen Krankheit ausfallen, etc. Sie definiert sich selbst als lesbisch, kleidet sich männlich (also "butch") und benutzt einen "binder", der ihre Brüste flacher macht. Bis auf die "Housemistress", die offen lesbisch ist und sich mit ihr anfreundet, scheint es zunächst niemanden zu geben, der ihre sexuelle Ausrichtung teilt. Allerdings ist da Mrs S., die Frau des Direktors ("Headmasters"). Zwischen ihr und der femininen Frau beginnt es zu prickeln. Könnte es wirklich sein, dass sie die Gefühle der Ich-Erzählerin erwidert?
Dieser Roman ist enigmatisch in vielerlei Hinsicht. Zum einen lässt er uns rätseln, in welcher Zeit sich die Handlung abspielt. Vieles wirkt modern, auch Frauen tragen Jeans, allerdings fällt die Abwesenheit von Computern, Handys und Smartphones auf. Um einen Krankenwagen zu rufen, muss der Hörer von einem Festnetztelefon abgenommen werden. Das Alter von Mrs S bleibt vage, die Ich-Erzählinstanz schätzt sie auf 40, vielleicht älter. Erst gegen Ende können wir uns durch die Erinnerungen von Mrs. S erschließen, dass wir uns irgendwann in den 1990er Jahren befinden (wenn die Schätzung stimmt, dass sie um die vierzig ist). Das Mädcheninternat erscheint zeitlos. Der einzige Fixpunkt ist die namenlose tote Autorin, um deren abwesende Präsenz herum das ganze Institut aufgebaut ist. Der Vater der toten Autorin ("the death author") hat das Institut gegründet, eine zeitliche Einordnung kann man sich nur schwer über sehr versteckte Hinweise erschließen. Es gibt eine Statue der toten Autorin, die die Mädchen täglich küssen sollen. Ein merkwürdiger Personenkult, der dem Roman einen grotesken Anstrich verleiht.
Auch die Sprache ist geheimnisvoll und gleichzeitig sehr deskriptiv. Alles wird minutiös beschrieben: Menschen, Kleidung, Räume, Gesten, Gegenden, Gebäude, Umwelt. Man spürt das Unausgesprochene in jeder Zeile mitschwingen, das Potenzielle des Zukünftigen ist der klaren Prosa von K. Patrick mit jedem Wort eingeschrieben. In Büchern, in denen es wie hier einzig und allein darum geht, dass zwei Menschen einander gut finden, stellt sich sowohl bei hoch literarischen als auch bei trivialeren Texten immer die Frage: Wann fallen sie (im positiven Sinne) übereinander her? Wann entlädt sich die angesammelte, in Worten komprimierte Spannung in einem Austausch von Körperlichkeiten? Teilweise werden sehr kurze Sätze benutzt, aber ohne dass es abgehackt wird. Ich muss wirklich sagen, die Prosa von K. Patrick ist einzigartig, originell, angenehm. Es gibt keinen Längen in der Handlung, man hat das Buch schnell durch.
Ich hätte so viele Fragen an K. Patrick, die sich mir nach Beendigung der Lektüre stellen: Warum kaum Zeitangaben, keine Namen? Warum muss die Handlung in dieser Zeit, also vermutlich den 1990ern spielen und nicht gleich in der Gegenwart? Ist die Abwesenheit von modernen Kommunikationsmitteln wie Smartphones und queeren Dating-Apps relevant? Das Konzept der nichtbinären Geschlechtsidentität hat sich als Begrifflichkeit laut Wikipedia erst in den 1990er Jahren in den USA entwickelt. Da die Handlung in dieser Zeit spielt, hat die Ich-Erzählerin noch kein Instrumentarium, um ihr Selbstgefühl zu benennen. Auch Mrs. S. versteht nicht, warum sie einen "Binder" benutzt, ihre Weiblichkeit versteckt.
Ein grandioser Roman über lesbisches Begehren und Selbstgefühl, der bei mir den Wunsch zurücklässt, mehr wissen zu wollen.
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