Dienstag, 14. November 2023

"Der Sinn des Ganzen" von Anne Tyler


Romane über Alltagsprobleme, sogenannte “Durchschnittsmenschen” und deren unaufgeregtes Dasein (bis meistens eine unerwartete Veränderung eintritt), mag ich zwischendurch ganz gerne. Und weil “Leonard und Paul” für mich leider ein Flop aus diesem Genre war, habe ich es jetzt mit Anne Tylers kurzem Roman “Der Sinn des Ganzen” versucht. Dieser Roman war unter dem englischen Originaltitel "Redhead by the Side of the Road” 2020 auf der Longlist des Booker Prize. Aber weil ich die Kein & Aber-Pocket-Taschenbücher so mag, habe ich ihn in der Übersetzung von Michaela Grabinger gelesen.

Die Handlung von “Der Sinn des Ganzen” spielt in Baltimore an der Ostküste der USA in der Gegenwart. Unser Protagonist heißt Micah Mortimer. Er ist Mitte vierzig, wohnt in einer Souterrain-Wohnung eines Mehrfamilienhauses, in dem er auch diverse Hausmeister-Tätigkeiten verrichtet. Sein Hauptjob ist aber seine Ein-Mann-It-Firma. Als “Tech-Eremit” (!Achtung, Achtung, der Name ist natürlich metaphorisch!) besucht er seine Kunden zu Hause und hilft ihnen bei IT-Problemen aller Art. Auch einen IT-Ratgeber hat er schon verfasst. Sein Leben läuft gemächlich vor sich. Micah liebt seine täglichen Routinen und hält seine Wohnung gerne sauber. Er hat eine Freundin, Cass, die Grundschullehrerin ist. Sie leben in getrennten Wohnungen. Der jüngste Bruder von vier Schwestern ist mit seinem geregelten Alltag zufrieden, bis plötzlich ein 18-Jähriger vor seiner Tür steht und behauptet, er sei sein Sohn. Als auch noch seine Freundin Cass aus ihrer Wohnung zu fliegen scheint, ist nichts mehr wie zuvor.

Micah ist ein typischer Einzelgänger-Charakter, den man aufgrund seiner Schrulligkeit einfach mögen muss. Er ist nicht besonders begabt was nonverbale Kommunikation angeht und tut sich äußerst schwer damit, zwischen den Zeilen zu lesen. Er versteht nicht, dass seine Freundin bei ihm einziehen möchte, weil sie es nicht direkt verbalisiert hat. Auch der von Micahs Seite oft einseitige Austausch mit seinen Kunden und Kundinnen, oftmals ältere Leute, die von der heutigen Technik überfordert sind, verleiht dem Roman eine gewisse rührende Authentizität. Überhaupt ist die Handlung bis auf die beiden Hauptereignisse - der angebliche Sohn und die drohende Obdachlosigkeit der Lebensgefährtin - sehr “normal”. Es geht im Wesentlichen um die Frage, wie der auf Routinen eingestellte Micah auf diese “außerordentlichen Begebenheiten” (siehe Definition der Novelle) reagiert bzw. ob er bereit ist, sein Leben für einen anderen Menschen zu ändern.

Der Roman spielt Ende Oktober und erzeugt eine schöne herbstliche Atmosphäre. Das ist schon sehr symbolisch, denn nicht nur in der Natur kündigt sich eben Veränderung an, sondern auch in Micahs Leben. Erzählt ist das Ganze ebenso unaufgeregt wie es das Leben des Protagonisten bis jetzt war. Von daher passen Form und Inhalt perfekt zusammen.

“Der Sinn des Ganzen” (ich frage mich was der Original-Titel zu bedeuten hat, denn ich konnte keinen "Redhead by the Side of the Road” ausmachen…) ist ein netter kleiner Roman. Wenn man ihn gelesen hat, wird man es nicht bereuen. Hat man ihn aber nicht gelesen, hat man nicht viel verpasst. Warum er es auf die Booker-Longlist geschafft hat, kann ich nicht ganz nachvollziehen.

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